Heute in den Feuilletons

"das Ende der bürgerlich-liberalen Schweiz"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2007. In der FAZ erklärt der Dokumentarfilmer Eduard Erne, was das Massaker von Rechnitz von anderen Nazi-Verbrechen unterscheidet. In der NZZ bekennt Ralf König: Bloßes Schwulsein ist ihm allzu inhaltsleer. In der taz beweist Veteran Horst-Eberhard Richter, dass er den Schubkurbelflachkeilverschluss seiner Feldhaubitze bis heute blind bedienen kann. Die Berliner Zeitung stellt unbequeme Fragen über das Sexualleben der "Harry Potter"-Protagonisten. In der Welt fragt Meinhard Miegel: Was ist das Spezifikum unserer Kultur? Die Netzeitung trauert um ihren Pagerank.

NZZ, 26.10.2007

Man mag es nicht glauben: Ralf König hat einen Comic über eine heterosexuelle Frau geschrieben! "Hempels Sofa" heißt das neue Werk und handelt vom komplizierten Liebesleben einer Psychotherapeutin. Im Interview mit Peter Durtschi erklärt König, wie er nur auf die Idee kam: "Ich finde das Homo-Ghetto durchaus problematisch. Die Forderung war einmal: 'raus aus dem Schrank'. Aber mit den Jahren kann man eher den Eindruck haben, man macht es sich gemeinsam im Schrank gemütlich. In schwulen Zeitschriften geht es fast ausschließlich ums Schwulsein - alle Kunst, Kultur, Berichterstattung beschränkt sich darauf. Mag sein, dass die jüngere Generation das genau so will und braucht, mir ist das schon lange zu inhaltsleer."

Samuel Herzog hat sich die erste Kunstbiennale in Athen angesehen, die sich mit dem Schlachtruf "Destroy Athens" aus dem Korsett der Antike befreien will. "Die Antike bestimmt Identität und Alltag der modernen Metropole wesentlich mit: keine Bank, die nicht mit dem Erechtheion oder dem mandeläugigen 'Kalbträger'-Rhombos für ihre Dienste wirbt, keine Parfumerie ohne Kuros und keine U-Bahn-Station ohne adrett inszenierte Ruine. Klar, dass so viel Vergangenheitsbezug nicht nur Segen ist, sondern auch Fluch."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann widmet sich der neuen Programmpolitik im Pariser Châtelet-Theater unter Direktor Jean-Luc Choplin. Ursula Seibold-Bultmann folgt den Spuren des belgischen Architekten Henry van de Velde durch Thüringen und Sachsen.

Auf der Medienseite berichtet "luc" vom zweiten Schweizer Blogger-Treffen. Die Szene ist ein wenig deprimiert, weil vor allem die Blogs in anderen Medien Aufmerksamkeit finden, die von Journalisten oder Politiker betrieben werden, also von Leuten, die eh schon die Mainstreammedien beherrschen. Besprochen werden die Berner Fotografie-Ausstellung "Bilder, die lügen" und ein Buch über den Nutzen des Nutzwert-Journalismus.

Welt, 26.10.2007

Auf der Magazinseite unterhalten sich Ulrich Clauß und Uwe Müller mit dem Demografen Meinhard Miegel, der sein Bonner "Institut für Wirtschaft und Gesellschaft" schließt und eine Stiftung gründet. Hier will er eine neue Kultur ins Leben rufen, über die er sich in einigen recht wolkigen Sätzen äußert: "Mittlerweile müsste über weiterführende Dinge geredet werden, zum Beispiel die Tatsache, dass vor 30 Jahren erst jeder 20. Einwohner Zuwanderer war und heute jeder fünfte einen sogenannten Migrationshintergrund hat. Die Bevölkerung kann also gar nicht mehr vernünftig abgegrenzt werden. Diese Entwicklung wird sich aufgrund offener Grenzen noch beschleunigen. Deshalb müsste jetzt über die Demografiefragen hinaus die Frage kultureller Vielfalt diskutiert werden. Konkret: Was ist das Spezifikum unserer Kultur?"

Im Feuilleton annonciert Wieland Freund den letzten Band von "Harry Potter", der morgen nun auch auf deutsch erscheint. In der Glosse kommentiert Hendrik Werner die Wahl des türkischen Wortes "Yakomoz" - "Widerspiegelung des Mondes im Wasser" - zum schönsten Wort der Welt durch eine berufene Fachjury. Peter Zander war dabei, als Robert Redford in Berlin seinen neuen Film vorstellte. Der griechische Autor Petros Markaris erinnert an seinen großen Kollegen Nikos Kazantzakis, der vor fünfzig Jahren starb. Stefan Keim stellt das Performance-Duo Signa vor, das zur Zweit in Köln gastiert und demnächst nach Berlin kommt. Thomas Abeltshauser verfolgte einen Auftritt des sich nur selten manifestierenden Filmregisseurs Terrence Malick in Rom. Und Hanns-Georg Rodek porträtiert den Schauspieler Chris Cooper der mit 56 Jahren in "Enttarnt" erstmals eine Hauptrolle spielt.

Besprochen werden die neueste CD von Britney Spears (auf der "mp" ein Stöhnen "vor dem digitalen Dreck erstaunlich unversöhnlicher Konsolenklänge" hörte) und eine Ausstellung mit den Zeichnungen Robin Rhodes' in München.

Im Forums-Essay erklärt der Geschlechter- und Generationenforscher Gerhard Amendt, was "Gender Mainstreaming" ist und begrüßt es, dass das Familienministerium eine Aufklärungsbroschüre zurückzieht, die in diesem Geiste verfasst wurde.

Berliner Zeitung, 26.10.2007

Gerade hat Joanne K. Rowling Dumbledore als schwul geoutet - das bringt Wolfgang Fuhrmann auf Gedanken. Beziehungsweise auf viele Fragen, die in dieser Hinsicht offen geblieben sind: "In der Tat liegt ja noch einiges im Sexualleben der Potter-Protagonisten im Dunkeln, das der dringenden Aufklärung bedarf. Ist es nicht merkwürdig, dass es im Leben von Harrys Paten Sirius Black nie eine Frau gegeben hat, dafür aber einen ungewöhnlich krätzigen Hauselfen (die ja bekanntlich alles tun müssen, was ihr Herr ihnen befiehlt)? Hatte man hinter Wildhüter Hagrids Begeisterung für besonders gefährliche Fabelwesen nicht schon ungesunde Leidenschaften vermutet, zumal es in seiner Beziehung mit Olympe Maxime auch nicht so richtig voranging? Und wo liegen eigentlich die sexuellen Präferenzen von Minerva McGonagall, jetzt, da sie doch nichts mit Albus Dumbledore gehabt haben darf? Und, und, und - eigentlich ist Rowling all die Zeit verflixt verschwiegen über das Sexualleben ihrer Protagonisten gewesen."

FR, 26.10.2007

Harry Nutt resümiert die Vorstellung von Robert Redfords Bush-kritischem Film "Von Löwen und Lämmern" in Berlin. Daniel Kothenschulte räumt Britney Spears das Recht ein, sich zu inszenieren, wie sie will. Christoph Schröder, war dabei, als Bergen-Enkheims neuer Stadtschreiber, der aus Berlin stammende Autor Reinhard Jirgl, seine Antrittslesung gab. In der Times mager zeigt Maximilian Kuball bezüglich Harry Potter erste Ermüdungserscheinungen.

Besprochen werden eine Schau in den Kunstsammlungen Chemnitz, in der erstmals Gemaltes von Bob Dylan zu sehen ist, Jens-Daniel Herzogs Inszenierung von Engelbert Humperdincks nachwagnerianischer Oper "Königskinder" am Opernhaus Zürich, eine Ausstellung über die sich wandelnden Moden in der Präsentation von Ausstellungen im Frankfurter Museum der Weltkulturen, und als Buch Annette Pehnts Roman "Mobbing".

TAZ, 26.10.2007

Der Psychoanalytiker und Friedensaktivist Horst-Eberhard Richter erzählt Thomas Eyerich und Thilo Knott im Interview auf den vorderen Seiten über die von ihm an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs bediente LFH-18 mit Schubkurbelflachkeilverschluss und Rohrrücklauf-Fahrbremse. "Mit dem Ding schossen wir fünf, sechs, bis zu zehn Kilometer weit. Erst später, beim Nachrücken auf dem Vormarsch mit unseren Geschützen, haben wir gesehen, was wir angerichtet haben." Heute seien die Soldaten zum Helfen da, zumindest offiziell. "Der Verteidigungsminister kann das fabelhaft. Es gibt eine karitative, moralisierende Logik, in der das Töten und das Schießen und das Morden umgekehrt werden zu einer guten, sozialen Tat." (Eine LFH-18 ist übrigens eine leichte Feldhaubitze.)

Im Kulturteil unterhält sich Ines Kappert mit dem Schweizer Historiker Jakob Tanner, der von SVP-Computerspielen erzählt, in denen man Grüne "spitalreif" fahren kann. Tanner meint, dass man mit der SVP (Schweizerische Volkspartei) keine Regierungspolitik machen kann: "Insofern ist das Konkordanz-Prinzip als politisches Projekt faktisch an sein Ende gekommen. Die Frage lautet: Wird sich eine zukunftstaugliche Mitte-links-Koalition ohne SVP herausbilden oder kommt das ganze System durch die Obstruktionspolitik Blochers vollends ins Stottern? Das wäre dann das Ende der bürgerlich-liberalen Schweiz."

Weitere Artikel: In der zweiten taz hat Arno Frank bei der Präsentation von Robert Redfords "Von Löwen und Lämmern" nur "wohlfeile Sonntagsreden" gehört. Jenni Zylka macht sich auf, Bully Herbigs einfachen, aber erfolgreichen Humor auseinanderzunehmen. Und Jan Feddersen kommentiert den Boykottaufruf des Bischofs von Fulda, Heinz-Josef Algermissen, gegen das pädagogische Theaterstück "Nase, Bauch und Po".

Besprochen werden die Debütalben der DJs Chloe und Onur Özer sowie das von Alexander Horwath und Michael Omasta herausgegebene Buch zu einem verschwundenen Stummfilm "Josef von Sternberg - The Case of Lena Smith".

Und Tom.

FAZ, 26.10.2007

Eduard Erne, dessen 1994 entstandener Film "Totschweigen" den Geschehnissen um das Massaker auf Schloss Rechnitz nachging, erklärt im Interview mit Sandra Kegel, was Rechnitz von anderen Verbrechen unterschied: "Die Geschehnisse in jener Nacht, ebenso wie die Zwangsarbeiter, die in den folgenden Tagen auf die Todesmärsche durch die Dörfer Richtung Mauthausen geschickt wurden - das war die Shoa vor den Augen der österreichischen Zivilbevölkerung. Sie fand nicht in irgendwelchen fernen Lagern statt, sondern vor der eigenen Haustür. Man konnte es sehen, wurde Zeuge, jeden Tag. Auch in Rechnitz. Denn der Weg zum Bahnhof führt dort vorbei, wo gegraben wurde, wo in jener Nacht die Zwangsarbeiter erschossen worden waren. Deshalb war es für uns unbegreiflich, dass nach dem Krieg plötzlich niemand in Rechnitz wissen wollte, wo die Toten verscharrt wurden." Ob die Gräfin Batthyany an der Ermordung der 180 jüdischen Zwangsarbeiter beteiligt war, weiß aber auch Erne nicht: "Es gibt Gerüchte, Erpressungsversuche, aber keine Beweise." (Siehe auch unsere kommentierte Linksammlung zum Thema. Wäre es nicht eine gute Idee, den Film "Totschweigen" nochmal im Fernsehen zu zeigen? Es könnte sich als aktuelles Medium profilieren!)

Nachdem Herausgeber Frank Schirrmacher das Ereignis vorgestern mit Emphase vorbereitet hat, bereitet die Filmredakteurin Verena Lueken nun gelassen nach: Nach der Vorführung des Films "Von Löwen und Lämmern" trafen sich in trauter Runde Joschka Fischer, Regisseur Robert Redford und der Historiker Heinrich August Winkler, der avisierte Stefan Aust war erkrankt und wurde durch Gerhard Spörl ersetzt. Es sprachen aber fast ausschließlich, wie Lueken berichtet, Redford und Fischer: "So sagte Fischer als erstes zu Redford: 'Sie haben keinen antiamerikanischen Film gedreht', und meinte das als Lob. Hier trafen sich zwei, die, wie Redford es formulierte, entschieden in den Grauzonen unterwegs sind, statt sich in Schwarzweißschablonen zurückzuziehen."

Weitere Artikel: Dirk Schümer macht uns mit der in Italien von einem Historiker geäußerten skandalträchtigen Vermutung bekannt, dass die Stigmata des Padre Pio doch tatsächlich ein chemischer Trick gewesen sein könnten. In der Glosse präsentiert Regina Mönch die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von 1600 Kindern unter anderem zu ihrem Freizeitverhalten und zur Zufriedenheit mit den Eltern. Vom Widerstand der spanischen Konservativen gegen Al Gore und ihrem Zweifel am Klimawandel berichtet Paul Ingendaay. Alexander Cammann hat einer Diskussion zwischen Nike Wagner und Friedrich Dieckmann gelauscht. Jonas Beyer war auf einer Tagung des Karlsruher ZKM (Website) zum Thema "Where is Art Contemporary?", während Gerhard R. Koch der Institution zum zehnten Geburtstag gratuliert. Ein ungenannter Autor - mutmaßlich Joseph Hanimann - denkt in der Kolumne "Lexikalische Grenzgänge" über gute, böse, Neo- und andere Liberalismen nach. Reinhard Wandtner macht uns mit dem stark vom Aussterben bedrohten Braunkopfklammeraffen bekannt.

Besprochen werden Bully Herbigs Animationsfilm "Sissi und der wilde Kaiser", die Moskauer Uraufführung von Vladimir Sorokins Stück "Kapital" und Bücher, darunter Johannes Frieds "Zu Gast im Mittelalter" und Frank Goosens Roman "So viel Zeit" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Netzeitung, 26.10.2007

Das Netz ist in Aufruhr wegen des letzten Google-Dance, bei der wichtige Adressen im "PageRank" herabgestuft wurden. die Zeit ist von 7 auf 5 degradiert worden, die Netzeitung selbst von 7 auf 4. Die Netzeitung zitiert unter anderem den Blogger Rober Basic (mehr hier): "Google profitiert ohne Ende von der 'Arbeit' der Millionen von Websites, die untereinander milliardenfach verweisen. Und nun mag Google genau all diesen Seiten vorschreiben, von denen es sich ernährt, wie sie zu verlinken haben?"
Stichwörter: Google

SZ, 26.10.2007

Im Medienteil schildert Christopher Keil einen Fall von medialer Rückkopplung zur Verwirrung des Lesers. In der aktuellen Ausgabe des amerikanischen Nachrichtenmagazins Newsweek wird Angela Merkel in der aus mehreren Artikeln bestehenden Titelgeschichte als reformmüde Kanzlerin dargestellt. Die Meinungsstücke sind zum einen fast alle von Deutschen geschrieben. "Zu spitzer Feder griffen der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer ('Merkel lernt gerade, ihre radikale Reformagenda zu vergessen'), Zeit-Herausgeber Josef Joffe ('Ihre Hymne ist ein beruhigendes Wiegenlied') und Hugo Müller-Vogg, einst FAZ-Herausgeber, heute Bild-Kolumnist. 2004 hatte Müller-Vogg zwei Gesprächsbände (Mein Weg) vorgelegt mit Merkel. Jetzt fragt er: 'War sie jemals für Reformen?' Man kann das fragen. Am Dienstag dieser Woche übernahm Bild die Newsweek-Titelstory und machte im politischen Teil mit der Schlagzeile auf: 'US-Magazin nennt Angela Merkel verlorene Kanzlerin'. Doch fehlte der Hinweis, dass Bild-Mann Müller-Vogg zu den Kräften der Geschichte zählt."

Im Feuilleton erinnern Myriam Richter und Hans-Harald Müller an Paul Zech, der in der Weimarer Republik eine Karriere vom Lyriker, Romancier, Biograf und Übersetzer bis hin zum flüchtigen Bücherdieb hinlegte. Helmut Böttiger, war dabei, als Robert Redford, Tom Cruise und Joschka Fischer Redfords neuen Bush-kritischen-Film "Von Löwen und Lämmern" in Berlin vorstellten. Reinhard J. Brembeck wundert sich, dass die von den Münchner Philharmonikern geplante Aufführung eines Sextetts des antisemitischen Komponisten Hans Pfitzner im Jüdischen Gemeindezentrum in München keine Proteste wie bei Ingo Metzmachers jüngstem Pfitzner-Versuch hervorruft. Andrian Kreye versteht nur zu gut, warum Menschen vorzugsweise in kalifornischen Katastrophengebieten wohnen und auch nicht aus Schäden klug werden. Bert Hoppe fürchtet um das Moskauer Hotel Lux, ehemaliges Gasthaus für berühmte politische Emigranten und Kandidat für eine Totalsanierung.

Besprochen werden die von Berlin nach München gewanderte Ausstellung "Königsgräber der Skythen" in der Hypo-Kunsthalle, der mit drei "intelligenten" Aufführungen gelungene Saisonauftakt im Theater Bochum, Mozarts Oper "Mitridate" in der Version von Robert Carsen an der Brüsseler Oper, Britney Spears' Album "Blackout", und Bücher, darunter Gert Uedings literarischer Kalender "Abenteuer im Wirklichen oder Die Gegenwart unserer Klassiker" und Dirk von Petersdorffs Vatererlebnisse "Lebensanfang. Eine wahre Geschichte".