Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.11.2006. In der SZ erklärt der russische Regisseur Andrej Nekrassow, weshalb in Russland ein extremer Nationalismus sowohl von rechts wie von links derzeit "cool, sogar modern" ist. Die taz greift die Spezifizierung der Küchengeräte kritisch auf. Die Welt schildert Reaktionen auf Thomas Pynchons neuen Roman "Against the Day", der offensichtlich einem Toaster ähnelt, nur dass unklar ist, was rauskommt. In der FR schreibt Najem Wali eine Hymne auf Orhan Pamuks neuen Roman "Istanbul". In der FAZ weist der Religionswissenschaftler Karl-Heinz Ohlig anhand von Münzfunden nach, dass der Islam ursprünglich eine Art christliche Sekte war.

TAZ, 21.11.2006

Brigitta Grabin berichtet über die Vorbereitungen in Sibiu/Hermannstadt auf die Rolle als Europäische Kulturhauptstadt 2007, was in Rumänien auch als eine Art "Generalprobe zur vollberechtigten EU-Mitgliedschaft" verstanden wird. Wie kam es überhaupt dazu? "Bei der Entscheidung des EU-Kulturministerrates spielte die gemeinsame Geschichte Siebenbürgens mit Luxemburg eine Rolle - die ersten Siedler im 12. Jahrhundert kamen aus Luxemburg -, aber auch die Tatsache, dass Hermannstadt schon seit Jahren als 'Wirtschaftswunder in den Karpaten' gilt. Nicht zuletzt dank des rumäniendeutschen Bürgermeisters Klaus Johannis, der es geschafft hat, innerhalb der letzten sechs Jahre das Haushaltsvolumen der Stadt zu verfünffachen."

Wolfgang Ullrich fragt sich, welche Funktion eigentlich all die modernen Küchengerätschaften haben. Aber eigentlich kann einem das auch egal sein: "Je intensiver jemand seine Küchenarbeit erfährt, desto mehr Zuwendung zu anderen Menschen darf er oder sie sich also unterstellen. Aus der Liebe zum Detail, die all die ausdifferenzierten Küchengeräte verkörpern, lässt sich direkt auf die Liebe zu denen schließen, die man bekocht. Und so darf sich rundum als gerecht und sozial vorbildlich fühlen, wer seine Küchenregale voll mit diversem Zubehör hat."

Kerstin Fritzsche stellt den Hamburger mairisch Verlag vor, der eine Anthologie von Arbeiten der freien Hörspielszene herausgeben will. In tazzwei ist ein Interview mit Bärbel Wartenberg-Potter zu lesen, einer der Unterstützerinnen einer "Bibel in gerechter Sprache", welche die Frauen im Christentum sichtbar machen möchte.

Auf der Tagesthemenseite gibt es außerdem ein ausführliches Interview mit Marianne Birthler zur gekippten Novellierung des Stasiunterlagengesetzes.

Besprochen werden die beiden Ausstellungen zum Werk von Hans Haacke in den Hamburger Deichtorhallen und der Berliner Akademie der Künste.

Schließlich Tom.

NZZ, 21.11.2006

Wagnerianisches zum Abschluss des Mozartjahrs berichtet Peter Hagmann aus Amsterdam: Dort ist die Nederlandse Opera auf die Idee gekommen, "Le nozze di Figaro", "Don Giovanni" und "Cosi fan tutte" als "Mozart-Trilogie an drei aufeinanderfolgenden Abenden herauszustemmen. Von Mozarts 'Ring' war da bald die Rede; da blieb zunächst nur ungläubiges Staunen." Und nach dem Staunen das Schwärmen: "Ein kapitales Opernereignis, wie es nur wenige Häuser vorweisen können. Gelobt sei das Mozart-Jahr 2006."

Ähnlich spektakulär ("wie ein Ozeanriese in einem Fischereihafen") ist die erste Ausgabe der Singapore Biennial geraten, staunt Samuel Herzog. "Es gibt jedoch offensichtlich auch noch ganz andere Pläne. Etwa jene für ein Spielkasino mit dazugehöriger Shopping-Mall und Schauräumen für Kunst aus großen Museen der Welt - bereits sollen Vertreter der Guggenheim Foundation und des Centre Pompidou für Vorverhandlungen eingeflogen worden sein. Auch lebende Wale soll man in diesem neuen Komplex bestaunen können."

Weiteres: Denken kann zu Trauer und Melancholie führen, warnt Martin Meyer in einem "Lesezeichen" über ein neues Buch des Essayisten George Steiner. Paul Jandl hat eine Literaturausstellung über "Flüssigtexte" im Linzer Stifterhaus besucht.

Besprochen werden ein Kammermusikkonzert des Trio Caleidoscopio in Zürich und Bücher, darunter Lydie Salvayres Roman "Milas Methode", eine Studie von Hubertus Adam über die Landschaftsarchitekten Stefan Rotzler und Matthias Krebs und Paulus Hochgatterers Roman "Die Süsse des Lebens" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 21.11.2006

Der Saarbrückener Religionswissenschaftler Karl-Heinz Ohlig fordert eine historisch-kritische Islamwissenschaft, die es seiner Auskunft nach bisher nur in Ansätzen gibt. Er selbst legt mithilfe von Münzfunden dar, dass der Islam womöglich zunächst nur eine Art christliche Sekte war: "Muhammad heißt 'der zu Preisende' oder 'Gepriesene'" (benedictus); gemeint ist nach der Gestaltung der Münzen Jesus. (...) Muhammad war demnach also ursprünglich ein christologischer Titel, wie auch die Prädikate Knecht Gottes ('abd-allah), Prophet, Gesandter, Messias. Das Prädikat muhammad hat sich später von seinem Bezugspunkt Jesus gelöst und wurde in der Gestalt eines arabischen Propheten mit dem Namen Mohammed historisiert, der zweite Titel 'abd-allah wurde zum Namen des Vaters des Propheten; diese Historisierung eines christologischen Prädikats erfolgte schon in der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts. Gegen Ende des achten und im frühen neunten Jahrhundert, als sich die koranische Bewegung als eigenständige Religion, als Islam, etablierte, wurde Mohammed zum Stifter dieser Religion, und die Geschehnisse wurden in die Heimat der Araber verlegt."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube kommentiert die Nachricht, dass Finanzbehörden die Auskunftsbegehren ihrer Untertanen künftig mit einer Gebühr nicht unter hundert Euro ahnden. Patrick Bahners meldet, dass der Berliner Innensenator Erhart Körting die Kreuzberger Randalierer entgegen anders lautenden Meldungen niemals als Mob bezeichnet haben will. Josef Oehrlein berichtet von der Kunstbiennale in Sao Paolo. Edo Reents schreibt zum Tod der R & B-Sängerin Ruth Brown. Gina Thomas meldet, dass ein Dramolett George Bernard Shaws wieder aufgefunden wurde. Dirk Schümer stellt einen niederländischen Comic vor, der den Tod der niederländischen Thronfolgerin Juliana im Jahr 1938 als Nazi-Attentat rekonstruiert. Michael Gassmann verfolgte eine Münchner Tagung über das Berufsbild des katholischen Priesters.

Auf der Medienseite führt Michael Hanfeld ein erstes Interview mit der neuen WDR-Intendantin Monika Piel, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch in digitalen Zeiten verteidigen und sich für die Integration muslimischer Mitbürger einsetzen will. Oliver Jungen berichtet recht skeptisch über eine heute laufende Verdun-Dramatisierung aus dem Hause Guido Knopp im ZDF. Und Michael Hanfeld gratuliert dem Deutschen Pressererat zum Fünfzigsten.

Auf der letzten Seite berichtet Markus Meller von einer Reise deutscher Schriftsteller nach China. Martin Kämpchen schreibt, dass die Debatte um den Gesichtsschleier nun auch in Indien angekommen ist. Und Paul Ingendaay porträtiert die amerikanisch-mexikanische Sängerin Lila Downs.

Besprochen werden ein "Don Giovanni" unter Ingo Metzmacher und den Regisseuren Jossi Wieler und Sergio Morabito in Amsterdam, eine CD von Rocksänger Jarvis Cocker und, ein Auftritt der Rockband Tool in München.

FR, 21.11.2006

In einer Eloge auf den diesjährigen Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hält der irakische Schriftsteller Najem Wali Pamuks neues Buch "Istanbul" (wird morgen in der FR besprochen) für eine Art nachträglichen Beweis für die Richtigkeit der Entscheidung des Komitees "künstlerische Leistung und politisches Engagement gleichermaßen zu würdigen". "Jedes Wort, das er schreibt, ist durchdrungen vom Leuchten dieser Stadt, jede Geschichte, die er erzählt, birgt die Geschichte eines ganzen Landes in sich, jedes Buch, das er verfasst, enthält den Wissensschatz eines ganzen Kontinents, und jedes Wissen, das er weitergibt, malt uns historische Miniaturen der ganzen Welt in all ihrer Schönheit, ihren Verflechtungen, ihren Schmerzen und ihrer Trauer, die sich nicht als 'typisch orientalisch' oder 'typisch westlich' abstempeln lässt. Wer Pamuks Werke gelesen hat, wird nicht mehr davon ablassen können, sich jenseits von Europa, auf der anderen Seite des Bosporus, auf die Suche zu begeben."

Peter Michalzik berichtet über die nächste Runde im bisher "allein über die Presse" ausgetragenen "strategischen Spiel" zwischen dem Suhrkamp Verlag und den beiden neuen Minderheitseignern des Frankfurter Verlags; demnach will Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz Strafanzeige gegen Neueigner Claus Grossner stellen, weil er sie der Veruntreuung von Verlagsvermögen bezichtigt habe. Harry Nutt kommentiert den Restitutionsgipfel, zu dem Kulturstaatsminister Bernd Neumann gestern ins Kanzleramt geladen hatte. Und in Times mager meldet Stefan Behr Protest zum neuen Bond-Film an, in dem 007 skandalöserweise pokere statt "Baccarat chemin de fer. Punkt, aus, basta!" zu spielen.

Besprochen werden die Ausstellung "Bin beschäftigt" in der Gesellschaft für Aktuelle Kunst in Bremen und "das einzige, wirklich ambitionierte, außerösterreichische Großunternehmen" zum Mozartjahr: "Mozart extra" in der Niederländischen Oper in Amsterdam (hier).

Welt, 21.11.2006

Uwe Schmitt versammelt erste Kritikerreaktionen auf Thomas Pynchons neuen 1185 Seiten starken Roman "Against the Day", der heute erscheint. Es herrscht offenbar gehobene Ratlosigkeit: "Die Washington Post sieht den Geist der Marx Brothers über dem Roman schweben. Time misst das Gewicht, 'drei Pfund, sechs Unzen', an einem Toaster, der immerhin Toast herstelle; was bei 'Against The Day' herauskomme, sei höchst unklar. In Newsweek gesteht der Kritiker, dass er nunmehr nach 400 Seiten genug Notizen für ein Buch habe und daher beschlossen habe, in Fortsetzungen zu rezensieren. Er wolle der treue Sherpa des Lesers sein, 'aber auch ich war noch nie auf dem Gipfel dieses Romanberges'." Der Kritiker von Newsday dagegen meint, das Buch sei "brillant, auf manche Weise blöde, 'sehr wenige Menschen werden es zu Ende lesen'. Er habe den Roman, 'erregend, entnervend und erschöpfend wie alle seine anderen Romane zusammen', in wenigen Tagen verschlungen und könne die Erfahrung nicht empfehlen. Um die Seite 800 habe er das Gefühl gehabt, 'dass mein Gehirn versucht, sich aus meinem Schädel zu kratzen'."

Für den "besten Bond seit Jahren" hält Peter Zander "Casino Royale", schon allein weil seine Macher gewagt haben, alte Erfolgsformeln anzutasten: "Alles ist noch etwas ruppiger und dreckiger als gewohnt. Selbst die Schleichwerbung kommt etwas plumper daher: 'Ist das eine Rolex?' wird er einmal auf seine Uhr angesprochen: 'Nein, Omega.'"

Weiteres: Hanns-Georg Rodek verabreitet die Meldung, dass der Pinguin-Film "Happy Feet" an den US-Kassen den neuen James-Bond-Film übertrumpft. Gerhard Gnauck berichtet von dem Vertreibungsstück "Transfer", mit dem sich das Breslauer Teatr Wspolczesny gerade jede Menge Ärger in Warschauer Regierungskreisen einhandelt. Lars-Broder Keil war auf einer Tagung über Parallelen in der deutsch-deutschen Geschichte. Besprochen werden die zum Ausklang des Mozart-Jahrs von Jossi Wieler und Ingo Metzmacher in Szene gesetzten drei Da-Ponte-Opern in Amsterdam und die Rammstein-DVD "Völkerball".

SZ, 21.11.2006

Der russische Regisseur Andrej Nekrassow (mehr hier) erklärt, weshalb in Russland ein extremer Nationalismus sowohl von rechts wie von links derzeit "cool, sogar modern" sei und warum er so gefährlich ist. "Die stümperhafte Demokratisierung Russlands in den neunziger Jahren war für die meisten Russen eine historische Enttäuschung. Nicht nur, weil sie zu einer beispiellosen sozialen Ungleichheit geführt hat, sondern auch weil der Westen alle humanistischen Prinzipien aufgab und die neue Oligarchie kritiklos begrüßte... Während Putin seinen Balanceakt weiterführt, während eine humanistische Demokratie keine Anhänger hat, der Nationalismus aber sehr viele, ist eines klar: Es werden noch mehr unschuldige, mutige Menschen sterben. Wie Anna Politkowskaja, wie, um ein Haar, Alexander Litwinenko. Die Faschisten töten und die spektakuläre Straflosigkeit ihrer Taten macht Putin zu ihrem Komplizen. Sie töten, um zu sehen, wie er jede Scham verweigert. Sie töten, um einen Kameraden zu prüfen, bevor es ernst wird. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Putin diesen Test bestanden hat."

In einem aus Le Monde übernommenen Interview spricht der amerikanische Schriftsteller Jonathan Littell ausführlich über seinen Roman "Les Bienveillantes", die erfundene Lebensbeichte eines SS-Offiziers, der in Frankreich ein Sensationserfolg war, aber auch kritische Einwände hervorrief. So habe etwa Regisseur Claude Lanzmann befürchtet, "dass die meisten Leute den Holocaust nur noch durch die Linse meines Buches sehen werden. Das Gegenteil ist wahr. Seit mein Buch erschienen ist, wurden die Standardwerke von Raoul Hilberg und Lanzmann wieder mehr verkauft." (Hier das Original-Interview)

Zu lesen ist auch eine leicht gekürzte Fassung der Dankesrede, die Ingo Schulze anlässlich der Entgegennahme des Peter-Weiss-Preises letzte Woche hielt. Oliver Herwig stellt die neue Alu-Edition von Coca-Cola vor, die sich offenbar vor allem bestens als Blumenvase eignet. In der Kolumne Zwischenzeit betreibt Hermann Unterstöger wieder unterhaltsame Sprachkritik. Und Alexander Kissler würdigt in einem Nachruf den Synchronsprecher und Vorleser Achim Höppner.

Besprochen werden der Mozart-Dreierpack "Cosi fan tutte", "Don Giovanni" und "Le nozze di Figaro" der Amsterdamer Oper, Rudolf Thomes neuer Film "Rauchzeichen", eine Ausstellung des Deutschen Architekturzentrums Berlin, die die eritreische Hauptstadt Asmara als Afrikas heimliche Hauptstadt der Moderne präsentiert, eine Aufführung von drei frühen Einaktern Hans Werner Henzes und der Roman "Vier Farben der Treue" von Lea Singer (mehr dazu in unserer Bücherschau das Tages ab 14 Uhr).

Außerdem hat die SZ heute eine dicke Literaturbeilage, die wir in den nächsten Tagen auswerten werden.