Heute in den Feuilletons

Abermillionen Bröckchen Kunst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2010. Die FR ist stinksauer auf die Berliner Ausstellung "Hitler und die Deutschen": "Man gibt sich frivol, und dann wird nichts Frivoles geboten. Die Schau ist aber auch noch feige." Die Jungle World fragt, warum die Deutschen so wenig überzeugt sind von den universalen Menschenrechten. In der FAZ erzählt Mario Vargas-Llosa, wie es neulich in seiner Leitung zwitscherte. Für die SZ ist Ai Weiwei der Warhol der Jetztzeit.

FR, 15.10.2010

Stinksauer ist Arno Widmann aus der Austellung "Hitler und die Deutschen" im Deutschen Historischen Museum in Berlin gekommen: Sie zeigt nichts, sie nennt keine Namen und flieht mehr vor ihrem Thema als dass sie es packt: "'Wir haben uns nicht eingelassen auf die bizarre Persönlichkeit Hitlers', erklärte auf der Pressekonferenz Hans Ottomeyer, Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums. Das stimmt. Aber warum heißt die Ausstellung dann 'Hitler und die Deutschen'? Der Historiker mag sein Objekt hassen oder lieben, aber ernst nehmen muss er es. Das Interesse der Ausstellungsmacher an Hitlers Persönlichkeit geht gegen Null. Aber auf eines setzen sie: Sein Name taugt zur Reklame. Das ist das Unappetitliche dieser Veranstaltung. Man gibt sich frivol, und dann wird nichts Frivoles geboten. Die Schau ist aber auch noch feige."

Hans-Klaus Jungheinrich hat einen Blick auf die Proben für Saint-Saens' Oper "Samson und Dalila" werfen dürfen, die Tenor Jose Cura in Karlsruhe singt, ausstattet und inszeniert: "Etwas angeschlagen, kittelartig über die Hose gezogenes weißes Hemd, lange dunkle Lockenmähne, Profil wie von Rafael gemalt, Dreitagebart: Als biblischer Held Samson ist er schon rein äußerlich eine Prachtbesetzung."

Besprochen werden eine Ausstellung über den Maler Gustave Courbet in der Frankfurter Schirn, Zack Snyders 3D-Film "Die Legende der Wächter" und Marius Müller-Westernhagens Konzert in Frankfurt.

Jungle World, 15.10.2010

So etwas wie Aufklärung ist in Deutschland einfach nicht angesagt, schreibt Alex Feuerherd in einem Essay, der nochmal Christian Wulffs Rede zum 3. Oktober und Henryk Broders offenen Brief an Wulff aufgreift: "In der Tat werden in der gegenwärtigen Diskussion auffällig selten die Aufklärung und der Humanismus zum Maßstab erhoben, und das offenbart ein grundsätzliches Dilemma: Hierzulande ist ein universalistisches Verständnis von Menschenrechten noch immer randständig, und eine Dialektik von Einheit und Differenz, wie sie in den USA selbstverständlich ist, existiert schlicht und ergreifend nicht."

NZZ, 15.10.2010

Samuel Herzog schildert die Versuche der georgischen Kunstszene, sich zu etablieren, und zwar jenseits der Bombastbildhauerei Zurab Tseretelis. Brigitte Kramer berichtet, dass der katalanische Sternekoch Ferran Adria 2012 sein Restaurant dicht machen will, um mit der Stiftung Alicia die Essgewohnheiten auch der unteren Stände zu verbessern. Hans-Albrecht Koch meldet den Abschluss des "Lexikon des frühgriechischen Epos".

Auf der Musikseite stellt Martin Schäfer allerlei Neues und weniger Neues von und zu Bob Dylan vor. Besprochen werden die große Picasso-Ausstellung im Kunsthaus Zürich und Konzerte unter Frans Brüggen und Philippe Herreweghe in Zürich.

TAZ, 15.10.2010

Andreas Hartmann stellt den Dokumentarfilm "Edge - Perspectives on Drug Free Culture" von Marc Pierschel und Michael Kirchner vor, und porträtiert die inzwischen etwas in die Jahre gekommene Subkultur Straight Edge, in der es um radikale Abstinenz und sexuelle Enthaltsamkeit geht. "Aus der schlichten Einschätzung ... ohne Drogen die Dinge klarer zu sehen, wurde von dubiosen Adepten längst ein diffuses 'Reinheitsgebot' destilliert, das nicht mehr nur auf den eigenen Körper, sondern im Extremfall auf den 'Volkskörper' angewandt wird. Ein wilder Mix aus Schwulenhass, militantem Tierschutz, Abtreibungsgegnerschaft und krudem Antisemitismus hat sich rund um bizarr anmutende Auslegungen entwickelt."

Weitere Artikel: Eva-Christina Meier unterhält sich mit der argentinischen Soziologin Maristella Svampa über den räuberischen Übertage-Bergbau und die neuen Bürgerbewegungen im Kampf um das Land in Südamerika. Julian Weber informiert über das Ausscheiden von Max Dax beim Magazin Spex, dessen Rolle als Chefredakteur nun eine Doppelspitze übernimmt. Alles Harmonie bei einer Berliner Veranstaltung, auf der Axel Hacke und Giovanni di Lorenzo ihr gemeinsames Buch "Wofür stehst du?" vorstellten berichtet Denk und notiert: "Vielleicht können Wertediskussionen ja nur von Leuten angestoßen werden, die tatsächlich kein Problem damit haben, sich unbeliebt zu machen."

Besprochen wird das Album "Das wird alles einmal dir gehören" der Hamburger Band Herrenmagazin.

Auf der Meinungsseite fragt die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus: "Warum entbrennt der derzeitige Streit um die Zugehörigkeit des Islams gerade jetzt? Einen äußeren aktuellen Anlass gab es nicht. Keine Gewalttat. Keine Forderung nach der Einführung islamischen Rechts von muslimischer Seite. Er ist vielmehr Symptom für die akute Krise des nationalen Selbstverständnisses."

Und Tom.

SZ, 15.10.2010

Nach ihrem Besuch seiner großen Porzellan-Sonnenblumenkern-Installation findet Catrin Lorch, dass Ai Weiwei dabei ist, Andy Warhols würdiger Nachfolger als Kunstweltdiagnostiker zu werden: "Dass Ai Wei Wei als erster nicht westlicher Künstler kommentieren würde, was die Tate hier vorführt, wenn sie Kunst groß macht, war eigentlich zu erwarten: Es entstand vielleicht nicht das gigantischste Kunstwerk überhaupt (denn 'Sunflower Seeds' ist ja nur wenige Zentimeter hoch), aber das zahlreichste. Millionen und Abermillionen Bröckchen Kunst. Wer das beschreiben möchte, dem fällt das Gleichnis von den verdoppelten Reiskörnern auf dem Schachbrett ein, Sandkörner am Meer, die Sterne am Himmel."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel berichtet über das Ende des Gerichtsverfahrens gegen die Getty-Antikeneinkäuferin Marion True, die in Italien wegen des Schmuggels antiker Kunstgegenstände angeklagt war: die Richter befanden, die Taten seien verjährt. Auf dem Soziologenkongress in Frankfurt sah sich Martin Stempfhuber mit der "vollkommen unübersichtlich gewordenen Perspektivenvielfalt der Soziologie" konfrontiert. Egbert Tholl unterhält sich mit Christian Thielemann über Gustav Mahler, dessen Achte er, der sich sonst eher selten mit Mahler befasst, jetzt in München dirigiert. Über einen Streik der Berliner Opernorchester informiert Wolfgang Schreiber.

Besprochen werden ein Lonnie-Smith-Konzert in München, die Ausstellung "Hitler und die Deutschen" im Deutschen Historischen Museum in Berlin, die jetzt in der offiziellen Bootleg-Serie veröffentlichten sogenannten Whitmark-Demos des frühen Bob Dylan, Adam McKays Filmkomödie "Die etwas anderen Cops" (mehr) und Bücher, darunter Anna Katharina Fröhlichs Roman "Kream Korner" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 15.10.2010

Als Reporter seiner eigenen Überraschung schildert Mario Vargas Llosa den Tag, an dem er den Nobelpreis erhielt, und die Gedanken und Gefühle, die er dabei hatte: "Plötzlich bemerkte ich Patricia. Sie kam zu mir mit dem Telefon in der Hand und einem Gesichtsausdruck, der mich erschreckte. 'Etwas Schlimmes ist in der Familie passiert', dachte ich. Ich nahm das Telefon und machte zwischen Pfeiftönen, Echolauten und elektrischem Zwitschern eine Stimme aus, die Englisch sprach. In dem Moment, als ich die Wörter 'Swedish Academy' verstehen konnte, brach die Verbindung ab."

Ganzseitig treffen sich in einer nachdenklichen Runde Giovanni di Lorenzo (Zeit-Chefredakteur), Axel Hacke (Autor), Claudius Seidl (FAS-Feuilletonchef) und Frank Schirrmacher (FAZ-Herausgeber) und plaudern darüber, was die Wertewelt ihrer Generation im Innersten zusammenhält. Hier Di Lorenzos Dreipunktebeschreibung: "Es gibt da drei Dinge: Wir sind eine Generation der Ambivalenten, was ich für eine Stärke halte. Zweitens: Wir sind, glaube ich, eine Generation, die besser als andere Generationen die Frage stellen kann: Welchen Anteil habe ich an einem Problem? Das dritte ist: Wir haben unsere Aufgaben noch nicht erfüllt, es bleibt viel zu tun." (Ist es da nicht schon eine Leistung, dass er nicht mitten in der Aufzählung seiner Vorzüge eingeschlafen ist?)

Weitere Artikel: Regina Mönch verurteilt in scharfen Tönen noch einmal den "islamischen Abgrenzungswahn", den alltäglichen, gegen alles, was "anders" ist, gerichteten Rassismus türkischer und arabischer Schüler in den parallelgesellschaftlichen Problembezirken. Constanze Kurz erklärt, warum die von der Großen Koalition erlaubte Computer-Wanze zum Abhören rechnergestützter Kommunikation vor dem Verfassungsgericht einen schweren Stand haben dürfte. Patrick Bahners hat eine geharnischte diplomatische Note verfasst, in der er dem Bischof von Limburg (als Vertreter der katholischen Kirche) in das Recht abspricht, sich in seiner Focus-Kritik gegen Christian Wulffs Islam-Inklusion als "weltlicher Musterschüler" auszugeben. Ingeborg Harms hat das neue Merkur-Doppelheft zum Thema Liberalismus gelesen. In der Glosse vermisst Daniel Haas den Widerstand gegen die fortgesetzten Architekturverbrechen von Berlin. Auf der Medienseite informiert Joseph Croitoru über innerislamistische Onlineportalauseinandersetzungen, die jetzt zur Gründung des zweisprachigen Webmagazins Onislam geführt haben.

Besprochen werden eine "Götterdämmerung" in Essen (ziemlich indisponiert - von Barry Koskys Regie bis zu den Hornisten, findet Christian Wildhagen) und eine Inszenierung von Puccinis "Trittico" in Dortmund (die hat dem Rezensenten viel besser gefallen), die große "Monet"-Ausstellung im Grand Palais in Paris, Samuel Maoz' Film "Lebanon" (mehr) und Bücher, darunter Joshua Ferris' Roman "Ins Freie" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).