Heute in den Feuilletons

Pointierte Synkopen von hinten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2011. BoingBoing beobachtet, wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht in Großbritannien zugrunde gerichtet wird. In der FAZ plädiert der Grünen-Politiker Volker Beck für ein freies Internet. GigaOm berichtet über ein in den USA geplantes Gesetz, das die Freiheit im Netz stark einschränken wird. Die SZ bringt F.C. Delius' Büchner-Preisrede. In der taz erklärt der Gerichtsgutachter Jan Ilhan Kizilhan die Psychologie von Ehremorden. Und Stefan Niggemeier staunt über eine tolle Idee der SPD für die Öffentlich-Rechtlichen: Gebt ihnen  mehr Geld!

Weitere Medien, 31.10.2011

Aufwachen. Ist Montag.


TAZ, 31.10.2011

Cigdem Aykol unterhält sich mit dem Psychologen und Gerichtsgutachter Jan Ilhan Kizilhan über dessen Studie zu Ehrenmorden, für die er 21 Täter befragt hat: "Wenn die eigene Community nicht demokratisch ist und sich von dem Mann entfernt, der diese angebliche Ehrverletzung erleidet, ihn meidet oder gar ausschließt, dann kann er dem Druck nicht mehr standhalten. Diese Männer kommen aus einer Gesellschaft, in der die Akzeptanz des Kollektivs eine hohe Bedeutung hat. Ihre eigene Identität definieren sie zum größten Teil über die Mitgliedschaft in diesem Kollektiv. Die Interessen und Vorgaben des Kollektivs werden als wichtiger angesehen als die eigene individuelle Identität und Freiheit."

Weiteres: Eva-Christina Meier preist die hochkonzentrierten Fotoessays des Fotografen W. Eugene Smith, die der Berliner Martin-Gropius-Bau in einer Retrospektive zeigt. Jan Scheper stellt die Lettretage vor, einen Lyriksalon am Kreuzberg. Erik Franzen war in München auf einer Tagung zum Thema Holocaust in der Kunst. Besprochen wird Byung-Chul Hans Studie "Topologie der Gewalt" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

Aus den Blogs, 31.10.2011

Wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht vor die Hunde geht, kann man in Britannien beobachten: Die Londoner Polizei soll ein Überwachungssystem benutzen, mit dem man im Umkreis von 10 Quadratkilometern die Seriennummern von Handys abfragen und so herausfinden kann, wer sich wo mit wem aufhält, meldet Cory Doctorow in BoingBoing: "The Met has refused to confirm whether the system is used in public order situations, such as during large protests or demonstrations." Und in Südwales wollen Clubbesitzer ihren Kunden digitale Fingerabdrücke abnehmen, um zu verhindern, dass Jugendliche, die die Altersgrenze noch nicht erreicht haben, sich einschleichen. Die Polizei findet das prima und überlegt schon, ob das Scannen nicht Voraussetzung für die Erteilung neuer Clublizenzen werden könnte, meldet die BBC: "South Wales Police licensing officer Sgt Scott Lloyd said: 'By scanning identification, such as driving licences and passports, these systems can contribute to reducing and detecting crime by, for example, changing the mindset of potential troublemakers entering a venue, preventing underage drinking, and identifying offenders.'"

Einen erstaunlichen Satz von zwei SPD-Politikern zitiert Stefan Nigggemeier in seinem Blog. Die beiden möchten in einem in der SZ publizierten Text die öffentlich-rechtlichen Sender neu positionieren und schlagen vor: "Um gerade bei den unter 20-Jährigen die öffentlich-rechtliche Zugkraft im Netz zu steigern, wird es mehr Geld für Kreativität, neuer Angebote und Geschäftsmodelle bedürfen." Wie wär's mit nochmal 8 Milliarden? Der Text der beiden Politiker steht nicht online, aber Niggemeier zitiert ausgiebig.

Der digitale Wandel bringt nicht nur die Medien durcheinander. Martin Weigert erzählt in Netzwertig, wie Taxirufzentralen auf die Handy-App myTaxi reagieren.

(via bookslut) Das Internet hat einen verheerenden Einfluss auf die Vulgärsprache. Sie wird immer einfallsloser, klagt Lili Loofbourow in The Awl: "Even our obscenities - the parts of language least likely to lose their verve - have dwindled, and the survivors have dulled from overuse. 'You've got balls,' we say, when once we could have yelled that 'the testimonies of your Manhood are swell'd as big, Sirrah, as a couple of Norfolk dumplings!' Where we use mean hypotheticals, like 'I would love to have the ability to make you sore,' our ancestors promised each other nights spent 'in prigging, wapping, and telling of drunken stories.'"

(Via Clay Shirky) Nach Großbritannien und Frankreich droht auch in den USA eine drastische Verschärfung des Internetrechts, berichtet Methew Ingram in GigaOm: "The Stop Online Piracy Act, introduced in the House this week, would give governments and private corporations unprecedented powers to remove websites from the internet on the flimsiest of grounds, and would force internet service providers to play the role of copyright police."

Welt, 31.10.2011

Der Autor Georg M. Oswald kritisiert den Kapitalismus: "Wir dürfen über alles nachdenken, über die Digitalisierung des Planeten und über die Besiedelung des Mars. Nichts gibt es, was wir für unmöglich halten müssen. Nur über eines nachzudenken ist uns verboten: die wirksame Kontrolle eines Systems, das nur ein Prinzip kennt, dem es alles andere unterordnet - das Prinzip der Gewinnmaximierung."

Weitere Artikel: Jan Küveler würdigt den Büchner-Preisträger F.C. Delius. Michael Borgstede besucht eine Anselm-Kiefer-Retrospektive in Tel Aviv. Und Peter Beddies unterhält sich mit der Regisseurin Sophie Fiennes, die einen Dokumentarfilm über Kiefer gedreht hat.

FR/Berliner, 31.10.2011

Ander als in anderen Städten durfte Mark Knopfler im Berliner Gemeinschaftskonzert mit Bob Dylan auch bei ein paar Dylan-Stücken mitspielen, berichtet Jens Balzer: "Gelegentlich versuchte er, durch ein paar extra pointierte Synkopen von hinten auf sich aufmerksam zu machen, doch vergeblich. Nach dem vierten Stück verschwand er von der Bühne, ohne dass ihn jemand vermisste."

Außerdem: Judith von Sterneburg berichtet von der Verleihung des Büchner-Preises an F.C. Delius. Arno Widmann gratuliert dem Bürgerrechtlicer und Grünen-Politiker Milan Horacek zum 65.

NZZ, 31.10.2011

Roman Bucheli berichtet von den Verwerfungen auf dem Schweizer Buchmarkt und fordert vor allem angesichts des drohenden E-Books strengere Gesetze: "In der Schweiz ist der private Eigengebrauch geschützter Werke grundsätzlich frei. Darum ist im Gegensatz zu Deutschland hierzulande der Gratis-Download urheberrechtlich geschützter Werke für den Privatgebrauch auch dann legal, wenn es sich offenkundig um eine illegale Quelle handelt. In der Schweiz müsste darum der Gesetzgeber die rechtlichen Voraussetzungen anpassen, um explizit auch die Provider oder Server-Betreiber, die urheberrechtlich geschützte Werke zum Download im Netz bereitstellen, in die Entschädigungspflicht zu nehmen."

Weiteres: Die slowakisch-schweizerische Publizistin Irena Brezna würdigt zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch einmal die russischen Dissidenten. Brigitte Kramer besucht die Ausstellung "Arquitecturas Pintadas" im Madrider Museum Thyssen-Bornemisza.

SZ, 31.10.2011

Mathe trifft Kunst in der Fondation Cartier in Paris - und mittendrin David Lynch, wie Jospeh Hanimann berichtet: "Im Kamin knistert ein 'mathematisches Feuer', auch das eine Lynch-Installation. Verträumte Kontemplation wohnt hier unmittelbar neben dem Schauer, der einen Blaise Pascal beim Nachdenken über die Unendlichkeit des Weltalls erfasste."

Weiteres: Volker Breidecker berichtet von der Herbsttagung der Darmstädter Akademie, die sich, wie Thomas Steinfeld berichtet, zur nationalen Akademie entwickeln will. Rainer Gansera resümiert die Hofer Filmtage. Niklas Hofmann hat das erste Symposium des "Google-Instituts" in Berlin besucht (hier Videos der Beiträge). Dokumentiert wird Friedrich Christian Delius' Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis.

Besprochen werden neue DVDs, die Inszenierung "Wer sich traut reißt, die Kälte vom Pferd" nach Texten von Alexander Kluge am Münchner Marstall, eine Ausstellung mit Hochsitz-Fotografien im Deutschen Jagd- und Fischereimuseum in München, Achim Freyers "Rheingold"-Inszenierung in Mannheim, Thomas Langhoffs "arg dröge" Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" am Berliner Ensemble und Bücher, darunter eine Biografie der Bürgerrechtlerin Rosa Parks (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 31.10.2011

Volker Beck von den Grünen möchte das informationelle Selbstbestimmungsrecht und das IT-Grundrecht ins Grundgesetz aufnehmen, um das freie Netz vor den Konservativen zu schützen: "Manchmal könnte man geradezu meinen, Bundestagskollegen von der Union wie Hans-Peter Uhl und Siegfried Kauder würden das Internet am liebsten noch einmal fürs Archiv ausdrucken und dann abschalten."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay entwickelt einige hübsche Phantasien bei Mario Vargas Llosas öffentlich gesungenem Loblied aufs Heilfasten. Felicitas von Lovenberg macht anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises noch mal ganz deutlich, dass sie F.C. Delius nicht so spannend findet wie, sagen wir, Charlotte Roche. Rolf Dobelli rät: "Versuchen Sie, mit einem Minimum an Informationen durchs Leben zu kommen."

Besprochen werden Achim Freyers Mannheimer "Ring"-Inszenierung, ein Konzert von Joachim Kühn und Archie Shepp beim Deutschen Jazzfestival Frankfurt (zu sagen, Wolfgang Sandner war hingerissen, wäre mächtig untertrieben), Dürrenmatts "Physiker" in Frankfurt und Bücher, darunter Michel de Certeaus "Mystische Fabel" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Abgedruckt ist noch ein Gedicht von Luc Bondy:

"Lied

Der Dichter war ein klammheimlicher Herr
Dem wir nicht trauten
..."