Heute in den Feuilletons

Schund kann lehrreich sein

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2012. Bei der Debatte über das Urheberrecht geht es eigentlich um den Wert von Arbeit in der Wissensgesellschaft, meint die taz. Die SZ ermahnt Europa, sich endlich seiner treuhänderischen Verantwortung gegenüber Griechenland zu stellen. Die Welt ist nicht mehr in Ost und West, sondern in Süd und Nord geteilt, stellt die Zeit fest. Die FAZ sorgt sich um den bürgerlichen Zusammenhalt in den USA. Alle nehmen Abschied von Margarete Mitscherlich.

TAZ, 14.06.2012

Die Debatte über das Urheberrecht sei nur ein Symptom, meint die Publizistin Andrea Roedig. Worum es eigentlich gehe, sei der Wert von Arbeit in der Wissensgesellschaft. "In den sogenannten knowledge-based economies, so sagt die Theorie, trete Wissen an die Stelle von Arbeit. Darin schwang schon immer auch eine vage Hoffnung fürs Geistige mit. Als ob genau jene Werte, die lange nicht für ökonomisierbar galten - Bildung etwa - durch die List der Vernunft der Geschichte doch noch in die Gewinnzone kommen könnten. Doch ganz scheint das nicht aufzugehen, oder nur sehr widersprüchlich. Man muss also tatsächlich über Geld reden und fragen: Welche Kopfarbeit wird in der 'Wissensgesellschaft' eigentlich bezahlt, und warum wird manche besser bezahlt als andere?"

Weiteres: Eine radikale Aufklärerin nennt Jan Feddersen Margarete Mitscherlich in seinem Nachruf. Die taz bringt außerdem noch einmal Auszüge aus einem Gespräch mit Mitscherlich von Dezember 2010 (hier die vollständige Fassung). Auf der Medienseite unterhält sich Jan Scheper mit dem Schauspieler Manfred Zapatka, der eine 20-stündige Hörspielfassung von James Joyce "Ulysses" eingesprochen hat.

Besprochen werden Arnon Goldfingers Dokumentarfilm "Die Wohnung", in dem es um den Nachlass seiner Großmutter geht, der eine merkwürdige Verbindung zu einem Nazi-Paar aufdeckt. Außerdem Yorgos Lanthimos' "listig gebauter Metafilm" "Alpen", Andy De Emmonys Culture-Clash-Komödie "West is West" und der Film "Rock of Ages", die Leinwandadaption eines Musicals aus dem Jahr 2006, die mit einer "geradezu bizarr-illustren Besetzung lockt".

Und Tom.

Freitag, 14.06.2012

Auf die unabsehbaren Folgen der heutigen Büroexistenz weist Ulrike Baureithel hin, die nicht nur Christoph Bartmanns Studie "Leben im Büro" gelesen, sondern auch im Arsenal auch die Filmreihe "Arbeitswelten im Film" gesehen hat: "In der Extremform führt die Managerisierung des Büros zu seinem völligen Zerfall, der sich in der 'Raumkrise' offenbart: Dann arbeiten die einstigen Büroangestellten als digitale Boheme in Transiträumen oder Hallenprojekten, feiern ihre totale Entfremdung als Selbstverwirklichung und pflegen ihr Ressentiment gegen das Büro, sozusagen als Fortsetzung des intellektuellen Kälteprojekts der zwanziger Jahre. Die politischen Folgen solcher Existenzweisen lassen sich derzeit am Höhenflug der Piraten studieren."
Stichwörter: Arbeitswelt

Zeit, 14.06.2012

Das Dossier widmet sich einem dunklen Kapitel der amerikanischen Geschichte: Zwischen 1946 und 1948 infizierte der US-Mediziner John Cutler im Auftrag seiner Regierung in Guatemala fast 1400 Menschen mit Syphilis. Die Krankheit ist vererbbar, noch Generationen später wirken die Folgen nach.

In Glauben & Zweifeln schlüsselt Wolfgang Thielmann das hierarchische System des Vatikans auf: "Anders als Regierungs- oder Staatschefs, die ein Völkerrechtssubjekt nur repräsentieren, ist der Papst als einzige natürliche Person selber eins, solange er sein Amt innehat."

Im Feuilleton stellt der Literaturgeschichtler Dieter Richter fest, dass das politische Schisma von Ost und West durch eine wirtschaftlichen Spaltung in Nord und Süd abgelöst worden ist. Zur Überwindung dieses konstruierten Gegensatzes empfiehlt er einen konstruktiven Umgang à la Montesquieu und Goethe: "Sind nicht beide, der genussfrohe, zukunftsvergessene 'Südmensch' und der grübelnde, planende, organisierende 'Nordmensch', nur zwei jeweils unvollkommende Hälften des denkbar vollkommenen einen?"

Alexander Camman berichtet fasziniert von den Aufnahmen für Klaus Buhlerts momumentales und hochkarätig besetztes "Ulysses"-Hörspiel: "Die professionelle Intensität dabei ist atemberaubend, womöglich weil die intime psychologische Konstellation aus Sprecher und Regisseur, flankiert vom Tonmeister, autistischer und damit fragiler ist als jede Film- oder Theaterarbeit".

Weiteres: Der Philosoph Axel Honneth beklagt in seinem in gekürzter Fassung abgedruckten Eröffnungsvortrag auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, dass sich "politische Philosophie und Pädagogik heute nichts mehr zu sagen" haben. Der Philosoph Christoph Menke denkt anlässlich der Documenta über die Funktion von Kunst nach. Dorion Weickmann nimmt Abschied von der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich. Thomas Gross beleuchtet die bewegte Geschichte der Beach Boys (hier in Originalbesetzung zu unbeschwerteren Zeiten).

Außerdem werden die Inszenierung von Verdis "Il Trovatore" am Brüsseler Opernhaus sowie "Never Sorry", Alison Klaymans Dokumentarfilm über Ai Weiwei, besprochen. Und Bücher, darunter zwei Werke aus dem Nachlass von Niklas Luhmann (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 14.06.2012

Online sind heute nur einige Buchrezensionen. "Schund kann lehrreich sein", eröffnet der Schriftsteller Georg Klein seine Besprechung der Comic-Fassung von Jules Vernes größtem Erfolg "In 80 Tagen um die Welt", in der jedoch nicht nur die meisten sinnlichen Aspekte verloren gingen, sondern vor allem die "emotionalen Valeurs". Außerdem besprochen werden Jaimy Gordons Roman "Lord of Misrule" über eine heruntergekommene Pferderennbahn, der Gedichtband "Dazwischen" des koreanischen Dichters Lee Si Young, das Romandebüt "Wenzel" des Luzerner Autors Christoph Schwyzer und Jens-Jürgen Ventzkis autobiografische Spurensuche "Seine Schatten, meine Bilder" über die Nazi-Vergangenheit seines Vaters (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Stichwörter: Klein, Georg, Vernes, Jules, Lorde

Welt, 14.06.2012

Thomas Schmid nimmt Abschied von Margarete Mitscherlich: "In den vielen Interviews, die sie in ihren letzten Lebensjahren gab, pflegte sie einen saloppen, mitunter spöttisch-süffisanten Ton. Sie stand ganz in der Tradition diesseitiger Aufgeklärtheit, war aber - agnostisch, wie sie wohl empfand - viel zu weise, um jenem Atheismus anzuhängen, der auf sich selbst stolz ist. Dem Leben, auf das sie bis in die letzten Tage brennend neugierig war, konnte sie gleichwohl keinen Sinn ablesen."

Heimo Schwilk berichtet von der Schau des Malers Nikolai Makarov an der Berliner Galerie Camera Work Contemporary: "Makarovs Werke inszenieren Räume der Stille, ziehen den Betrachter in eine Tiefe, die kein bloßer Hintergrund mehr ist, sondern Grund, Abgrund vielleicht, dem wir entstammen und in den wir einmal zurückfallen."

Außerdem wird das Buch "Literarisches Eigentum" des Plagiatsforschers Philipp Theisohn besprochen sowie Filme, darunter die Teenagerutopie "17 Mädchen" von Muriel und Delphine Coulin, der, wie Cosima Lutz findet, "seit Langem coolste Film darüber, was der Job junger Leute ist: intuitiv zu wissen, dass alles auch ganz anders funktionieren könnte - und zwar jetzt".

SZ, 14.06.2012

Geld, dass von der Troika nach Griechenland fließe, werde ohnehin umgehend zur Zinstilgung rücküberwiesen, empört sich Andreas Zielcke, der Europa gegenüber dem verschuldeten Staat längst in treuhänderischer Verantwortlichkeit sieht: "Was Europa aber noch fehlt, ist, dass es sich der zumindest gegenüber Griechenland längst manifest gewordenen treuhänderischen Funktion für eine neue Perspektive wirklich bewusst wird und sich ihr verantwortungsvoll stellt. Nur so haben die Griechen und dann auch die anderen staatlichen Pflegefälle wieder eine Zukunft in Europa. Diese Länder werden ein europäisch unterstütztes Nation-Building erfahren, oder sie werden (mit oder ohne Euro) in ein für Europa nicht mehr akzeptables Chaos stürzen."

Weiteres: Alice Schwarzer verabschiedet sich von Margarete Mitscherlich, ohne die "Deutschland vermutlich viel länger verbrannte Erde geblieben" wäre, Wolfgang Leuschner würdigt unterdessen Mitscherlichs Verdienste für die Psychoanalyse. Till Briegleb beobachtet bei den ersten Hamburger PrivatTheaterTagen, dass zwar auch Privattheater niveauvolle Produktionen bringen, doch dies meist nur "dann, wenn sie sich an der Dramaturgie erfolgreicher Stadttheater orientieren." Thorsten Schmitz besucht das Jüdische Filmfestival in Berlin. Anne Philippi bewundert Lana Del Rey beim Lolita-Flirt mit Axl Rose in Los Angeles. "Selbst ein so komplexes Wunderwerk wie 'Gravity"s Rainbow' soll künftig von müßigen U-Bahn-Kunden vom Tablet weggeschlotzt werden können", erregt sich Willi Winkler angesichts der Ankündigung von Penguin, Thomas Pynchons Romane demnächst als E-Book anzubieten. Joseph Hanimann schreibt den Nachruf auf den Schriftsteller Héctor Bianciotti.

Besprochen werden das Rockmusical "Rock of Ages" mit Tom Cruise, der neue griechische Film "Alpen", der Dokumentarfilm "Ai Weiwei: Never Sorry" und Bücher, darunter ein neuer Band der Jacob-Burckhardt-Gesamtausgabe, der sich der "Griechischen Culturgeschichte" widmet (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 14.06.2012

Die Republikaner gefährden mit ihrer Blockade- und Klientelpolitik den bürgerlichen Zusammenhalt in den USA, findet Nils Minkmar: Nicht das nationale Wohlergehen, sondern die Übernahme der politischen Macht zugunsten einer wohlhabenden Schicht stehe hinter der demonstrativen Konsensverweigerung. Eher nehme die Partei "die größte Volkswirtschaft der Welt als Geisel, als mit den Demokraten zusammenzuarbeiten. Der Parteiname der Mehrheitsfraktion im Kongress ist die reine Ironie. ... Liest man die zu seinem achtundachtzigsten Geburtstag erschienenen Porträts des einundvierzigsten Präsidenten George H. W. Bush und vergleicht man seine Aussagen mit denen seiner politischen Erben, so ermisst man erst den qualitativen Sprung: Bush senior klingt heute wie ein Linksextremist."

Weiteres: Hans-Jörg Rother sieht beim Jüdischen Filmfestival in Berlin neue Filme aus Israel, die auch ohne Schilderungen des Nahost-Konflikts auskommen. Dietmar Dath überprüft die Filmadaptionen von Ray Bradburys Werken darauf, ob und wie es diesen gelinge, "das Unwirkliche im Sprachduktus eines naiven Realismus voller kleinstädtisch-nostalgischer Obertöne aus dem nordamerikanischen Mittelwesten" auf die Leinwand zu bringen. Jürgen Kaube verabschiedet sich von der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich.

Besprochen werden das neue Album von Bobby Womack, die Ausstellung "Made in Germany Zwei" im Sprengel Museum in Hannover, der Musikfilm "Rock of Ages" mit Tom Cruise, Olivier Dubois' Choreographie "Révolution!" beim Holland Festival in Amsterdam, Anthony McCalls Lichtinstallation "Five Minutes of Pure Sculpture" im Hamburger Bahnhof in Berlin, Verdis Oper "Il Trovatore" in der Regie von Dmitri Tscherniakov am Théâtre de la Monnaie in Brüssel und Bücher, darunter Mirko Kovacs Roman "Die Stadt im Spiegel" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).