Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2006. In der Berliner Zeitung skizziert Andrej Nekrassow den Unterschied im Leben der russischen Dissidenten einst und jetzt: Vor dem Fall des sowjetischen Imperiums genossen sie noch die Sympathien des Westens. In der taz empfindet Ilija Trojanow Deutschland nach der Rückkehr aus China als schmerzhaft unterbevölkert und friedhöflich sediert. In der NZZ erklärt Hans Maarten van den Brink, wie sich die Niederländer mit dem Mittel der Ironie gegen das Fremde wehren. In der Welt erzählt Tom Waits, was er auf Reisen in den Koffer packt.

NZZ, 22.11.2006

Heute wird in den Niederlanden gewählt. Der Schriftsteller Hans Maarten van den Brink skizziert die Stimmung nach einem etwas müden Wahlkampf, und er resümiert die niederländischen Diskussionen zu Ian Burumas Buch über den Mord an Theo van Gogh, das die weltberühmte Toleranz des Landes in Frage stellt: "Auf den ersten Blick scheint das Fehlen von formellen Verhaltensregeln den Zugang zu erleichtern, doch dahinter verbirgt sich ein informeller Kodex, auf den man unvermeidlich nach einer gewissen Zeit stößt. Ironie spielt sowohl im persönlichen wie im öffentlichen Gespräch auffallend häufig eine Rolle. Das ist kein Zufall: Der Ironiker ist doch definitionsgemäß überlegen, und wer sich von ihm verletzt fühlt, beweist lediglich, dass er das Spiel nicht beherrscht. Vor allem Neuzuzüger leiden unter der Heimtücke dieser ungeschriebenen Normen."

In seiner Besprechung des neuen James-Bond-Films springt Andreas Maurer dem im Vorfeld viel gescholtenen Hauptdarsteller Daniel Craig bei: "Dieser offiziell sechste 007 ist der erste seit Sir Sean Connery, dem man den Martini-gekühlten Killer ebenso abnimmt wie den Ladykiller - obschon er nackt auf einen Stuhl gefesselt (wenn in der berüchtigten Folterszene seine 'Kronjuwelen' grün und blau gepeitscht werden) eine bessere Figur abgibt als im maßgeschneiderten Smoking."

Weiteres: Peter W. Jansen verabschiedet "Amerikas Balzac", den am Montag verstorbenen Regisseur Robert Altman. Und Peter Oswald gratuliert dem Dirigenten Hans Zender zum Siebzigsten.

Außerdem werden Bücher besprochen, darunter eine kunsthistorisch-kriminalistische Spurensuche an einem Bild Piero della Francescas, eine Studie über Dantes Jenseitsreise sowie der neu herausgebrachte Roman "Der Meister des Jüngsten Tages" von Leo Perutz (mehr dazu wie immer in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 22.11.2006

Michael Althen macht aus seiner Verachtung für das Genre der Bond-Filme keinen Hehl: "Bond war etwas für Jungs, die auf der Straße stehenbleiben, wenn irgendwo ein roter Sportwagen parkt, und anfangen, mit Wildfremden über Hubraum zu fachsimpeln. Für Jungs, die den Playboy nicht nur unter der Bettdecke gelesen haben, sondern auch später noch daraus ihre Anregungen bezogen haben. Um es kurz zu machen: Bondfilme waren hauptsächlich etwas für Leute, die sonst mit dem Kino nichts am Hut hatten."

Weitere Artikel: Der "glückliche Arbeitslose" Guillaume Paoli ist jetzt auch ein über die Klimaveränderung unglücklicher Soziologe und fordert im Aufmacher eine Revolution, um die kommende Apokalypse doch noch zu stoppen. Christian Geyer mokiert sich in der Leitglosse über das Metapherngestrüpp in Horst Köhlers Rede zum fünfzigsten Jubiläum des Deutschen Presserats. Jürgen Kaube sieht in der Mode der Gewalt in Kunst und Medien durchaus eine Inspirationsquelle für jugendliche Amokläufer. Jordan Mejias meldet, dass Rupert Murdoch höchstselbst den Verkauf des Buchs "If I Did It" von O.J.Simpson sowie die Ausstrahlung von Simpson-Interviews in dem ihm unterstehenden Medienimperium gestoppt hat. Dieter Bartetzko berichtet über die Wiederentdeckung gotischer Fresken mit Lebensbildern der heiligen Elisabeth im Erfurter Nikolaiturm. Karol Sauerland berichtet über den Umgang der polnischen Kirche mit Stasi-Akten. Julia Bähr verfolgte ein Treffen literarischer Kleinverlage in München. Auf einer ganzen Seite wendet sich der Architekt Christoph Mäckler gegen ein Projekt seines Kollegen Coop Himmelb(l)au, der in Frankfurt die ehemalige Großmarkthalle von Martin Elsaesser aus den späten zwanziger Jahren mit einem Neubau seinerseits durchbohren will. Abgedruckt wird auch ein Protestbrief der Elsaesser-Erben. Jürgen Kaube gratuliert dem Romanisten Karlheinz Stierle und Gerhard Rohde dem Komponisten Hans Zender zum Siebzigsten.

Für die Medienseite verbrachte Jochen Hieber einen Tag mit 3sat. Gemeldet wird, dass der russische Journalist Boris Stomachin wegen kritischer Äußerungen zum Tschetschenienkrieg zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Auf der letzten Seite schildert Oliver Jungen den Kampf Julius H. Schoeps' um ein Picasso-Gemälde, das einst seinem Großonkel Paul von Mendelssohn-Bartholdy gehörte. Wolfgang Sandner resümiert neue Diskussionen um die Berliner Opernstiftung. Und Heinrich Wefing porträtiert den neuen Berliner Kulturstaatssekretär Andre Schmitz.

Besprochen werden zwei Bücher, Peter Urbans "Ansichten zur russischen Literatur" und ein Band über den Architekten Thomas Lechner (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 22.11.2006

Auf der Meinungsseite ärgert sich Autor Ilija Trojanow über einen "bekannten Magazinjournalisten und Bestsellerautor", der in den Nachrichten die Angst vor einem Aufstieg Chinas schüre (wir tippen mal Gabor Steingart). "Wer aber dieser Tag selbst nach China reist, wird das Land, das sich hinter unseren Verflachungen erhebt, nicht wiedererkennen. In den großen Städten ist ein Pionier- und Kampfgeist spürbar, der den westeuropäischen Besucher überwältigt und vielleicht auch ein wenig beschämt, und bei der Rückkehr nach Deutschland wirkt dieses Land schmerzhaft unterbevölkert und friedhöflich sediert. Die Chinesen sind ernsthaft dabei, die kleinen Chancen, die sich ihnen bieten, zu nutzen, sie haben offenkundig keine Zeit für Mittelmäßigkeit, Jammerei oder Resignation."

Weitere Artikel: Tilman Baumgärtel berichtet in einem Brief aus Manila vom Versuch der philippinischen Präsidentin Arroyo, den Bürgermeister von Makati Jejomar Binay aus dem Amt zu jagen. Für Brigitte Werneburg belegte der von Kulturminister Neumann initiierte "Raubkunst"-Gipfel vor allem "die Unfähigkeit der Länder, ihrem Anspruch auf Kulturhoheit gerecht zu werden".

Besprochen werden die Memoiren von John Peel und der neue Bond-Film mit Daniel Craig, der das Zeug zur Schwulenikone zu haben scheint: "Die Szene jedenfalls, in der er in knapper Badehose aus den Tiefen des Meeres steigt, hat das Zeug zur Ikone: halb Zuckerbäcker, halb Bodybuilding, selten sah ein Bond dermaßen nach Fleisch aus."

Schließlich Tom.

Welt, 22.11.2006

Im Interview mit Michael Tschernek erklärt Tom Waits, wie er Lieder für ein neues Album wie "Orphans" auswählt: "Das ist ungefähr so wie beim Kofferpacken für eine Reise. Du weißt , was du auf jeden Fall benötigst, aber du musst auch vorbereitet sein. Möglicherweise bleibst du länger weg als geplant und brauchst Sachen für unterschiedliche Witterungsbedingungen. Du brauchst Deine Nagelfeile, deine Luger-Pistole, deinen Glenlivet-Whiskey, deine Gitanes-Zigaretten, deine Enzyklopädie, deinen Thesaurus und deine Bibel."

Als "Karussell, bei dem die Bremsen versagen" bezeichnet Peter Dittmar die Debatte um die Restitution von Raubkunst und kommentiert nüchtern das Gipfeltreffen bei Kulturstaatsminister Bernd Neumann: "Wer geglaubt hatte, der Expertenrunde bei Staatsminister Neumann fiele ein, wie man die Fahrt, wenn schon nicht bremsen, so zumindest verlangsamen könne, hielt am Ende nur eine Pressemitteilung des guten Willens in der Hand." Eckhard Fuhr bilanziert zudem Neumanns erstes Jahr im neuen Amt: "Er war in den Verteilungskämpfen um Haushaltsmittel überraschend erfolgreich. Als erfolgreicher Sachwalter der Kultur wird Neumann geschätzt. Was ein wenig fehlt, sind Bühnenqualitäten. "

Weiteres: Hanns-Georg Rodek meldet den Tod des wunderbaren Regisseurs Robert Altman. Stefan Kirschner spekuliert, wie der Regierende Kultursenator Klaus Wowereit auf Thomas Oberender reagieren wird, den Noch-Kultursenator Thomas Flierl als letzte Amtshandlung zum Intendanten für das Deutsche Theater gekürt hat. Wieland Freund sorgt sich um die Lesekompetenzen deutscher Jugendlicher: "Zwanzig Prozent der 15-jährigen Jugendlichen, so schätzen Experten, stehen derzeit an der Schwelle zum so genannten sekundären Analphabetismus." Elmar Krekeler begrüßt den Autor Richard Powers, der auf eine Lesetour nach Deutschland kommt. Und Klaus Honnef preist den Band "Life" des Naturfotografen Frans Lanting.

FR, 22.11.2006

Die Kunst hat's schwer. Jetzt will auch Marlene Streeruwitz der Inszenierung von Jelineks Stück "Ulrike Maria Stuart" an den Kragen, berichtet Peter Michalzik. "In seine Aufführung hat der Regisseur Nicolas Stemann Passagen aus einem Interview montiert, das Jelinek und Streeruwitz im Mai 1997 gemeinsam der Zeitschrift Emma gaben und das bis heute im Internet frei zugänglich ist. Stemann hat diese Passagen im Stil der 'Vagina-Monologe' von Eve Ensler auf die Bühne gebracht. Es sprechen zwei Frauen miteinander, die durch eine riesige Plüschspalte herausschauen. An dieser Passage hat sich Marlene Streeruwitz, die die Aufführung nicht gesehen hat, gestoßen. Sie empfinde das als 'würdelos' und 'Verdinglichung', sagte sie dpa. 'Ich will so nicht vorkommen.' Es werde suggeriert, 'meine Person und meine Arbeit als Autorin seien ein kopfloses Sprechen aus dem weiblichen Sexualorgan.'" Streeruwitz hat einen Anwalt eingeschaltet. Zuvor hatte Bettina Röhl (homepage) versucht, die Aufführung wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte verbieten zu lassen.

Weitere Artikel: Florian Kessler beschreibt die Aufregung in den USA über den neuen Roman von Thomas Pynchon, "Against the Day". Angelica Ammar spricht im Interview über ihren Debütroman "Tolmedo", für den sie heute mit dem Förderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet wird. In Times Mager denkt Ina Hartwig über den Amokläufer Bastian B. nach. Und Daniel Kothenschulte schreibt den Nachruf auf den Regisseur Robert Altman.

Berliner Zeitung, 22.11.2006

Im Interview fordert Andrej Nekrassow, ein Freund des vergifteten Ex-Spions Alexander Litwinenko, Hilfe für die immer bedrängteren russischen Dissidenten an: "Im Kalten Krieg war es viel einfacher. Da war die Sowjetunion ein ideologischer Gegner. Die westlichen Demokratien unterstützten materiell und ideell die Dissidenten. Ganz klar. So einfach macht es die Mannschaft Putins dem Westen nicht. Sie hat keine Ideologie... Es gibt eine Zivilgesellschaft in Russland, die unter dem neuen Gesetz über die Nicht-Regierungsorganisationen ums Überleben kämpft. Sie braucht Unterstützung. Vor allem sollte der Westen öfter die Wahrheit aussprechen. Dort trauert man über Anna Politkowskaja, aber man scheut sich zu wiederholen, was sie beispielsweise gesagt hat: Tschetschenien ist schlimmer als Kosovo."

SZ, 22.11.2006

O.J. Simpsons Buch darüber, wie er den Mord an seiner Frau und deren Freund begangen hätte, wird kurz vor dem Erscheinen eingestampft, das begleitende Fernsehinterview nicht ausgestrahlt. "If I Did It" hat sogar die gut geölte Verwertungsmaschinerie innerhalb von Rupert Murdochs News Corporation ins Stocken gebracht, staunt Andrian Kreye. "Der Starmoderator von Fox News, Bill O'Reilly, bezeichnete das Projekt als 'unentschuldbar und einen Tiefpunkt der amerikanischen Kulturgeschichte'; seinen Zuschauern empfahl er, sich 'diesen Müll' nicht anzusehen, und kündigte sogar an, er werde jedes einzelne Produkt boykottieren, für das während des Interviews Werbung geschaltet würde. Ein weiterer berühmter Moderator der Sendergruppe, Geraldo Rivera, versprach, er werde das Projekt bei jeder denkbaren Gelegenheit schlecht machen. Mehrere Fox-Sender meldeten, sie würden das Interview in ihrem Sendegebiet nicht ausstrahlen." Einzelheiten gibt es bei Wikipedia.

Weiteres: Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht mit Sonja Zekri über den Amoklauf des Sebastian B., Anerkennungsbilanzen und die gefährliche Vereinzelung der Moderne. Ijoma Mangold hält Amokläufer für unvermeidlich in einer Gesellschaft, die nicht immer jedem auf zivile Weise die gewünschte Aufmerksamkeit zukommen lassen kann. Tobias Kniebe schreibt zum Tod des Filmregisseurs Robert Altman, der für ihn immer mit den Siebzigern und "M.A.S.H." verbunden sein wird. Peter Laudenbach kolportiert, dass Berlins scheidender Kultursenator Thomas Flierl angeblich Thomas Oberender als nächsten Intendanten des Deutschen Theaters engagiert hat. Stefan Koldehoff gibt sich mit den bei den Berliner Restitutionsgesprächen abgegebenen Absichtserklärungen zufrieden. Der Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels geht an Mihail Sebastians Tagebücher "Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt", weiß Elisabeth Bauschmid.

Der neue James Bond-Streifen "Casino Royale" beschäftigt das Feuilleton natürlich auch: Fritz Göttler gibt Daniel Craig sein Placet, Tobias Kniebe würdigt Chris Cornells Titelsong immerhin als "gegenwärtig" und Susan Vahabzadeh seufzt über den Hang zur Wirklichkeit im aktuellen Geheimdienstgeschäft.

An Büchern werden besprochen: Johann Willsbergers Prachtbände "Die Bilder vom Wein", Ludger Lütkehaus' Gedanken über die "Natalität" und Askold Melnyczuks Roman "Mindestens tausend Verwandte" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).