Heute in den Feuilletons

In Anstand sterben und rauchen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2008. In der taz fordert Friedrich Kittler: Lasst Raucher in Würde sterben! In der SZ geißelt der Wirtschaftshistoriker Robert N. Proctor dagegen die Machenschaften der Tabakindustrie. Die FAZ schildert die bestürzte indische Reaktion auf die Ermordung Benazir Bhuttos. Die Berliner Zeitung porträtiert den Merve-Verleger Peter Gente. Und jetzt.de lanciert eine Attacke gegen die Blogosphäre.

Berliner Zeitung, 02.01.2008

Sabine Vogel porträtiert Peter Gente, den Mann der den legendären Theorie-Verlag Merve miterfunden und jetzt seinem Nachfolger Tom Lamberty übergeben hat. Büchermachen war für Gente immer eine Sache der Leidenschaft, nie des Geschäfts: "Deshalb ist jeder Merve-Titel ein Versprechen: Rätselhaft und schön. Licht der Kriege, Schrift der Wüste, Kunst des Handelns, Transparenz des Bösen, Postheroisches Management, Agonie des Realen, Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen... Diese Titel haben Flügel bekommen. Sie sind dem akademischen 'Netz der Systeme' entfleucht und haben sich über 'Mille Plateaux' ('Tausend Ebenen', so ein Titel von Gilles Deleuze und Felix Guattari) ausgebreitet. Diese Titel sind zu poetischen Phrasen geworden, hinter deren Eleganz man gut verbergen kann, dass man sie vielleicht nie ganz begriffen hat. Sie ziehen die Blender und Bluffer an wie das Licht die Nachtfalter. Merve-Bücher wären Bestseller, wenn es so ein Ranking in der Kategorie Fußnoten gäbe, sagt Gente ironisch."

FR, 02.01.2008

Daniel Kothenschulte informiert über das Blühen der Filmgeschichte im Internet und Pläne der großen amerikanischen Medienkonzerne, ihr gesamtes DVD-Angebot, wie bereits die Musik-CDs, über Apples Internetshop i-tunes zu verkaufen. Kothenschulte bezweifelt Sinn und Zweck, sieht Positives aber auf einem anderen Sektor: "Ganz unabhängig von derartigen Markt-Spekulationen verändert sich freilich derweil die Filmkultur durch das Internet. In kürzester Zeit haben sich Tauschbörsen zu Fundgruben für Seltenes und nahezu Verschollenes entwickelt. (...) Welche Mühen mussten Kunstgeschichtsstudenten noch vor wenigen Jahren auf sich nehmen, um wichtige Werke der Videokunst sichten zu können? In vielen Fällen reicht es heute aus, den Titel in ein Fensterchen zu tippen. Besonders dem Kurzfilm kommt die plötzliche Übersicht ungemein zu Gute."

Weitere Artikel: In Times mager räsoniert Sylvia Staude über die Vergeblichkeit guter Vorsätze. Christian Schlüter würdigt in einem Nachruf den italienischen Architekten und Designer Ettore Sottsas. Zu lesen ist außerdem die Kurzgeschichte "Was das Haar erzählt" der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie.

Besprochen werden eine große Piet Mondrian-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, Marguerite Abouets Comic "Aya" über eine junge Frau an der Elfenbeinküste und eine Eichendorff-Ausstellung im Frankfurter Goethehaus.

TAZ, 02.01.2008

Detlef Kuhlbrodt unterhält sich Kulturteil füllend mit dem Medientheoretiker Friedrich Kittler über das Rauchen. Kittler erzählt, wie er kürzlich auf einer Geburtstagsparty war, wo man nur am Ende eines kalten Flurs rauchen durfte. "Und dann hat eine Frau - aus der besten Hamburger Gesellschaft - so wütend reagiert mit der vollkommen berechtigen Begründung: "Ich möchte rauchen, aber nicht bei minus 3 Grad und irgendwo am Ende des Flurs, sondern ich möchte sitzen, ich möchte ein Glas Wein haben, ich möchte meine Zigarette in Ruhe ausrauchen, ich möchte es warm haben. Ich möchte in Anstand sterben und rauchen.' Und das hat die Gastgeberin dann überzeugt; wir durften ab zehn Uhr rauchen."

Auf der Meinungsseite erklärt der ehemalige Verfassungsrichter Udo Steiner, weshalb der besondere Schutz von Kultur, Sport oder Kinderrechte im Grundgesetz gar nichts bringt und höchstens die Gerichte stärkt, da es sich um rein symbolische Maßnahmen handele. Und in tazzwei beschreibt Knut Henkel den Exodus von jährlich 33.000 junger Kubaner ins Exil und Castros Bedauern, das Verlassen des Landes einst gestattet zu haben.

Und hier Tom.

Welt, 02.01.2008

Michael Pilz bereitet uns auf das beginnende Kulturhauptstadtjahr in Liverpool vor. Rainer Haubrich durchblättert die Bestsellerlisten des Jahres 2007 und diagnostiziert einen nie dagewesenen Boom des Übersinnlichen. Alexander Kluy weist auf das beginnende "Jahr der Sprachen" hin. Manuel Brug wurde von der Welt nach Mexiko geschickt, um eine Tournee des Freiburger Barockorchesters zu begleiten. Kai-Hinrich Renner fragt sich, warum Tagesthemen und Heute Journal in der Publikumsgunst sinken.

Besprochen werden Kenneth Branaghs Verfilmung der "Zauberflöte" und ein Buch über eine Kontroverse zwischen Gottfried Benn und Egon Erwin Kisch.

Für das Forum liest Hannes Stein amerikanische Zeitschriften, die sich unter anderem mit der heiklen Frage befassen, warum unterschiedliche ethnische Gruppen bei Intelligenztests unterschiedlich abschneiden. Auf der Magazinseite unterhält sich Wieland Freund mit dem 94-jährigen slowenischen Schriftsteller Boris Pahor.

FAZ, 02.01.2008

Martin Kämpchen zieht in einem Artikel zur aktuellen Lage in Pakistan und Indien einen Vergleich zwischen den "Herrscherhäusern" Gandhi und Bhutto. Ausführlicher geht er auch auf die Auswirkungen von Bhuttos Tod auf Indien ein: "Seit der Ermordung von Frau Bhutto beherrscht die beklemmende Sorge, ob die Unruhen in Pakistan eine unmittelbare Auswirkung im eigenen Land haben könnten, jedes Gespräch der indischen Bildungselite, der Armee und des politischen Establishments. Nur gemeinsames Handeln kann in diesem Dilemma helfen. Genau dies hatte Benazir Bhutto auf ihren Wahlkundgebungen und in Interviews der letzten Monate pausenlos gefordert. Sie wollte in ihrem Land die Trainingslager für Terroristen schließen und die Verbindung zwischen Regierung und Terroristen kappen. Die indische Regierung hatte die Rückkehr Bhuttos deshalb beinahe ekstatisch willkommen geheißen."

Weitere Artikel: Eleonore Büning läutet das mit dem 100. Geburtstag des Dirigenten bevorstehende Karajan-Jahr mit einem Bericht aus St.Moritz-Bad ein. In der Glosse informiert Andreas Platthaus über den Start ins Jahr mit ersten fehlgehenden bzw. gleich ausbleibenden Bleiguss-, Glücksplätzchen- und Bibelstechen-Prophetien. Wie die Bewohner der "kleinen Bronx" von Madrid sich selbst zu helfen versuchen, weiß Paul Ingendaay. Manfred Spieker, der Christliche Sozialwissenschaften lehrt, will, weil die Würde des Embryo für ihn unantastbar ist, den Ansichten von Bischof Wolfgang Huber zur Stammzellforschung keineswegs "mit Respekt begegnen". Dirk Schümer informiert darüber, dass Ex-Scala-Chef Ricardo Muti, von dem man zuletzt nicht so viel gehörte hat, "abseits der Metropolen an seinem eigenwilligen künstlerischen Profil" feilt. Katja Gelinsky hat Zahlen zum staunenswerten philantropischen Engagement in den USA. Beim Blick in bioethische Zeitschriften stößt Stephan Sahm unter anderem auf Skepsis angesichts grassierender Anti-Aging-Euphorien. Freddy Langer gratuliert dem Fotografen David Bailey zum Siebzigsten. Dieter Bartetzko hat der Öffentlichkeit wieder zugängliche Schätze aus der zerstörten Frankfurter Altstadt besichtigt und außerdem den Nachruf auf den im Alter von neunzig Jahren verstorbenen Designer Ettore Sottsass verfasst (hier die berühmte Olivetti-Schreibmaschine). Aus der Schweiz meldet Jürg Altwegg, dass der Künstler Thomas Hirschhorn nach der Abwahl von Christoph Blocher nun seinen über die eigene Heimat verhängten Ausstellungsboykott beendet hat.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Druckgrafiken von Gabriele Münter in Bad Homburg v.d. Höhe, Wes Andersons neuer Film "Darjeeling Limited" und Bücher, darunter Helmut Kraussers neue Gedichte "Plasma" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 02.01.2008

Johannes Boie, der vor ein paar Monaten einen kritischen Artikel zu Blogs in der SZ veröffentlicht hatte, beschwert sich nun in jetzt.de, der Online-Jugendabteilung des Blattes, dass man mit Bloggern nicht diskutieren kann. Es regiere im Netz eine Meute, die anonym bleibt und mit Vorliebe Rufmord begeht: "Die Welt der Blogs und Foren besteht nämlich längst in weiten Teilen aus Orten, in denen anonym beleidigt, gehasst und Dummes geredet wird. Das anonyme Grundrauschen begleitet die großen und bekannten Blogs, die auch außerhalb der Blogger-Welt gelesen werden. Es ist ein Störgeräusch aus Mittelmaß, Vereinfachung und aus verbalen Schnellschüssen. Das kann einem nur dann egal sein, wenn man den Glauben daran, dass das Netz und insbesondere der partizipative Teil die Welt verbessern wird, aufgegeben hat. Diesen Glauben möchte ich persönlich nicht aufgeben - das Netz ist großartig." (Don Alphonso kommentiert den Text in seiner Blogbar im Vorübergehen als "pauschalisierendes Geflenne".)

SZ, 02.01.2008

Im Aufmacher geißelt der amerikanische Wirtschaftshistoriker Robert N. Proctor die Unwissenheits-Kampagne der Tabakindustrie: "Sie verschleiert die Risiken der Rauchens systematisch und bewusst: 'Unsere Ware ist Zweifel' war eine interne Analyse des Tabakriesen Brown & Williamson von 1969 überschrieben. 'Unsere Ware ist Zweifel', das heißt: Wir können nur weiter Zigaretten verkaufen, wenn wir unsere Käufer davon ablenken können, dass Zigaretten töten. Seither hat die Tabakindustrie alles daran gesetzt, Zweifel zu säen; sie hat Wissenschaft mit Wissenschaft bekämpft, 'Experten' dafür bezahlt, 'alternative Erklärungsmodelle' auszuarbeiten und die Medien dazu gebracht, von 'zwei Seiten' einer vorgeblichen 'Tabak-Kontroverse' zu sprechen." Am schlimmsten sind für Proctor die Deutschen, die regelrechte "Killermaschinen" das heißt Hochleistungsmaschinen zur Tabakproduktion entwickelt hat.

Weitere Artikel: Nikolai Brandes besucht den Themenpark "Portugal im Kleinen" in Coimbra, der mit seiner Präsentation der ehemaligen "Überseeprovinzen" belege, dass das Land seinen Kolonialismus nicht überwunden hat. Stefan Koldehoff informiert über russische Großmachtsattitüden im Zusammenhang mit der "kunsthistorisch belanglosen" Ausstellung von 120 Bildern aus russischen Museen ("Bonjour Russland", derzeit im Kunstmuseum Düsseldorf), die erst nach Erlass eines neuen Sicherheitsgesetzes auch in England gezeigt werden kann. Peter Lutz informiert über neue Maßnahmen zum Schutz geistigen Eigentums im Netz. Florian Kessler fragt sich, ob mit David Lettermans Rückkehr in die Late Night Bewegung in den amerikanischen Drehbuchstreik kommt und die Verleihung der Golden Globes Anfang März möglicherweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden wird. In einem Interview erklärt die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright, weshalb sie mit ihrem Buch "Amerika, du kannst es besser" in den US-Wahlkampf eingreifen will.

Besprochen werden Wes Andersons neuer Film "Darjeeling Limited", eine Ausstellung mit Arbeiten von Kai Althoff in der Kunsthalle Zürich, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker mit Georges Pretre, Roberto Ciullis Inszenierung von Eduardo de Filippos Frühwerk "Verrückt" im Mühlheimer Theater an der Ruhr, das dem deutsch-französischen Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt gewidmete Themenheft der Zeitschrift Kultur & Gespenster und Bücher, darunter der Briefwechsel 1906-1935 zwischen Arnold Schönberg und Alban Berg und Rainer Kunzes Gedichtband "lindennacht" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).