Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2006. In der Zeit will Günter Grass Peter Handke keinen Geniebonus gewähren. Dort fragt auch die Architektin Zaha Hadid: "Müssen Häuser auf der Erde stehen?" In der WeltAngriff beschreibt Wojciech Kuczok die polnische Liebe zum misslungenen Angriff. Die SZ begrüßt den Richtigmacher Matthias Hartmann als neuen Intendanten der Wiener Burg. Die NZZ sorgt sich um die ästhetische Erziehung deutscher Schüler. Die taz berichtet vom üblen Schicksal des Bauern Fu Xiancai, der es wagte, den Drei-Schluchten-Staudamm zu kritisieren. Und die FR schwört auf Justine Electra.

Zeit, 14.06.2006

Im Gespräch mit Christof Siemes weist Nobelpreisträger Günter Grass darauf hin, dass Peter Handke kein ganz unwürdiger Heine-Preisträger gewesen wäre: "Heine ist - wie Goethe übrigens auch - bis zu seinem Tod ein Anhänger Napoleons gewesen. Der Schrecken und der Terror, die Napoleon verbreitet hat, wie er die Armeen auf dem Weg nach Russland verheizt hat - das zählte bei seinen Bewunderern alles nicht. Nach heutigen Gesichtspunkten, unter denen man Handke wegen seiner unsinnigen, einseitigen Parteinahme für Serbien verurteilt, könnte man auch Heine verurteilen.... Handke hat immer die Neigung gehabt, mit den unsinnigsten Argumenten eine Gegenposition einzunehmen. Was ich an der gegenwärtigen Diskussion ablehne, ist diese Relativierung. Als könne man Schriftstellern das Recht auf Irrtum als eine besondere Gnade zugestehen. Botho Strauß hat etwas in dieser Richtung gesagt... Ich lebe ungern damit, dass man Schriftstellern eine Art Geniebonus zuspricht, der ihnen dann erlaubt, den größten und gemeingefährlichsten Unsinn mitzumachen."

In der Leitglosse ärgert sich Iris Radisch über die Herablassung, die dem Düsseldorfer Stadtrat von allen Seiten entgegengebracht wurde: "Er wurde verspottet als dreiste, illiterate Spießertruppe mit unaussprechlichen Doppelnamen, der ein Urteil über das entfesselte Denken großer Männer nicht zustünde. Der große Dichter Botho Strauß ging sogar so weit, die kleine Meinung solcher Leute mit den abschreckendsten, hier nicht weiter zu verbreitenden Vokabeln aus dem Wörterbuch des Herrenmenschen niederzumachen. Und fand damit Beifall."

Im Gespräch mit Hanno Rauterberg plaudert die Architektin Zaha Hadid über ihr vulkanisches Temperament, babylonische Ursprünge und ihre Vorliebe für die russische Avantgarde des 20. Jahrhunderts: "Das wurde ja nie richtig ausprobiert. Damals hoffte man auf einen neuen Anfang, es sollte eine Architektur entstehen, die sich von den Zwängen löst und alles infrage stellt. Müssen Häuser auf der Erde stehen? Können sie auch schweben? Was ist eine Wand? Was ist der Fußboden? Müssen wir dem Diktat des rechten Winkels folgen, oder können wir auch die übrigen 359 Grad für uns erschließen?"

Weiteres: Der frühere Herausgeber der Berliner Zeitung Erich Böhme fordert von den neuen Inhabern des Blattes eine Rücknahme der überhöhten Renditeauflage. Klaus Harpprecht gibt demografische Entwarnung: "Natürlich sterben die Deutschen nicht aus. Sie werden sich nur - in dieser Ära einer neuen Völkerwanderung - durch die Ansiedlung der Kinder anderer Kulturen, Religionen und Sprachen verändern." Helmut Schmidt warnt vor der Verschandelung der Hamburger Innenstadt durch die geplante Bebauung des Domplatzes. Claus Spahn schreibt den Nachruf auf den Komponisten György Ligeti: "Ein Verlust, der schmerzt." Elena Lappin zeigt Ermüdungserscheinungen im Match gegen Harald Martenstein. Und Claudia Herstatt bereitet auf die heute beginnende Art Basel vor.

Besprochen werden Yolande Moreaus und Gilles Portes Film "Wenn die Flut kommt", Wolfgang Koeppens "Jugend" als Hörbuch sowie das neue Album von Elvis Costello und Allen Toussaint "The River in reverse".

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Dorothea Dieckmann den Briefwechsel zwischen Wolfgang Koeppen und Siegfried Unseld. Für das Dossier ist Johannes Voswinkel durch die Ukraine gereist. Und über das ganze Blatt verteilt finden sich Artikel zur Frage "Was ist männlich?".

Welt, 14.06.2006

Vor dem WM-Spiel Deutschland gegen Polen grämt sich der polnische Autor Wojciech Kuczok gar schrecklich: "Es ist traurig, während dieser Weltmeisterschaft Pole zu sein. Es ist ein Albtraum, sich davon überzeugen zu müssen, dass wir den schlechtesten Fußball der Welt spielen... Vielleicht können die Polen deshalb nicht Fußball spielen, weil sie darin kein Spiel sehen? Wie kann man über den Flügel angreifen, wo doch der Angriff misslingen und als Parodie einer polnischen Kavallerieattacke erscheinen könnte; wie kann man einen Schuss riskieren, wenn dessen Scheitern die Erinnerung an die Leistungen der polnischen Flieger in der Royal Air Force unterminieren dürfte? Auch die Deutschen sind nicht gerade Meister der nationalen Selbstironie. Doch anstatt über das Spielfeld zu taumeln, während der Kopf in den Wolken historischer Pflichten verschwindet, schießen sie wunderbare Tore."

Im Interview mit Kai Luehrs-Kaiser spricht Dirigent Ricardo Muti über das Leben nach der Scala, ein musikalisches Urerlebnis mit Svjatoslav Richter und seine neue Liebe zur neapolitanischen Barockmusik: "Ich bin in Neapel aufgewachsen, wo Piccini, Paisiello, Fiordarati, Pergolesi und Traetta wirkten. Es sind nicht nur Meisterwerke. Aber einige vielleicht doch. In der Nähe von Neapel gibt es ein Kloster, dem Alessandro Scarlatti die meisten seiner Partituren hinterließ. Dort wurden seine Werke jahrhundertelang von den Priestern versteckt. Vielleicht hat mein Name geholfen, Einblick zu erhalten. Ich möchte den Sound der neapolitanischen Barockmusik wiederentdecken."

Weiteres: In seiner WM-Kolumne erklärt Thomas Brussig, dass er für nichts applaudieren würde, was er selber könnte. Ulrich Weinzierl hat nichts gegen Matthias Hartmann als neuen Intendanten des Wiener Burgtheaters einzuwenden, und ist fast schon versucht, dies Hartmann negativ anzukreiden. Matthias Heine preist das neue Album "Bande a part" von Nouvelle Vague. "Wfr" gratuliert mit zusammengebissenen Zähnen Hermann Kant zum achtzigsten Geburtstag.

SZ, 14.06.2006

Im Sommer 2009 wird Matthias Hartmann neuer Intendant des Wiener Burgtheaters, berichtet Christopher Schmidt. "Für den dann 46-jährigen Matthias Hartmann ist der Wechsel das vorläufige Ende eines beispiellosen Steilflugs. Und so werden sich alle wieder einmal bestätigt fühlen, die in ihm den smarten Karrieristen und gefälligen Regie-CEO sehen, den 'Richtigmacher' und 'Erfolgsempfänger'. Tatsächlich wirken seine eigenen Inszenierungen ja bisweilen wie Investorenkunst, Spekulationsobjekte auf den Zeitgeschmack, mit ihrer Mischung aus volatiler Stilistik und wertbeständigem Handwerk. Seit er in Bochum die Zuschauerzahlen verdoppeln konnte, ist Hartmanns Wert auf dem Transfermarkt ins Unermessliche gestiegen."

Weiteres: Gustav Seibt war dabei, als sich Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka im Berliner Schloss Bellevue über den von Schülern verliehenen Weilheimer Literaturpreis (mehr) freuen durfte. Auf der Medienseite veranlasst eine Klage des Spiegel gegen den Bayerischen Rundfunk wegen eines Hörfunkfeatures zum Reichstagsbrand Willi Winkler, auf die frühen Spiegel-Mitarbeiter mit nationalsozialistischer Vergangenheit zurückzukommen. Im Literaturteil gratuliert Jens Bisky dem Schriftsteller Hermann Kant zum achtzigsten Geburtstag.

Auf der Filmseite erinnert sich Fritz Göttler an Volker Schlöndorffs "Mord und Totschlag". Vorgestellt werden Arnaud und Jean-Marie Larrieus Liebeskomödie "Malen oder lieben", Stephen Woolleys Hommage an den Rolling Stones- Gründer Brian Jones mit dem bezeichnenden Titel "Stoned", Edgardo Cozarinskys Film "Der Nachtschwärmer" sowie Elizabeth Allens Version von Andersens Meerjungfrau "Aquamarine".

Besprochen werden eine Ausstellung mit 40 Landschaftsgemälden von Claude Monet in der Stuttgarter Staatsgalerie, eine Hommage an den ungarischen Komponisten György Kurtag in Neuhardenberg, Sabine Harbekes Stück "nur noch heute" nach Raymond Carver in der Inszenierung von Jorinde Dröse in Bochum, und Bücher, darunter Manuel Fernandez Alvarez' "einfühlsames" Porträt der Johanna von Kastilien sowie die 27 CDs mit den "Großen Stimmen des 20. Jahrhunderts" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 14.06.2006

Joachim Güntner geißelt die desolate Lage der ästhetischen Erziehung an deutschen Schulen: "Formell stehen Musik- und Kunstunterricht noch immer auf der Stundentafel. Papier ist ja geduldig. Aber man darf keinen Blick auf die triste Praxis werfen. Allein diese Vorliebe für sterile Materialien, für Schere und Klebstoff, für Schablonen und Fotokopien im Kunstunterricht der Grundschulen. Man hält die Schüler am Gängelband, schwadroniert aber unentwegt von 'Kreativität'. Zur deutschen Schulwirklichkeit gehört, dass weit weniger Fachstunden gegeben werden, als die Lehrpläne für Kunst und Musik vorsehen. Zwei Drittel des Deputats für Musik sind es laut Erhebungen des Verbands deutscher Schulmusiker an den Gymnasien, die diesbezüglich noch am besten dastehen. Auf nur rund vierzig Prozent kommen Real- und Hauptschulen. An den Grundschulen wird nicht einmal ein Fünftel des Musikunterrichts fachlich korrekt erteilt."

Weiteres: Paul Jandl gibt einen ersten Bericht von den Wiener Festwochen. Besprochen werden die Gruppenausstellung "Bühne des Lebens - Rhetorik der Gefühle" im Münchner Lenbachhaus, Gedichte von Lavinia Greenlaw und Hubert D. Szemethys Studie "Die Erwerbungsgeschichte des Heroons von Trysa" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 14.06.2006

Nachdem er in einem ARD-Interview die unzureichenden Entschädigungen beim Bau des Drei-Schluchten-Staudamms beklagt hatte, ist der chinesische Bauer Fu Xiancai nun so schwer zusammengeschlagen worden, dass er vielleicht dauerhaft gelähmt bleibt. Der Chefredakteur des NDR Andreas Cichowicz beteuert auf den Tagesthemenseiten, dass der Aktivist die Nennung seines Namens ausdrücklich befürwortete. "Wir hatten Hern Fu darauf hingewiesen, dass es sicherlich für ihn Probleme gibt. Dabei haben wir aber mehr an Repressalien durch die Behörden gedacht. Ich würde mir wünschen, dass diese jetzt Herrn Fu und seiner Familie alle erdenkliche Hilfe zukommen lassen - denn das ist ihre Pflicht." In seinem Kommentar sieht Korrespondent Georg Blume eher schwarz. "Tatsächlich stehen die Chancen, Fu über öffentlichen Druck von außen zu helfen, denkbar schlecht." Sven Hansen porträtiert den Aktivisten.

Im Feuilleton stellt Anneli Klostermeier den dänischen Dramatiker Christian Lollike vor, der Behörden wie Zuschauer mit kontroversen Stücken zu Vergewaltigung oder dem 11. September reizt. Frieder Reininghaus verabschiedet den verstorbenen Komponisten György Ligeti und würdigt ihn als "Optimist der kompositorischen Tat". Daniel Bax hat den brasilianischen Kulturminister und ehemaligen Popstar Gilberto Gil in Berlin bei der kulturellen Selbstdarstellung beobachtet. Die einzige Besprechung widmet sich einer Werkschau von Thomas Demand in der Londoner Serpentine Gallery.

Und Tom.

FR, 14.06.2006

Der Debüttitel "Softrock" ist zwar etwas naiv, trotzdem muss man sich den Namen derin Berlin lebenden Justine Electra merken, glaubt Elke Buhr. "Man muss genau hinhören, um die ganze eigenwillige Raffinesse dieser Produktion wahrzunehmen. Einerseits öffnet sie immer wieder einen intimen Raum der Authentizität, in dem man allein ist mit Justine Electras mal flüsterzarter, mal strahlender Stimme. Man hört das leise Quietschen der Finger, wenn sie an der Gitarre die Griffe wechseln, und denkt an alle Sirenen dieser Welt, von Tori Amos bis Heather Nova. Doch in Wirklichkeit ist die romantisierende Gitarre geloopt, und wenn es nostalgisch rauscht wie von einer alten Platte, dann kollabiert dieser Klangraum kurz danach wieder in einer cleveren, selbstreflexiven Geste und macht beispielsweise einer kleinen Noise-Orgie Platz."

Weiteres: Peter Michalzik sieht beim für das Jahr 2009 anvisierten Wechsel von Matthias Hartmann ans Wiener Burgtheaters keine Probleme. "Hartmann hat beste Verbindungen, er ist ehrgeizig und durchsetzungsstark, er kann dabei sehr charmant sein. Wien wird ihn lieben." Christoph Schröder berichtet über die Proteste der kleinen Verlage gegen die geplante Novelle des Urheberrechts. Ina Hartwig sinniert in Times mager über "funktionieren" und seine Berechtigung. Besprochen wird nur Clark Johnsons Film "The Sentinel".

Tagesspiegel, 14.06.2006

Dass nur 38 Prozent der Polen im vergangenen Herbst zur Wahl gegangen sind, versteht Thomas Rosen nur zu gut. Nach dem Koalitionsbeitritt zweier populistischer Parteien ist die politische Kultur auf einem neuen Tiefpunkt angelangt, klagt er. "Den Aufbruch in eine 'Vierte Republik' hatten die biederen Patrioten gelobt - stattdessen bescherten sie dem Land ein Wechselbad zwischen Krisen-Traufe und Populisten-Jauche. Statt der abgewählten Strippenzieher der Postkommunisten rangeln in Warschau nun selbst ernannte Saubermänner, provinzielle Poltergeister und engstirnige Nationalisten um die Macht: Das Klima ist unversöhnlich wie selten zuvor."
Stichwörter: Polen

FAZ, 14.06.2006

Peter Beinart vom New Republic erklärt, warum Bush seiner Ansicht nach keinen Krieg gegen den Iran führen wird. Jordan Mejias stellt den neuen Roman von Philip Roth, "Everyman", vor. Dieter Bartetzko begutachtet den Neubau der Sammlung Grässlin in St. Georgen. Martin Otto meldet die neue Anschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: Alfons-Goppel-Straße. Die in New York lebende Oriana Fallaci ist nicht zum Prozess in Bergamo erschienen, den der italienische Muslim-Aktivist Adel Smith wegen Beleidigung des Islam gegen sie angestrengt hat, berichtet Dirk Schümer. Matthias Hartmann wird Burgtheaterdirektor, Gerhard Stadelmaier schickt ein paar giftige Komplimente. Heinz Berggruen erzählt von einem Besuch im Pariser Picasso-Museum. Walter Hinck gratuliert dem Schriftsteller Hermann Kant zum Achtzigsten. J.A. berichtet kurz von einer Klage französischer Verlage gegen Google.

Auf der letzten Seite freut sich Dieter Bartetzko über Frankfurts frisch restaurierten Domturm. Thomas Thiel porträtiert Ubbo Visser, den Organisator des Robocup. Bernd Roeck erzählt die Geschichte des restaurierten Schaezlerpalais in Augsburg.

Besprochen werden eine Ausstellung der Werke des Renaissancemalers Gentile da Fabriano, Arnaud und Jean-Marie Larrieus Film "Malen oder Lieben" und Jules Massenets "Don Quichotte" in Bremen.