Martin Doerry (Hg.)

Mein verwundetes Herz

Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944
Cover: Mein verwundetes Herz
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2002
ISBN 9783421056344
Gebunden, 352 Seiten, 24,90 EUR

Klappentext

In einzigartiger Vollständigkeit sind über 500 Briefe erhalten, die das dramatische Schicksal einer deutsch-jüdischen Familie erzählen. Die Familie Jahn zerbricht äußerlich an den Wirren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, innerlich halten die fünf Kinder und ihre Mutter Lilli um so fester zusammen, bis Lilli Jahn in Auschwitz stirbt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 11.04.2003

Als "erschütterndes Dokument und Anklage zugleich" würdigt Rezensentin Elke Schubert den Briefwechsel der Jüdin Lilli Jahn (1900 -1944). Die Briefe, die Lilli Jahn aus einem Arbeitserziehungslager der Nazis bis zu ihrer Ermordung in Auschwitz vor allem an ihre Kinder schrieb, führen für Schubert die allmähliche Entrechtung der Juden in Deutschland und die Zerstörung einer Familie eindringlich vor Augen. Sie seien darüber hinaus "ein Lehrstück gegen die Gleichgültigkeit der Menschen im Kriege" und erzählten "von den verheerenden Folgen, die ganz alltägliche Schwächen wie Feigheit und Egoismus in einem totalitären System zeitigen können", zitiert Schubert aus dem Vorwort des Herausgebers Martin Doerry. Dessen Kommentierung der Briefe, die nach Ansicht der Rezensentin weitgehend für sich selbst sprechen und eine eigene Dramaturgie besitzen, lobt Schubert als "äußerst behutsam".

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 11.09.2002

Christoph Jahr ist beeindruckt von dieser Biografi der jüdischen Ärztin Lilli Jahn, die am Ende in Auschwitz ermordet wurde. Zwar enthält diese Lebensgeschichte keine neuen Erkenntnisse über die Judenverfolgung zur Nazizeit, auch spiegeln sich in den Briefen, die Lilli Jahn an ihre Kinder schrieb, keine "weitreichenden Reflexionen über ihre Zeit". Trotzdem findet Jahr, dass es Martin Doerry, der Lilli Jahns Enkel und gleichzeitig stellvertretender Chefredakteur beim "Spiegel" ist, gelungen ist, eine "bewegenden Biografie" zu schreiben. Er habe ein "dichtes atmosphärisches Bild vom Alltag der verfolgten Juden" geschaffen und anschaulich gemacht, wie sie immer stärker gesellschaftlich isoliert wurden, so der Rezensent. Das ist ihm nach Jahrs Meinung durch eine gute Mischung von aussagekräftigen Auszügen aus dem Lillis Briefen und eigenen "einfühlsamen Kommentare und Überleitungen" gelungen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 08.08.2002

"Ich habe noch nie von einem Buch gesagt, es gehöre in die Schule, hier muss ich das sagen", schreibt Martin Walser in seiner, Redaktionsangaben zufolge vor der Debatte um sein Buch "Tod eines Kritikers" entstandenen Rezension zu diesem Band mit etwa 250 Briefen zwischen vier heranwachsenden Kindern und ihrer als Jüdin deportierten Mutter, die in den vierziger Jahren geschrieben wurden. "Das ist Geschichtsschreibung", heißt es weiter." Wenn ich das lese, kommt mir der Unterschied, den der Jargon macht zwischen Quelle und Schreibung, irreführend vor." Ausführlich geht Walser auf das Schicksal der 1900 geborenen deutsch-jüdischen Ärztin ein, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde. In keiner Zeile dieser Briefe, die für ihn "zum Dokument unserer Schande" werden, sieht Walser auch nur die geringste stilistische oder literarische Ambition. Das macht für ihn die große Glaubwürdigkeit dieser Texte aus, die er mit Victor Klemperers Tagebüchern und Rudolph Borchardts Briefen aus dem italienischen Exil auf einer Stufe stehen sieht. Diese Kinder und ihre Mutter sind für ihn dennoch "ganz unwillkürlich vehemente Stilisten. Sie sind mitten im Grauen immer zart und immer zärtlich". So kommen für den rezensierenden Romancier "Sprachdenkmäler der Menschlichkeit" zustande.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 08.08.2002

Ein neues, bewegendes Zeugnis über den Holocaust. Und was für eines! Volker Ullrich weist ihm gleich einen Platz zu neben dem Tagebuch der Anne Frank und den Aufzeichnungen Victor Klemperers. "Unter der Hand" ergibt der Briefband zugleich die exemplarische Biografie einer "klugen, hochgebildeten deutschen Jüdin, deren Leben durch die Nazi-Barabarei zerstört wurde", so dass Ullrich diesen in Auschwitz endenden Lebens- und Leidensweg nachzeichnen kann. Im Vordergrund stehen jedoch die einzelnen Briefe: "Wunderbare, leidenschaftliche Liebesbriefe" der Lilli Jahn an ihren Mann (der sie am Ende fallen lässt), Beistandsbekundungen der Kinder (insgesamt 250 Briefe), als sich die Mutter bereits in den Händen der Nazis befindet; "sie spiegeln, wie sonst kaum eine historische Quelle, das Leben der Verfemten unter der Nazidiktatur". Dass der Herausgeber, ein Enkel der Ermordeten, sich abgesehen von "verbindenden und erläuternden Kommentaren" auf die Rolle des Chronisten beschränkt und die Dokumente für sich sprechen lässt, hält Ullrich zwar einerseits für lobenswert, er vermisst aber zugleich "nähere Informationen, etwa über den Antisemitismus in der Weimarer Republik".