Heute in den Feuilletons

Das musste im Fernsehen dann gepixelt werden

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2011. Die FR staunt am Beispiel Lady Gagas: So solide können die Absätze von Stilettos sein. Die NZZ erzählt, wie der Schriftsteller Javier Sicilia in Mexiko die "Selbstverteidigung der Zivilgesellschaft" gegen die Mafia organisiert. An der Überraschung des Westens über die arabischen Revolten sind sein Orientalismus und seine Fixierung auf den Islam schuld, meint die SZ. Carta spottet über das Netzwerk Recherche. Das Blog Netzwertig fürchtet die Rückeroberung des Netzes durch die Kräfte der Beharrung. Allgemein recht zufrieden ist man mit dem Festival von Cannes.

NZZ, 23.05.2011

Als starken, aber nicht herausragenden Jahrgang bewertet Susanne Ostwald online die zu Ende gegangenen Filmfestspiele von Cannes. Die Goldene Palme für Terrence Malicks "Tree of Life" findet sie ganz richtig: "Malick hat einen Film von großer philosophischer Tiefe geschaffen und dabei völlig neue Perspektiven eröffnet, auf die Welt wie aufs Filmschaffen." Hier alle Preise.

Anne Huffschmid berichtet aus Mexiko, wie der Schriftsteller Javier Sicilia, dessen Sohn von Drogengangs ermordet wurde, gegen die Mafia mobilisiert und die "Selbstverteidigung der Zivilgesellschaft" organisiert. Motto: Estamos hasta la madre - Wir haben die Schnauze voll. "Die fast 40 000 Menschen, die dem Mafia-Terror und der Militarisierung nun in weniger als fünf Jahren zum Opfer gefallen sind, sprengen jedes Mass und Vorstellungsvermögen. Kein Thema hat die mexikanische Gesellschaft in den letzten Jahren so beschäftigt, über nichts wurde mehr gesprochen unter Freunden, in den Familien. Aber es blieb beim privaten Wettern über die Regierung, beim Versuch, den eigenen Alltag gegen Risiken abzusichern, bei Strategien der Abschottung und Verdrängung."

Weiteres: Ganz und gar überwältigt kommt Andrea Köhler aus dem Metropolitan Museum, das mit seiner Alexander-McQueen-Schau den fantastischen Kreationen des britischen Modedesigners huldigt: "Surreal schöne Schöpfungen einer an den Wahnsinn grenzenden Einbildungskraft. Ueli Bernays berichtet vom Jazzfestival Schaffhausen. Thomas Schacher hat das London Symphony Orchestra in Zürich gehört.

Weitere Medien, 23.05.2011

(via ald) In einem sehr, sehr langen Essay für West 86th stellt Pat Kirkham den Grafiker und Filmregisseur Saul Bass vor. Bass schuf u.a. die Titelsequenzen für Hitchcocks Filme "Vertigo" (1958), "North by Northwest" (1959) und "Psycho" (1960). Und: er hat die Mordszene in der Dusche gedreht, obwohl Hitchcock das gegenüber Francois Truffaut indirekt geleugnet hat. Ein Kronzeuge Kirkhams ist Billy Wilder: "He told me [1994], 'Like most people in Hollywood you knew who did what if you were in the industry, especially if great stuff was involved. Everybody talked about that scene. Right from the beginning I understood that Saul did it. Everybody knew. Everybody knew Saul was brilliant. Who questioned it until those remarks of Hitchcock? . . . You only have to look at the sequence and look at the film and think. Think for one minute. You see the shower scene and you see it is not at all like Mr. Hitchcock - King of the Long Shot.'"

150 Jahre MIT. Ed Pilkington macht für den Guardian einen Besuch und ist tief beeindruckt: "If you come up with a brilliant idea, that's OK. If you win a Nobel prize for your research, that's fine. But if you take that idea and apply it and make something transformative happen, then in MIT that's deeply admired." Vorbild für den Gründer war übrigens das deutsche Bildungssystem!

FR, 23.05.2011

Musikalisch nichts Neues bei Lady Gaga, aber die Outfits sind schon was, befindet Carmen Böker: "Vor einer Woche trat sie als Mentorin bei der Talentshow 'American Idol' auf, mit Schuhabsätzen in Penis-Form. Das musste im Fernsehen dann gepixelt werden; könnte ja sein, dass Unschuldige zuschauen."

Außerdem: Soll man Chinas Rechtssystem, das Ai Weiwei gerade wegen Steuerhinterziehung angeklagt hat, respektieren? Ach was, meint Bernhard Bartsch, ""es ist an China, der Welt zu demonstrieren, dass seine Justiz Respekt verdient". Andreas Herberg-Rothe fordert eine perfekte Balance von Freiheit und Gleichheit. Jürgen Otten porträtiert den französischen Pianisten David Fray. Peter Michalzik porträtiert den "Bühnenterroristen des DSDS-Zeitalters", den Schauspieler-Theaterregisseur Herbert Fritsch. Beim Besuch der GEZ-Zentrale in Köln-Böcklemünd verpasst Jochen Voss die Gelegenheit, kritische Fragen zu stellen.

Besprochen werden CD, Ausstellung und Fotoband von Moby und die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Oper "Superflumina" in Mannheim.

TAZ, 23.05.2011

Einen "vitalen Existenzbeweis" sieht Katrin Bettina Müller im Berliner Theatertreffen, das heute mit Christoph Schlingensiefs "Via Intolleranza" zu Ende geht. Jutta Lietsch hat in der Nähe von Peking die "Vier-Meere-Schule" besucht, ein Internat, das sich der Rückbesinnung auf Konfuzius verschrieben hat. Susanne Messmer war dabei dabei, als Herta Müller im Berliner Ensemble aus ihrem neuen Essayband las. Julian Weber berichtet vom Berliner Konzert der New Yorker Band Gang Gang Dance.

Und Tom.

Welt, 23.05.2011

Eckhard Fuhr reist nach Frankfurt an der Oder, wo Heinrich von Kleist als Standortfaktor wiederentdeckt wird. Peter Beddies unterhält sich mit Regisseur Andreas Dresen über sein in Cannes erfolgreiches Krebsdrama "Halt auf freier Strecke". Paul Badde unterhält sich mit dem katholischen Fundi Martin Mosebach über neue Richtlinien Benedikts XVI. für die Abhaltung der lateinischen Messe.

Besprochen werden Michael Thalheimers Inszenierung von Tolstois "Macht der Finsternis" an der Schaubühne und ein Musikspektakel in Mannheim.

Aus den Blogs, 23.05.2011

Wolfgang Michal geht auf Carta das Programm zur Jahrestagung des journalistischen Lobbyvereins Netzwerks Recherche durch und kann ihm den Spott nicht ganz ersparen: "Im Programm-Flyer zur Veranstaltung wirbt der Altsender NDR mit dem Satztryptichon 'Journalismus braucht Recherche. Und Sendeplätze. Die haben wir.' Altkanzler Helmut Schmidt lächelt weise aus einer Banken-Anzeige für einen Journalistenpreis. Altskeptiker Martin Walser steuert das ganzheitliche Motto des Programms bei: 'Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.'"

Bei einer Analyse von Stern.de hatte Stefan Niggemeier festgestellt, dass unter 367 Artikeln gerade mal acht eigene Beiträge waren. In Meedia sagt der Chefrekateur Frank Thomson - möglicherweise - dazu: "Eine News-Seite ist ein komplexes Gebilde aus verschiedensten Dingen, die auch gewürdigt werden von Usern."

Martin Weigert bekommt in Netzwertig das ungute Gefühl, "dass die Zeit des verhältnismäßig freien, demokratischen und offenen Internets bald vorbei sein könnte. Die Anhänger eines geordneteren und besser kontrollierten Netzes scheinen sich aus ihrer lange währenden Schockstarre befreit zu haben und nun ihre Energie zu bündeln, um sich die digitale Zukunft nach ihren Vorstellungen zurecht zu schnitzen."

SZ, 23.05.2011

Karin Gothe (die in einem denkwürdigen SZ-Artikel jüngst fragte, ob bin Laden nach seiner Seebestattung überhaupt Chancen hat, ins Paradies zu kommen) nimmt jetzt die Überraschung des Westens angesichts der arabischen Revolten in den Blick und schreibt diese Überraschung dem einst von Edward Said diagnostizierten "Orientalismus" und der Angst vor dem Islam zu: "Die Frage ist nicht, ob der Islam mit der Moderne kompatibel ist oder welche Gefahr Europa durch den Islam droht - das ist altes orientalistisches Denken. Wer weiterhin alles Geschehen in der arabischen Welt mit dem Islam oder dem orientalischen Wesen an sich erklären will, wird auch von der nächsten Revolte überrascht."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh ist sehr zufrieden mit dem diesjährigen Festival von Cannes und der Goldenen Palme für Terrence Malick. In den "Nachrichten aus dem Netz" erzählt Niklas Hofmann, wie Umberto Eco das Internet in seiner Espresso-Kolumne unter seinem Niveau kritisierte (und er verweist auf zwei interessante Blogs, Wittgenstein.it und Il Post). Michael Stallknecht lauschte einem Münchner Vortrag Gerard Mortiers über das mögliche Verschwinden der Oper und ihre Herkunft aus dem Bürgertum. Jörg Häntzschel meldet, dass New Yorker Institutionen wie die City Opera Probleme haben, ihre Immobilien zu halten. Michael Moorstedt spielt das neue Computerspiel "L.A. Noire". Henning Klüver erzählt neueste Possen aus dem italienischen Kulturbetrieb, wo der Berlusconi-Kumpel Vittorio Sgarbi den italienischen Pavillon der Biennale von Venedig kuratiert.

Besprochen werden neue DVDs, ein Konzert B.B. Kings in Wolfsburg und Albert Ostermaiers neuer Roman "Schwarze Sonne scheine".

FAZ, 23.05.2011

Vom Berliner Attac-Kongress zu den "Grenzen des Wachstums" (Website) berichtet nicht ohne Skepsis Eva Berendsen. Freudig ergriffener Anlass zur Kulturkritik ist Gina Thomas das Erscheinen eines englischen Scrabble-Lexikons, das jetzt doch tatsächlich "Internet-Slang" wie "grrl" oder "thang" kreuz und quer zu legen erlaubt. Die New York City Opera ist so klamm, dass sie aus dem Spielort Lincoln Center ausziehen muss - Jordan Mejias sieht das Ende der Oper in nicht sehr weiter Ferne. Einen Moskauer Konzertzyklus, mit dem der "Variantenreichtum der europäischen Musiksprachen" vorgestellt werden soll, hat Kerstin Holm besucht. In seiner "Klarer Denken"-Kolumne warnt Rolf Dobelli vor Irrtümern in Sachen Kausalität.

Besprochen werden Michael Thalheimers Inszenierung von Leo Tolstois selten gespieltem Stück "Macht der Finsternis" an der Berliner Schaubühne (eine Ausgrabung, die sich nach Gerhard Stadelmaiers Ansicht gelohnt hat), Nikolaus Lehndorffs "Meistersinger"-Inszenierung beim Opernfestival in Glyndebourne, die Sammlungs-Neupräsentation "Kunst befreit!" des Museums Kunstpalast Düsseldorf, zwei Berliner Ausstellungen mit Fotos aus dem kriegszerstörten Berlin, Karin Kapers und Dirk Szuszies Dokumentarfilm "Aber das Leben geht weiter" und Bücher, darunter eine Neuausgabe von Mordecai Richlers Roman "Solomon Gursky war hier" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).