Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2005. In der Berliner Zeitung plädiert CDU-Politikerin Monika Grütters für ein Bundeskulturministerium. Die NZZ sorgt sich um den iranischen Journalisten Akbar Ganji. Die FR ärgert sich über schablonenhafte Kapitalismuskritik in Deutschland. In der taz erklärt die Schriftstellerin Ariane Grundies Harry Potter, wer zu den deutschen Fräuleinwundern zählt und wer nicht. In der SZ hofft der Politologe Franz Walter auf eine Große Koalition. Die FAZ kann weder dem britischen noch dem türkischen Multikulturalismus etwas abgewinnen.

Berliner Zeitung, 20.07.2005

Die Berliner CDU-Spitzenkandidatin und Kulturpolitikerin Monika Grütters spricht im Interview über die Pläne einer unionsgeführten Regierung in Sachen Kultur: "Wir sind das Land mit der größten Theaterdichte der Welt, worum uns andere beneiden. Ein Rückzug aus der staatlichen Grundfinanzierung wäre völlig falsch. Das Wesen der Kultur, das Experimentelle, auch das Risiko des Scheiterns, muss geschützt werden. Es fließt wenig Geld in die Kultur, verglichen mit dem Gesamthaushalt, schon daher verbietet sich eine solche Diskussion. Es ist ein Fehler, immer nur an heute zu denken, nur zu fragen: Wo lässt sich noch etwas sparen? Statt: Was können wir für Kultur und Wissenschaft noch tun?" Außerdem spricht sie sich vorsichtig für ein Bundeskulturministerium aus: "Ich denke, auch die auswärtige Kulturpolitik und die Goethe-Institute wären besser im Kulturressort angesiedelt, und das würde seine Aufwertung zu einem Bundesministerium rechtfertigen."

Welt, 20.07.2005

In einem sehr persönlichen Artikel denkt Zafer Senocak über die "schizophrenen Lebenssituationen" junger Muslime und die Hilflosigkeit des religiösen Dialogs nach. "Der Mensch unserer Zeit leidet an einem Erschöpfungszustand, herbeigeführt durch Vielfalt. Das macht den Ruf nach Einfalt gefährlich attraktiv und einigen rigiden Modernismus, der Differenzierung abverlangt und Individualisierung einfordert, ineffektiv. Mit halbherzig formulierten kosmopolitischen Idealen ist den Männlichkeitsritualen religiöser Fanatiker ebenso wenig beizukommen, wie dem Wiedererstarken nationalistischer Stimmungen."

SZ, 20.07.2005

Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter hofft im September auf eine Große Koalition. Nur sie kann die Blockaden dieser "ministerpräsidentiellen Republik" überwinden und der Politik - wie 1966 - neues Leben einhauchen, glaubt er. "Sie hat pragmatisch und zügig die überständigen Sanierungsaufgaben der Republik zu lösen, um sodann wieder die kulturellen und ideellen Differenzen zwischen den politischen Lagern scharfkantig zu diskutieren. Beides braucht die Republik: Pragmatische Policy-Lösungen und zugleich konzeptionell-kulturelle Debatten über ein anständiges Leben unter den überhitzten Bedingungen - oder auch diesseits - eines entgrenzten, oft selbstdestruktiven Kapitalismus."

Weitere Artikel: Auch jüdische Gemeinden, die nicht dem Zentralrat der Juden angehören, haben nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Anspruch auf staatliche Zuschüsse, meldet Alexander Kissler, der nun eine weitere Diversifizierung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland erwartet. Rheinland-Pfalz hat einen neuen Rahmenvertrag mit dem privaten Arp-Verein zum geplanten Arp-Museum Rolandseck unterzeichnet, berichtet Holger Liebs, die Authentizität der Exponate sei dagegen immer noch nicht geklärt. Jürgen Berger resümiert das Theaterfestival in Avignon, das der diesjährige Co-Direktor Jan Fabre in ein tanzdominiertes Ereignis verwandelt hat.

Auf der Medienseite erklärt WDR-Intendant Fritz-Pleitgen, was sein Sender derzeit alles tut, um weitere Schleichwerbefälle aufzudecken, und verwahrt sich gegen einen zentralen ARD-Rundfunkrat, wie Edmund Stoiber ihn vorgeschlagen hat: "Das ist weltfremd." Christopher Keil und Hans-Jürgen Jakobs fragen sich, ob Gerhard Delling, der als Sommervertretung jetzt auch in den Tagesthemen auftritt, dafür nicht zuviele Werbepartner hat.

Besprochen werden die Uraufführung von Michael Schottenbergs textlicher Neufassung von Lehars Operette "Der Graf von Luxemburg" beim Wiener Klangbogen, eine Ausstellung mit Zeichnungen Vincent van Goghs im Van Gogh Museum Amsterdam, David Dobkins Filmkomödie "Die Hochzeits-Crasher", ein Aufsatzband über den Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905-1907, Birgit Vanderbekes "oberspießiger" Revoluzzer-Roman "Sweet Sixteen" sowie P. Howards (alias Jen Reich) "umwerfende" Groteske "Ein Seemann von Welt" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 20.07.2005

Besorgt berichtet Bahman Nirumand über die jüngsten Entwicklungen im Fall des seit über fünf Jahren inhaftierten iranischen Journalisten Akbar Ganji. Nach 36 Tagen Hungerstreik wurde Ganji nun in ein Krankenhaus eingeliefert, unter sehr obskuren Umständen, wie Nirumand betont. "Dass Ganji nun ins Krankenhaus eingeliefert wurde, ist freilich - angesichts des Umstands, dass weder seine Angehörigen noch seine Anwälte ihn besuchen dürfen und die gesamte Abteilung zur militärischen Sperrzone erklärt wurde - kein Grund zum Aufatmen. Nachgerade absurd mutet an, dass sowohl die Justiz als auch der Direktor des Milad-Krankenhauses behaupten, Ganjis Gesundheitszustand sei völlig normal, einen Hungerstreik habe es nie gegeben."

Weiteres: Gerhard Gnauck wandelt durchs ukrainische Lemberg und betrachtet das reiche und ethnisch so vielfältige Erbe dieser einst viertgrößten Stadt der k. u. k. Monarchie. Besprochen werden Herfrieds Münklers Blick auf die neuen "Imperien", Ian McEwans Roman "Saturday" (den Uwe Pralle als politischen Kommentar zur Zeit seit dem 11. September gelten lassen will, nicht aber als Erzählung) und Manuel Vazquez Montalbans hinterlassene Liebesgeschichten "Laura und Catalina" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

FR, 20.07.2005

"Derzeit wird eher im Sinne lange überwunden geglaubter Verteilungskämpfe gestritten, zwischen denen 'da oben' und den anderen 'dort unten', und der zeitgenössische Kapitalismus wird mit Schablonen erklärt, die regressiver kaum sein könnten", stellt Michael Schmitt fest und meint, dass dies eigentlich eine gute Zeit für die Literatur sein müsste, "der Ökonomie und deren Alpha-Tierchen ein Bild ihrer selbst" entgegenzuhalten. Aber weit gefehlt: "In den öffentlichen reizreflexartigen Debatten lassen derzeit aber eher die schlichten Manifeste und die rührseligen 'sozialen Romane' aus dem 19. Jahrhundert grüßen; und also muss man erst einmal fragen: Welcher Kritiker, welcher Lektor hätte je an so hemmungslose Kolportagen wie die von Berlin oder Wolfsburg gedacht?"

Besprochen werden eine Retrospektive zum Werk der britischen Künstlerin Sarah Lucas in Hamburg und Bücher, darunter Sayed Kashuas Roman "Da ward es Morgen" und Sarah Khans Campus-Groteske "Eine romantische Maßnahme und politische Bücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 20.07.2005

Die Schriftstellerin Ariane Grundies meldet sich in ihrem Kurzbrief an Harry Potter aus dem "Geisterhaus des deutschen Fräuleinwunders". "Ja, und wir sind, nach wie vor, von den Toten auferstanden. Wir bringen die Rezensenten durcheinander - sie können die Menschen nicht mehr von uns Geistern auseinander halten. Sie denken, Silke Scheuermann ist eine von uns."

Weiteres: Max Dax spricht mit dem Musiker und Produzenten Daniel Lanois über das neue Album "Belladonna" und ein Jahr selbstgewählte Einsamkeit auf einer mexikanischen Halbinsel. "Ich habe tatsächlich nach Pilzen gesucht - aber keine gefunden. Allerdings möchte ich anmerken, dass Atropa Belladonna der lateinische Begriff für Tollkirsche ist." Stefan Franzen hat sich bei seinem Besuch auf dem Stimmen-Festival in Lörrach und Basel prächtig unterhalten.

In der zweiten taz informiert Solveig Wright über das Amphetamin Crystal, das nach den USA nun im Osten der Republik angeblich wieder populär wird: "Hitler-Speed" war schon im dritten Reich bekannt. Michael Braun schwärmt vom norditalienischen Ferrara, wo die Fahrradfahrer immer Vorfahrt haben.

Und Tom.

FAZ, 20.07.2005

Christian Schwägerl hat fünfzig Nachwuchsforscher aus Asien auf einer Bustournee durch deutsche Forschungseinrichtungen begleitet: "Vor fünfzehn Jahren wären Leute wie sie als Delegation aus der Dritten Welt gnädig vorgelassen worden. Heute wird den jungen Chinesen, Indern und Indonesiern der rote Teppich ausgerollt."

Gustav Falke hat das türkische Mardin besucht, wo Araber, Türken, Kurden, Christen zusammenleben: "Tatsächlich dürfte hier zu sehen sein, was multikulturelle Gesellschaft schon immer hätte heißen können und was mit den ukrainischen und georgischen Vierteln auch in Istanbul einzieht: Man mag seinen Nachbarn nicht, aber er gehört dazu. Bis irgend jemand die Differenzen politisiert. Gerade ist in dem Modelldorf, in das im Herbst die zurückkehrenden Aramäer einziehen sollen, eine Autobombe explodiert."

Gina Thomas kritisiert die "Doppelmoral", mit der die Briten ihren Multikulturalismus pflegen: "Aus vielen Ecken erklingt der Refrain, die Anschläge hätten nichts mit dem Islam zu tun, der doch ein friedliebender Glaube sei. Das klingt genauso hohl, wie wenn Katholiken in Nordirland versucht hätten, sich von der IRA zu distanzieren mit der Aussage, es gebe keine Verbindung zwischen Fanatismus und Religionszugehörigkeit."

Hannes Hintermeier porträtiert die Leiterin des Droemer Verlags Doris Janhsen. Christian Welzbacher stellt das "Muziekgebouw aan't Ij" vor, Amsterdams neue Konzerthalle, die das dänische Büro "3xNielsen" gebaut hat. Oliver Tolmein berichtet über eine Kostenentscheidung des Bundesgerichtshofs in einem Fall von nicht gewährter Sterbehilfe. Andreas Rossmann war bei einem Auftritt Oskar Lafontaines in Düsseldorf-Gerresheim, wo im August die Glashütte geschlossen werden soll. Jordan Mejias berichtet über jetzt öffentlich gemachte Militärakten prominenter amerikanischer Soldaten wie Jimmy Stewart oder Jack Kerouac: "Zehn Monate waren ihm in der Navy vergönnt. Ein Militärarzt diagnostizierte bald 'dementia praecox', was soviel wie Schizophrenie bedeuten sollte und dem Patienten gar nicht behagen wollte: 'Nach meiner Meinung werde ich nur leicht nervös auf eine emotionale Art.'"

Auf der Medienseite stellt Olaf Sundermeyer das neue Fußballmagazin Rund vor. Und Michael Hanfeld berichtet über neue Wendungen im Bavaria-Skandal. Auf der letzten Seite porträtiert Dietmar Dath die 30-jährige Schauspielerin und Regisseurin Asia Argento. Kerstin Holm war in einem Ferienlager für die junge Elite des russischen Verwaltungsnachwuchses, wo der Politik-Berater Gleb Pawlowsky ihnen in einem Vortrag erklärte, "dass Europa gewohnheitsmäßig eine 'Problemnation' benötige und nun Russland in eine Rolle hineindränge, die früher den Juden zukam."

Besprochen werden die Diana-Arbus-Retrospektive im Essener Folkwang Museum, der Film "Mr. & Mrs. Smith" und ein Konzert von Bobby McFerrin und Chick Corea in der Alten Oper Frankfurt.