Heute in den Feuilletons

Rebellion gegen die gerade Linie

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2011. Die NZZ genießt in den Wohnkugeln des Antti Lovag den Vorteil der Kurve. Die Welt betreibt mit Martin Walser Reliquienkult. Die FR stellt Günter Grass die Gegensystemfrage. In der taz erklärt Marina Abramovic, warum die Performance-Kunst blüht. In der FAZ erzählt Walter Kappacher, wie Samuel Beckett 1925 von einer Motorradwettfahrt mit seiner A.J.S. träumt.

NZZ, 09.07.2011

In der Beilage Literatur und Kunst stellt Andrea Eschbach den französischen Architekten Antti Lovag vor, der in den Siebzigern in einem "verwunschenen Wald hoch über Tourettes-sur-Loup bei Nizza" eine aus Wohnkugeln bestehende Anlage für den Pariser Börsenmakler Antoine Gaudet baute. "Lovags Inspiration dafür sind Höhlen und Grotten, aber auch Erinnerungen an seine Kindheit klingen an: 'Als ich ein kleiner Junge war, baute ich in Skandinavien Iglus und verband sie untereinander mit Gängen.' Und auch eine Hommage an das Ewig-Weibliche schwingt in den sinnlichen Formen seiner Bauten mit. Lovag hat das Modell für das Wohnen von morgen im Sinn. Für ihn bedeutet dies in erster Linie eine Rebellion gegen die gerade Linie und den rechten Winkel. 'Der Vorteil der Kurve ist, dass sie völlig im Einklang mit der Natur und dem menschlichen Körper ist.'"

Außerdem: Gibt es eine Musik der Renaissance oder nur eine Musik in der Renaissance?, überlegt der Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken.

Im Feuilleton berichtet Wei Zhang von Versuchen, den roten Revolutionsliedern in China zu einem Comeback zu verhelfen: "Hinter diesem Phänomen steckt eigentlich ein Kräftemessen zwischen gegensätzlichen Lagern innerhalb der KPCh." Joachim Güntner schiebt sich an einem Sonntag nachmittag durch die vollgepackte Humboldt-Box. Andreas Klaeui berichtet über die Eröffnung der des Festival d'Avignon mit einer Choreografie von Boris Charmatz.

Besprochen werden zwei Produktionen - in München und Madrid - von Olivier Messiaens Oper "Saint Francois d'Assise" und Bücher, darunter ein Erzählband von Alice Munro (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 09.07.2011

Wenig respektvoll rechnet Tilman Krause mit dem Großschriftstellertum Martin Walsers ab, um an seinem Roman "Muttersohn" am Ende doch das eine oder andere gute Haar zu lassen: "Groß wird Walser in 'Muttersohn' immer da, wo er mit unerschütterlichem Eigensinn verblüfft. Groß ist er beispielsweise da, wo er den Reliquienkult der katholischen Kirche verteidigt oder seinen Hauptprotagonisten, den Krankenpfleger Percy Anton Schlugen, als modernen Messias entwirft, der in unbefleckter Empfängnis auf die Welt kam. Je aberwitziger, desto besser."

Außerdem in der Literarischen Welt: Ruth Klüger liest in ihrer Kolumne den neuen Roman von Viola Roggenkamp, "Tochter und Vater". Einige Autoren verabschieden sich höchst ungern von der Schreibschrift, die ab sofort in Hamburgs Schulen nicht mehr gelehrt werden soll. ("Was für ein Blödsinn" schreibt Sibylle Lewitscharoff, "nur noch das Schreiben in Druckbuchstaben zu lehren, ist eine bodenlose Idiotie." Und Burkhard Spinnen seufzt: "Folglich geht sie dahin, die individuelle Handschrift; und wahrscheinlich verschwindet mit ihr gleich die ganze Kultur"). Maike Albath gratuliert Alice Munro zum Achtzigsten und liest ihren neuen Erzählungsband. Besprochen werden außerdem Najem Walis neuer Roman "Engel des Südens", Sönke Neitzels und Harald Welzers "Soldaten", Hanif Kureishis Vater-Sohn-Buch "Mein Ohr an Deinem Herzen" und neue Bücher zum 11. September.

Im Feuilleton nimmt Manuel Brug sehr persönlich Abschied von Dieter Dorn, der mit 76 Jahren das Bayrische Staatsschauspiel verlässt. Henryk Broder mokiert sich über Wolfgang Thierse, der permanent Schaden von Deutschland abwenden will, zuletzt, indem er darauf drängte, dass die Berliner Schlosskuppel nicht ohne Zierleisten wieder aufgebaut werden darf. Daniel Johnson von der Zeitschrift Standpoint verabschiedet die News of The World. Hannes Stein geht in New York mit dem Mormonensprecher Ahmad Corbitt essen (aber nicht trinken).

Besprochen werden Xavier Dolans Film "Herzensbrecher" und die Ausstellung "Geschmack - der gute, der schlechte und der wirklich teure" in Baden-Baden.

FR, 09.07.2011

Recht, wenn nicht über Gebühr ausführlich befasst sich Arno Widmann mit Günter Grass' medien- , gesellschafts- und wirtschaftskritischen Auslassungen beim "Netzwerk Recherche". Der Schriftsteller hielt es darin sogar für angezeigt, "etwas bislang Unaussprechliches zu tun", nämlich die "Systemfrage" zu stellen. Widmann stellt ein paar prokapitalistische Gegenfragen: "Wie soll eine Wirtschaft ohne Markt organisiert sein? Für wen sind Markt, Konsum, Profit Religionsersatz? Wir leben in einer Welt, in der Religionen großen Zulauf erleben. Und gerade nicht die von Markt, Konsum und Profit."

Ebenfalls Widmann porträtiert knapp den chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu, der der Lebensgefahr in der Heimat die Sicherheit im Exil vorzieht. Über die seltsame Idee einer erst nach und nach barockverkleideten Stadtschloss-Kuppel denkt Harry Nutt nach.

Besprochen werden in seiner rezensionsreichen Ausgabe die Ausstellung "Wilhelm Wagenfeld: Weiterwirken in die Zeit hinein" im Bauhaus Dessau, das nun auch von Jens Balzer bejubelte HipHop-Debütalbum "Xoxo" des Deutsch-Amerikaners mit Künstlernamen Casper und Bücher, darunter die nun ins Deutsche übersetzten ersten beiden Bände von Stephane Heuets Vercomicung von Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" und Ingeborg Bachmanns Soap-Frühwerk "Die Radiofamilie" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 09.07.2011

Im Gespräch mit Tanja Huber hat Marina Abramovic eine durchaus materialistische Erklärung für den aktuellen Boom der Performance-Kunst: "Jedes Mal, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, werden die Performer wieder lebendig. Performen kostet eben lächerlich wenig, fast nichts."

Einerseits ist es beruhigend, kommentiert Susanne Messmer, den in seiner Heimat bedrängten und gefährdeten chinesischen Autor Liao Yiwu in Deutschland in Sicherheit zu wissen. Eine Schande für China und ein Problem für Yiwu ist es natürlich trotzdem: "Seine Bücher, die auch auf dem chinesischen Schwarzmarkt reißenden Absatz finden, leben von 'Volkes Stimme', vom lebendigen Ton, in dem seine Protagonisten erzählen - und davon, dass Liao Yiwu ihnen stets auf Augenhöhe begegnet. Im Exil hat er - wie viele chinesische Autoren und Künstler - kein Thema mehr."

Weitere Artikel:Ekkehard Knörer macht sich Gedanken zu den zwei Körpern des Daniel Radcliffe. Ihr neuer Job als Botschafterin des Reformationsjubiläums 2017 und Margot Käßmann passen, wie Philipp Gessler findet, bestens zusammen. 

Trotz eines gewissen Mitleids für die am Skandal unschuldigen arbeitslos werdenden Kollegen bedauert Ralf Sotscheck das Ende der News of the World nicht. Weitere Hintergründe zur Sache, insbesondere der Verhaftung des Ex-Chefredakteurs und Ex-Pressesprechers von David Cameron Andy Coulson hat ebenfalls Sotscheck.

Besprochen werden das deutsch-kenianische Kompilationsalbum "BLNRB - Welcome to the Madhouse", und Bücher, darunter der erste Band des Print-Online-Crossover-Projekts der "Tagebücher" von Erich Mühsam und die Studie des Soziologen Alain Ehrenberg "Das Unbehagen der Gesellschaft" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 09.07.2011

Heute Abend endet mit der letzten Aufführung seiner Inszenierung des "Käthchen von Heilbronn" die Ära Dieter Dorn in München. Christine Dössel blickt zurück auf eine rekordverdächtig lange Zeit und beschreibt auch, wie Dorns Theater im Lauf der Jahre zum Anachronismus wurde: "Wo in der globalisierten, turboschnellen, krisenwachen Welt von heute nichts mehr ohne Öffnung, Schnelligkeit, Austausch geht, konnte Dorns Theater gerade in der elitären Abkapselung und der totalen Konzentration auf sich selbst entstehen."

Weitere Artikel: Richard Swartz schickt eine schöne Reportage aus Lynchburg, Virginia (Selbstdarstellung), wo Amerika ziemlich genau so konservativ ist, wie das Klischee sich das so denkt. Khaled al-Khamissi hat in seiner Kairo-Kolumne zunehmend das Gefühl, dass in Ägypten die Kräfte der Reaktion den Sieg davontragen werden. Im dafür wenig prädestiniert scheinenden Städtchen Traunreut in der Nähe des Chiemsees eröffnet Heiner Friedrich ein ziemlich radikales Museum für Gegenwartskunst ("Das Maximum"): Laura Weissmüller hat es besucht. Über Streit um Antoine de Saint-Exuperys Nachlass, aber auch das entstehende Museum im Schloss, in dem der Autor aufwuchs, berichtet Joseph Hanimann.

In der SZ am Wochenende denkt der ehemalige Richter und nunmehrige Schriftsteller Benno Hurt über das schwere Amt des Richters nach. Auf der Historienseite erinnert Michael Frank an das Reich der Habsburger. Abgedruckt wird ein Auszug aus Sabine Grubers demnächst erscheinendem Roman "Stillbach oder Die Sehnsucht". Tanja Rest unterhält sich mit dem Schauspieler Alan Rickman über "Erfolg".

Besprochen werden eine Aufführung von Jules Massenets Oper "Cendrillon" am Royal Opera House in London und Alice Munros Erzählungsband "Zu viel Glück".

FAZ, 09.07.2011

Auf der Medienseite unterhält sich Jörg Wittkewitz mit einem Wikipedianer über das Online-Projekt Wiki-Watch der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, das Wikipediaartikel wissenschaftlich überwachen will, an einigen der überwachten Artikel zu Pharmaprodukten aber selbst mitgeschrieben hat, wie sich jetzt herausstellte: "Eine Art Kampagne, die artikelübergreifend und flankierend zur öffentlichen Debatte ein ganzes Themenfeld auszurichten versucht und dabei noch zahlreiche banale Beiträge zur Tarnung leistet, ist mir wie im aktuellen Fall jedenfalls noch nicht begegnet." Mehr über den Streit zwischen Wiki-Watch und der FAZ gibt es bei Meedia.

Weitere Artikel: Gina Thomas berichtet über das Ende der News of the World. Die Glosse widmet Paul Ingendaay dem Skandal um die spanische Gema. Israels Wissenschaftsminister Daniel Herschkowitz erklärt im Interview, warum Israel der PID so offen gegenübersteht: "Wir haben den Vorteil, dass uns unsere jüdische Religion eine große Aufgeschlossenheit gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen erlaubt." Ausgezeichnete deutsche Küche erlebt Jürgen Dollase im Landgasthof Jagstmühle in Heimhausen. Nichts als Augenwischerei sind die von den Machthabern in Bahrein und Syrien angebotenen Gesprächsrunden mit der Opposition, meint Joseph Croitoru. Detlef Borchers berichtet über den Kongress für Hypertext und kulturelle Produktion in Lüneburg. Hans W. Hubert schreibt zum Tod des Kunsthistorikers Erik Forssmann. Jan Brachmann lässt Opernintendantin Kirsten Harms ein Resümee ihrer Arbiet in Berlin ziehen. Oliver G. Hamm besucht Volker Staabs neues Besucherzentrum im Kasseler Bergpark Wilhelmshöhe. Marcus Jauer trägt aus dem Netz Ratschläge zusammen, wie man einen magischen Bestseller schreibt: "Was den Tod betrifft bin ich relativ flexibel."

Im Aufmacher von Bilder und Zeiten erzählt Walter Kappacher, wie Samuel Beckett 1925 von einer Motorradwettfahrt mit seiner A.J.S. träumt. Jordan Mejias besucht die kanadischen Jardins de Metis, die in diesem Jahr deutsche Gartengestalter mitbepflanzt haben. Johannes Schmitz berichtet über die Auflösung des Benediktinerklosters in Siegburg. Julia Spinola unterhält sich mit Claudio Abbado über Mahler.

Besprochen werden ein Konzert von John Mellencamp in Stuttgart und Bücher, darunter Martin Walsers neuer Roman "Muttersohn" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). Die Schallplatten- und Phono-Seite zieren zwei große Fotos der prächtigen Körper von Beyonce und Jennifer Hudson, deren Musik Daniel Haas zu mager findet. Weiter geht's um eine Aufnahme von und mit HK Gruber und Andreas Doraus "Todesmelodien".

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans-Ulrich Treichel ein Gedicht von Günter Kunert vor:

"Todesferne Elegie

In ihrer Weinhandlung
in der Via dei Chiavari
in der düsteren Höhle die beiden Alten
sind vollkommen unsterblich
Ein korpulenter Silen
..."