Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2005. Heute ist Weltfrauentag: Die SZ vermisst 100 Millionen Frauen, die gar nicht erst geboren wurden. In der FR befasst sich Claus Leggewie mit den Nebenwirkungen von Antidiskriminierungspolitik. Die taz versucht zu klären, welches Geschlecht nun die ärmere Sau ist. Die FAZ erinnert an die Bombenanschläge in Madrid vor einem Jahr.

FR, 08.03.2005

Aus Anlass der aktuellen Debatte um das so genannte Antidiskriminierungsgesetz diskutiert der Gießener Politologe Claus Leggewie unter der Überschrift "Identität und Integration" die "Fallstricke des Diskriminierungsverbots". Er schreibt unter anderem: "Außer bei der relativ erfolgreichen Frauenquote haben temporäre Bevorzugungen zum Ausgleich langjähriger Benachteiligung heute nur noch wenige Anhänger. Das hat mit dem generellen Nachlassen der Neigung zu tun, Gesellschaften anders als über Märkte und Gemeinschaften zu integrieren, aber auch mit den gerade am US-Beispiel unübersehbaren Nebenwirkungen von Antidiskriminierungspolitik: Sie verleitet Individuen dazu, sich in 'ihrer' Minderheit zu verschanzen und den sozialen Partikularismus zu verschärfen, statt die konkrete Benachteiligung im Rahmen einer menschenrechtlich fundierten Ordnung aufzuheben."

Weitere Artikel: Christian Schlüter bescheinigt dem Philosophen Ernst Tugendhat in einem Geburtstagsgruß zum Fünfundsiebzigsten, sich ganz besonders um die "Verbreitung und Vertiefung der analytischen Philosophie verdient gemacht" zu haben. Florian Malzacher berichtet über ein neu aufgelegtes internationales Austauschprogramm des Frankfurter Städel (mehr), das auf Initiative und mit finanzieller Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes zur Entwicklung von Kunstprojekten und -netzwerken in Mittel- und Osteuropa Studenten und Dozenten aus dem Kosovo Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch in Frankfurt gibt.

Besprochen werden eine Ausstellung des Polke-Schülers und "Dachlattenspezialisten" Georg Herold in der Kunsthalle Baden-Baden, die Uraufführung des Theaterstücks "Alices Reise in die Schweiz" von Lukas Bärfuss am Theater Basel und eine Porträt-Konzertreihe des Komponisten Salvatore Sciarrino im WDR.

TAZ, 08.03.2005

Heute ist Frauentag, den die taz traditionsgemäß besonders ausführlich zur Kenntnis nimmt. Auf den Tagesthemenseiten werden deshalb mehrere "Baustellen" begangen. So beschäftigt sich Barbara Dribbusch mit der Baustelle Ich und versucht in einem "taz-Schnelltest" die Frage zu erhellen, welches der beiden Geschlechter denn nun "die ärmere Sau" sei. Die Schriftstellerin Susanne Fengler betreibt auf der Baustelle Geschlechterkampf die "Selbstbezichtigung einer Kinderlosen". Weitere Baustellen-Themen sind: Baby (hier und hier), Bett, Chefzimmer (hier), Versorgung (hier und hier) und Zukunft (hier). In tazzwei gesteht die französische Journalistin Pascale Hugues, dass sie die "ganz eigene Art" der deutschen Frauen, diesen Tag qua Kriegserklärung an die Männer zu zelebrieren, nie verstehen wird. Und auf der Wahrheitseite gibt Olivia Maria Schmitt einen repräsentativen Überblick über internationale Unterschiede in der Begehung des Anlasses.

Auf den Kulturseiten verteidigt sich Wolfgang Kraushaar, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, in der Debattenreihe zur Aufarbeitung des Selbstverständnisses der 68er-Bewegung gegen die Vorwürfe, die der Soziologe Klaus Meschkat in seinem Beitrag am vergangenen Dienstag gegen ihn erhoben hatte. Meschkat hatte geschrieben, dass Kraushaar in einer Publikation "das Gewaltopfer" Rudi Dutschke als "potenziellen Terroristen" bezeichne, weshalb er als "Historiker der 68er-Bewegung nicht ernst zu nehmen" sei. Kraushaar antwortet nun: "Die gesamte Zeit über war mir klar, dass die Frage, wie Dutschke zur Gewalt, zum bewaffneten Kampf und zum Aufbau einer Guerilla gestanden hat, einen zentralen Stellenwert besitzt und weder den Familienangehörigen noch den ehemaligen Freunden und Kampfgefährten überlassen bleiben sollte. (...) Die Tatsache, dass nun eine Debatte über diese Fragen eingesetzt hat, ist zu begrüßen. Die Versuche jedoch, sie zu delegitimieren und sie - wie hier geschehen - durch Gesinnungsbekenntnisse zu ersetzen, sind zum Scheitern verurteilt.

Weiteres: Daniel Bax berichtet über die Vergabe der World Music Awards im nordenglischen Newcastle, der sich allmählich "zur wichtigsten Bewertungsinstanz des globalen Genres" mausere. Hannah Bröckers protokolliert ein Gespräch "unter Alphatieren", das sie in einem der "angesagtesten Restaurants der Hauptstadt" am Nebentisch belauschte. Und in tazzwei setzt Bernhard "der Lebensalterexperte" Pötter unerschrocken seine Exkurse übers Erwachsensein fort.

In der Rubrik "Modernes Lesen" bespricht Dirk Knipphals das "Bild-Jahrbuch" 2004, herausgegeben von Bild-Chef Kai Diekmann, einen in der Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums Frankfurt am Main erschienenen Band über Stanley Kubrick und empfiehlt "Walden" von Henry David Thoreau zur Wiederlektüre (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Katrin Kruse berichtet zum Abschluss von den Pariser Pret-a-porter-Schauen aus Paris. Ihr Fazit: "Nicht mehr sexy, sondern sophisticated ist angesagt. Und: Der Pelz ist zurück."

Und hier Tom.

Welt, 08.03.2005

Der Kulturteil veröffentlicht Notizen die Joachim C. Fest 1967 verfasste, alls er Albert Speer taf, um dessen Lebenserinnerungen aufzuzeichnen: "Das Gespräch verlief problemloser als erwartet. Speer wirkte kultiviert und zugleich völlig emotionslos. Verwirrend die mechanische Kühle in allem, was er über die Vergangenheit äußert; sie wird aber verdeckt oder unauffällig gemacht durch seine tastende, unsichere Art im Vorbringen."
Stichwörter: Speer, Albert, 1967

FAZ, 08.03.2005

Vor einem Jahr ermordete Al Qaida 190 Vorortpendler in Madrid. "Ein "Wald der Abwesenden" soll in den nächsten Tagen vom spanischen König eingeweiht werden. Das Land ist immer noch traumatisiert, berichtet Paul Ingendaay: "Dass ein Jahr nach den Anschlägen immer noch siebzigtausend Madrilenen unter Panikanfällen leiden oder dass sich der Konsum von Alkohol, Tabak und Medikamenten in der Hauptstadt um siebzehn Prozent erhöht hat: solche Daten erreichen die Schlagzeilen und unterfüttern den Eindruck, man sei doch dabei, die Tragödie zu 'verarbeiten'. Aber die öffentliche Debatte über die Selbstverteidigung der Demokratie - über religiöse Symbole, die Definition von Multikulturalismus oder die Grenze zwischen Bekehrungseifer und fanatischem Wahn - hat noch nicht einmal begonnen. Bin Ladins Drohung vom Oktober 2004, das Geschehene werde sich wiederholen, beziehen die Spanier offenbar nicht auf sich."

Weitere Artikel: Unter der geistvollen Überschrift "Maßenvernichtung" prangert Hannes Hintermeier das Vorhaben an, beim nächsten Oktoberfest mit Maßkrügen aus Plastik aufzuwarten. Gemeldet wird, dass sich Rolf Hochhuth nun doch für seine Verteidigung des Holocaust-Leugners David Irving in der Zeitschrift Junge Freiheit entschuldigt hat. David Witzthum hat miterlebt, wie Martin Doerry sein Buch "Mein verwundetes Herz" in Israel vorstellte. Werner Spies gratuliert Anselm Kiefer zum Sechzigsten. Michael Gassmann hat eine Tagung über die Presse in der Nazizeit verfolgt. Auf einer Seite interviewen Heinrich Wefing und Christian Schwägerl die Justizministerin Brigitte Zypries zu den Themen Sterbehilfe und Vergreisung.

Auf der Medienseite schreibt Fritz Wolf über die "Camcorder Revolution", über die in Berlin eine Tagung abgehalten wurde - die kleinen Kameras dienen immer mehr als Instrumente alternativer Medienarbeit: "Menschenrechtsgruppen, Friedensaktivisten und Umweltschützer entdeckten, dass man mit den kleinen Geräten nicht nur Urlaube und Kindergeburtstage ablichten kann. Inzwischen haben sich weltweit Netzwerke etabliert. Die Videoaktivisten bespielen eigene Festivals, wie etwa die 'Globale' in Berlin oder 'One World' in Prag." Außerdem informiert Karen Krüger, dass man auf live-shot.com Jagden live verfolgen kann. Und Henrike Rossbach meldet, dass das schwedische Königshaus von der Klatschpresse Geld sehen will, das es dann wohltätigen Organisationen spenden will. Gemeldet wird auch, dass die Pressegruppe um El Pais bei Le Monde einsteigt.

Auf der letzten Seite beschreibt Kerstin Holm in einer Reportage, wie ein orthodoxer Priester in der russischen Provinz jugendliche Russen mit Kampfsportunterricht bei Laune hält. Erwin Seitz hat bei einem Gourmet-Festival im Rheingau mitgemacht. Und Felicitas von Lovenberg berichtet, dass die als Haustiere in Mode gekommenen Esel nun reihenweise von ihren Besitzern im Stich gelassen werden.

Besprochen werden die Uraufführung des Stücks "Alices Reise in die Schweiz" von Lukas Bärfuss in Basel, Eckehard Mayers Musiktheaterstück "Das Treffen in Telgte" nach Günter Grass am Opernhaus Dortmund, Recital-CDs des mexikanischen Tenors Rolando Villazon, Wolfgang Murnbergers Film "Silentium" und Benjamin Brittens "Albert Herring" in Berlin.

NZZ, 08.03.2005

Heute nur Rezensionen in der NZZ: Katarina Holländer berichtet über die Ausstellung "Avantgarde im Untergrund" mit Bildern russischer Nonkormisten aus der Sammlung Bar-Gera im Kunstmuseum Bern: Künstlerinnen und Künstler, "die sich dem diktierten sozialistischen Realismus verweigerten und die darum praktisch nicht ausstellen konnten, totgeschwiegen werden sollten. Der Kontakt ließ sich damals, ohne die Möglichkeit, in den Ostblock zu reisen, und auf die Gefahr hin, dass das Bekanntwerden der Werke der 'Nonkonformisten' ihnen in ihrer Heimat schaden würde, nur auf riskante Art realisieren. Dank der anfänglichen Vermittlung zweier tschechischer Kunsthistoriker entstand eine Sammlung aus Schmuggelware, auf deren Auswahl die Sammler keinen Einfluss nehmen konnten. Sie nahmen auf, was die Künstler schickten. Diese Schmuggelware, in Köln und an wenigen weiteren Orten der Welt gehortet, bildet heute einen wichtigen Teil des Kulturgedächtnisses - nicht nur Russlands."

Andreas Breitenstein feiert den neuen Erzählungsband "Fünf Wörter" des serbisch-kanadischen Schriftstellers David Albahari: "Einmal mehr zeigt sich hier, dass das zwischen den Kulturen angesiedelte Schreiben einen der faszinierendsten Aspekte der zeitgenössischen Literatur darstellt."

Außerdem besprochen werden eine "Walküre"-Inszenierung an der Königlichen Oper an Covent Garden London (mit Bryn Teufel als Wotan) und Bücher, darunter die Wiederentdeckungen von Stephan Vizinczey und Wolfgang Sonnes Monographie zur Repräsentation im Städtebau (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 08.03.2005

Zum Internationalen Frauentag denkt Petra Steinberger über die möglicherweise "katastrophalen" Konsequenzen der vor allem in Asien verbreiteten Vermeidung von Mädchengeburten nach. Dort würden "100 Millionen Frauen gar nicht erst geboren, nach anderen Schätzungen gibt es bereits 150 Millionen mehr Männer als Frauen." Soziologische und politikwissenschaftliche Studien legten bereits nahe, dass die als "bare branches" ("tote Äste") bezeichneten "überzähligen" Männer "für betroffene Gesellschaften und ihre Nachbarn ein direktes Sicherheitsrisiko" darstellten. Denn kollektive Aggression gehe "hauptsächlich von Verbänden junger Männer aus" und Gesellschaften ohne stabile Familienstrukturen seien besonders "anfällig für interne Aufstände" - was "manche Regierungen dazu bewegen könnte, diese Aggression nach außen zu leiten".

Weitere Artikel: Daniel Schilling resümiert eine Berliner Tagung über das Heilige Römische Reich. Sonja Zekri meldet das Ende der "Causa Hochhuth": Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, hat die Entschuldigung von Rolf Hochhhuth angenommen. Zekri gibt allerdings zu bedenken, dass der "nur mühsam unterdrückte Jubel auf den Webseiten der Rechtsradikalen" ahnen lasse, dass der aus der Affäre entstandene "Flurschaden" schwerer wieder gutzumachen sei als der "lädierte Ruf" eines Dramatikers. "skoh" kommentiert den jüngsten Raub (und das Wiederauftauchen) von drei Munch-Bildern in Norwegen. Und in der Zwischenzeit betreibt Hermann Unterstöger wieder seine gefürchtete Sprachkritik.

Besprochen werden Eckehard Mayers Vertonung von Günter Grass' Erzählung "Treffen in Telgte", die in Dortmund durchfiel, eine Ausstellung der Stillleben des Niederländers Pieter Claesz im Frans Hals Museum Haarlem, die Uraufführung des Sterbehilfe-Stücks "Alices Reise in die Schweiz" von Lukas Bärfuss in Basel, Roberto Ciullis Potpourri aus vier Horvath-Stücken am Mühlheimer Theater, Marco Tullio Giordanas sechsstündiger Film "Die besten Jahre", der Dokumentarfilm "Santo Domingo Blues" von Alex Wolfe, Christiane Pohles "seelenvolle" Inszenierung von "Betrachte meine Seel" in den Berliner Sophiensälen und ein Konzertabend der Pianistin Helene Grimaud mit Chopin und Rachmaninoff in München.

Außerdem Bücher, so der Alfred C. Kinsey-Roman "Dr. Sex" von T.C. Boyle, der Christopher Marlowe-Roman "Tamburlaine muss sterben" von Louise Welsh, eine Geschichte der Warenhausfamilie Wertheim und eine Anthologie mit Texten, die ausländische Autoren während über Deutschland während der Nazizeit schrieben. (siehe hierzu unsere Bücherschau ab 14 Uhr)