Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2003. Die SZ fordert Klarheit über die Anonyma von Hans Magnus Enzensberger. Auch die Welt findet die Auseinandersetzung heikel für Enzensberger. Die taz begibt sich in die Hände ihrer Feinde.Die FR würdigt Art Spiegelman. Die NZZ besucht Böhmen ein Jahr nach der Flut. Die Berliner Zeitung bringt Habermas, Adorno, Sparmaßnahmen und protestierende Studenten in eine historische Synthese

FAZ, 27.09.2003

Der FAZ-Meldung ist anzumerken, dass sie erst nachmittags kam, zu spät, um die Fakten zu überprüfen. Betrifft sie nun einen Skandal oder nicht? Die russische Journalistin Anna Politkowskaja, Autorin eines Buchs über Putins Tschetschenienkrieg, behauptet, von der Buchmesse mit Rücksicht auf Putin ausgeladen worden zu sein. Sie sollte an einer Diskussion über den Krieg teilnehmen. Die Buchmesse dementiert - angeblich sei es die Böll-Stiftung, die die Reise der Autorin nach Frankfurt nicht habe finanzieren wollen. Da Politkowskaja ihre Attacke bei der norwegischen Buchmesse lancierte, ist nun eine norwegische Menschenrechtsgruppe eingesprungen, um Politkowskajas Reise nach Frankfurt zu finanzieren. Bizarr! Hier auch ein im FAZ.net publizierter dpa-Ticker zum Thema.

Wir lesen Eleonore Büning so gern! Heute schreibt sie auf der Schallplatten-und-Phono-Seite über neu herausgegebene Horowitz-Platten (der Pianist würde in diesem Jahr hundert Jahre alt) im allgemeinen und im besonderen über eine Live-Einspielung von Schumanns "Blumenstück": "Das Blumenstück hört sich... an wie mutwillig extemporiert: ein Improvisationsversuch, bei dem ruhig rechts und links die Blütenköpfchen rollen dürfen, überladen mit abenteuerlicher Agogik, übermalt mit extremen Temposchwankungen, mit nach vorn an die Rampe gezerrten Nebenstimmen und spotlightartig ausgeleuchteten Details. Kurzum: Stilistisch ist das anfechtbar, anzuhören ist das spannend."

Weitere Artikel: Hans Ulrich Gumbrecht schreibt den Nachruf auf Edward W. Said (hier der "Link des Tages" beim Perlentaucher). Gerhard Koch kritisiert in der Leitglosse, dass den Herausgebern der Musikkonzepte, Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, die Verantwortung für die bedeutende Zeitschrift entzogen wird. Jürg Altwegg liest französische Zeitschriften, in denen es um Georges Simenon und die neue Ausgabe seiner Werke in der "Pleiade" geht. Erna Lackner schildert einen heftigen Streit in der österreichischen Filmszene um das Festival Diagonale - Regisseure werfen dem Kulturstaatssekretär Franz Morak vor, das Festival kommerzialisieren zu wollen. Edo Reents schreibt zum Tod des Soulsängers Robert Palmer. Christian Geyer berichtet über Auseinandersetzungen in der Katholischen Kirche über den Verein "Donum Vitae" der Schwangerenkonfliktberatung anbietet. Georg Imdahl schreibt zum Tod des Fotografen Paul Almasy. ??? schreibt zum hundertsten Geburtstag von Albert Vigoleis Thelen.

Besprochen werden "Die Glasmenagerie" von Tennessee Williams und Sarah Kanes "Zerbombt" im Schauspiel Frankfurt, die große Ludwig-Richter-Ausstellung im Dresdner Albertinum, Steven Shainbergs Film "Secretary" und neue Werke von Lucia Ronchetti, Martin Smolka und Beat Furrer beim Stuttgarter Festival "Musik der Jahrhunderte".

Auf der Medienseite beschreibt Heiko Dilk die Praxis des "Programming", eine elegante und von den Öffentlich-Rechtlichen gern akzeptierte Form der Schleichwerbung, die darin besteht, dass Industrieunternehmen selbstproduzierte Filmchen in scheinbar seriösen Magazinsendungen unterbringen. Petra Tabeling schildert den Fall des in Belfast von protestantischen Untergrundgruppen ermordeten Reporters Martin O'Hagan (hier eine Internetseite zum Fall).

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine neue CD des Liedermachers Stefan Jürgens (der nach Angaben eine milde entsetzten Patrick Bahners "Belang" auf "Song" reimt), eine neue CD der Rockgruppe "Fountains of Wayne" und um Mahler-Sinfonien "scharf und schneidend" dirigiert von Dimitri Mitropoulos. Schließlich meditiert Magnus Klaue über den "Stand des politischen Liedes" (das wir ehrlich gesagt schon für tot hielten).

In den Überresten von Bilder und Zeiten dokumentiert die FAZ eine Rede von Jean Clair, dem Direktor des Pariser Picasso-Museums auf den Kunsthistoriker Werner Spies aus Anlass des Elsie-Kühn-Leitz-Preises der Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften. Und Henning Ritter meditiert über die Begriffe der Leidenschaft, der Grausamkeit und des Mitleids bei Autoren wie Stendhal und Schopenhauer.

In der Frankfurter Anthologie stellt Wolfgang Schneider ein Gedicht von Kurt Tucholsky vor - Wider die Liebe:

Die brave Hausfrau liest im Blättchen
Von Lastern selten dustrer Art,
vom Marktpreis fleißiger Erzkokettchen,
vom Lustgreis auch mit Fußsackbart...."

FR, 27.09.2003

"Nach dem Erscheinen des Holocaust-Comics MAUS (hier) ist alles möglich", konstatiert Ole Frahm in "Zeit und Bild", in seiner Hymne auf Art Spiegelman (hier eine bildreiche Kurzbiografie) und dessen hochgelobte Arbeit an der Gedächtniskultur. "Das deutsche Bildgedächtnis des Holocaust", hat Frahm gelernt, "ist unbefragt von drei Gruppen fotografischer Aufnahmen dominiert: den Ikonen, wie das Tor von Birkenau, den Fotos der Alliierten von der Befreiung der Lager und den durch Gerhard Schönberners Der gelbe Stern geläufigen Aufnahmen der Nazis. Spiegelman traut den Nazi-Fotos nicht. Er zitiert als bildliche Quellen fast ausschließlich Zeichnungen von Häftlingen. Dabei sichert er seine Zeichnungen historiographisch ab, indem sich jede auf mehrere andere Bilder bezieht. Schon in dieser Entscheidung zeigt sich, dass der Holocaust nicht in einer einzigen Überlieferung existiert, sondern dass verschiedene Tradierungen miteinander konkurrieren."

Weitere Artikel: Ina Hartwig verabschiedet Edward Said, "the Cairo wonder" und späteren Adorno-Bewunderer. Jede Woche eine Wasserpfeifensitzung, rät Navid Kermani im Finale seiner "Vierzig Leben". Ob Teflondome oder Luftkirchen: Leichtes Bauen ist angesagt, verrät Oliver Herwig beispielreich. Steffen Richter schreibt zum Hundertsten des Schriftstellers Albert Vigoleis Thelen. Peter Michalzik kommentiert Alban Nicolai Herbsts Probleme mit der Exfreundin und die paradoxe Situation, dass der Tatbestand erst mit der Klage entsteht. "hoh" trauert um Robert Palmer, den verstorbenen "Salonlöwen des Synthie-Pop". Renee Zucker erzählt in "Zimt" von ihrem Ausflug in die Schweiz, von legasthenischen Eidgenossen und rollerbladern im Sonnenuntergang. Hans-Klaus Jungheinrich fragt bang, was aus der Zeitschrift Musik-Konzepte werden soll, wenn deren legendäre Herausgeber gehen müssen.

Auf der Medienseite huldigt Karin Ceballos Betancur der "vielleicht spannendsten" Krimiserie der Welt: "24". Ursula Knapp berichtet, dass das Verfassungsgericht ddp auch weiterhin untersagt, Spekulationen über die Haarfarbe des Bundeskanzlers zu verbreiten.

Besprochen werden Steven Shainbergs muntere Sadomaso-Komödie "Secretary" und zwei Bücher, zum einen "Auszug aus Xanadu", der neue Gedichtband von Lars Gustafsson, sowie "Topologie der Kunst", die Reflexionen des Kunsthistorikers Boris Groys (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Im Magazin lesen wir eine Reportage von William Nessen, der laut eigenem Bekunden als einziger Reporter in Aceh war, als das indonesische Militär im Mai die große Offensive gegen die Rebellen startete (Hintergrund). Die Recherche Nessens endet im Gefängnis. "Alle mit mir inhaftierten GAM-Verdächtigen hatten blaue Flecken, Brandwunden von Zigaretten oder Striemen von Elektrokabeln. Die meisten von ihnen waren bei ihrer Verhaftung von Soldaten und einer Handvoll gelangweilter Polizisten misshandelt worden. Unmittelbar vor meinem Prozess war das laute Geräusch wieder zu hören. Zu dieser Zeit durfte ich mich bereits ein wenig innerhalb der Polizeistation bewegen, und so kam ich zu einem unerwarteten Anblick: Sechs Polizisten saßen um einen großen Tisch und knallten überdimensionale Domino-Steine - keine GAM-Gefangenen - auf die metallene Tischplatte."

Außerdem erzählt uns Randy Newman, wie man es schafft, mit seinem Sarkasmus Geld zu verdienen. "Verdammt noch mal, ich habe Faulkner gelesen, ich habe mich durch Joyce gequält - warum muss ich diese dummen kleinen Liebeslieder schreiben?" Roland Mischke streift durch Leipzig und meint zumindest im Feiern schon den olympischen Geist verspüren. Barbara Mauersberg erklärt, wie ein Reiseveranstalter Rom als Reiseziel für Musikbegeisterte etablieren will.

NZZ, 27.09.2003

Alena Wagnerova besucht Böhmen ein Jahr nach der Flutkatastrophe: "Ein Jahr nach der Katastrophe sind die schlimmsten und sichtbarsten Spuren vor allem in den historischen Stadtteilen Prags zwar beseitigt, in den Prager Randbezirken wie Karlin mit dem grossartigen spätbarocken Bau des Invalidenhauses (Invalidovna), in Theresienstadt oder den kleinen Gemeinden in Südböhmen, wo ganze Strassenzüge unterspült wurden, ist die Katastrophe noch bedrückend gegenwärtig."

Stefan Weidner würdigt aus Anlass von Edward Saids Tod noch einmal die Bedeutung seines Buchs "Orientalism": "Es dürfte, um ein aktuelles Beispiel für die außerordentliche Wirkung des Buches zu geben, zu einem großen Teil auf die von Said geweckte Sensibilität im Umgang mit Orientbildern zurückzuführen sein, dass Samuel Huntingtons Kulturkampfthesen im deutschsprachigen Raum auf fast einheitliche Ablehnung gestoßen sind."

Weitere Artikel: Ranier Hoffmann gedenkt Albert Vigoleis Thelens. Besprochen werden die Jubiläumsausstellung der Hochschule für Gestaltung in Ulm (mehr hier), neue Choreografien des Balletts Basel und einige Bücher, darunter Christa Wolfs Chronik "Ein Tag im Jahr. 1960-2000" (mehr hier).

Literatur und Kunst bringt eine Rede der großen Herta Müller, die sie im Sommer beim Zürcher Symposion "Nationale Literaturen heute" (Programm als pdf) gehalten hat. Ihr Schluss: "Ich habe einen deutschen Pass. Ich schreibe auf Deutsch. Für die deutsche Literaturkritik bin ich keine Deutsche, auch wenn ihre Muttersprache genauso die meine ist. Auch wenn ich über die beiden Diktaturen schreibe, die sie in Deutschland selber hatten. Mir wird immer wieder die Frage gestellt, wann ich endlich über Deutschland schreibe. Ich habe jedes Mal Lust zu sagen: Schon die ganze Zeit, aber das merkt ihr nicht. " Hierzu gehört eine Würdigung Müllers durch Andrea Köhler aus Anlass des Joseph-Breitbach-Preises, den Müller am vergangenen Wochenende erhalten hat.

Weitere Artikel: Der Politologe Udo Bermbach meditiert über Richard Wagner und die Philosphie seiner Zeit. Der Theologe Friedrich Niewöhner liest Eric Voegelins "Ordnung der Geschichte" wieder. Und Richard Merz erzählt die Geschichte des Handlungsballetts "La Bayadere".

TAZ, 27.09.2003

"Gestritten und geredet haben wir genug", versichert Ex-Bild-Chefredakteur Peter Boehnisch in seinem Eröffnungskommentar und stimmt uns auf diese Jubiläums-Ausgabe ein, die mit sichtlichem Genuss von den "Lieblingsfeinden" der taz gestaltet wurde. Die heutige taz ist wohl als Gesamtkunstwerk zu betrachten, aus Platzgründen folgen hier aber nur ein paar Auszüge.

Helmut Kohl hat die taz nach eigenem Bekunden noch nie gelesen, nun gibt er ihr in Person des taz-Volontärs Kai Diekmann ein recht aufschlussreiches Interview über die politische Linke. "Die Linke wird es immer geben, weil ihre Ideologie eine gewisse Anziehungskraft hat. Auch heute wiederholt sich die geschichtliche Tatsache, dass Revolutionen nicht von den unterprivilegierten Klassen gemacht werden. Nach meiner Beobachtung kommen in unserer Zeit die ideologisch geprägten Zeitgenossen aus gehobenen Elternhäusern. Sie haben mit 20 Jahren schon ihre Wohnung und der Papa zahlt für das Auto und vieles mehr." Der taz wünscht er übrigens, "dass sie wieder einmal den Mut aufbringt, jemandem wie Ihnen ihre Seiten zu überlassen."

Aus den weiteren Seiten: Talkshow-Pastor Jürgen Fliege verfasst elf Gebote für den Kanzler a la "Du sollst den Feiertag heiligen, Gerhard!" Bild-Kolumnist Mainhardt Graf-Nayhauss rätselt über die Liebe zwischen der Ex-taz-Chefredakteurin Georgia Tornow und dem "Akte"-Moderator Ulrich ("Ulli") Meyer. "Was geht da zu Hause ab? An Sex mangelt es bestimmt nicht. Aber politisch?" Oskar Lafontaine geißelt die unsozialdemokratische Politik Schröders. Und die ehemalige PDS-Parteivorsitzende Gabi Zimmer diagnostiziert bei Fidel Castro Alterstarrsinn im Endstadium.

Im Feuilleton eröffnet Joachim Fest seinen Artikel mit dem Hingucker: "Manche guten Gründe sprechen dafür, dass der Nationalsozialismus politisch eher auf die linke als auf die rechte Seite gehört." Schlagerkomponist Ralph Siegel plädiert bei deutschsprachiger Musik für eine "Quote im Kopf". Guido Westerwelle bricht eine Lanze für den Maler Norbert Bisky und wundert sich als Kunstliebhaber, welche Probleme Rot-Grün mit avantgardistischer Ästhetik hat. Und die gefürchtete Dana Horakova interpretiert brav Jens Lorenzens "Bild von BILD".

Auf der Medienseite gibt Ex-Bild-Chef Hans-Herrmann Tiedje der Boulevardzeitung taz Tipps, wie sie nicht als Bild-Beilage endet, RTL-Chef Hans Mahr gibt TV-Tipps, Stefan Raab gibt Fernsehpreis-Tipps und Frank Schirrmacher gibt schließlich Tipps, wie die taz zweihunderttausend Leser haben könnte, wenn sie nur endlich mit diesem Sadismus aufhört.

Die ganze Wahrheit über sein Leben als Juso gibt uns Dieter Bohlen auf der letzten Seite. Etwas unverständlich, schließt aber zumindest mit "Hoch lebe Deutschland!".

Eine einsame Besprechung widmet sich - natürlich - einem Anti-Anti-Globalisierungsbuch.

Nur das tazmag ist noch in der Hand der Redakteure und widmet sich deshalb hingebungsvoll der Feindschaft. Michael Rutschky fragt sich, ob wir gute Feindschaften nicht pflegen sollten. Klaus Hillenbrand stellt die wahren Fragen des 11. September. Jasna Zajcek erzählt eine Geschichte von berechnenden Kommunardinnen und verliebten Politaktivisten. Praktikantin Claudia Lehnen überrascht mit erstaunlicher Produktivität und ergo vielen Artikeln, etwa über Tortenschlachten, Feindbilder oder dem Verhältnis von Eva und der Schlange. Und Steffen Grimberg freut sich diebisch, dass Heinz Bauer nicht Verleger des Tagesspiegel werden wird.

Schließlich Tom, ganz auf Linie.

SZ, 27.09.2003

Gustav Seibt verteidigt seine Kollegen Jens Bisky, der nach der Identität der Anonyma ("Eine Frau in Berlin") geforscht und damit den Zorn von Hans Magnus Enzensberger auf sich gezogen hatte (siehe FAZ von gestern). Seibt fordert von den Herausgebern der Tagebucheinträge, wenigstens die philologischen Mindeststandards zu erfüllen. "Hier Klarheit zu fordern, ist kein unbilliges Verlangen, wie auch Enzensberger, selber ein brillanter Philologe, wissen dürfte. Im Fall der Erinnerungen Sebastian Haffners, die zunächst ähnlich unzulänglich ediert wurden, ist diese Klarheit eingeklagt und hergestellt worden. Warum soll eine ähnliche Prozedur - bei Haffner wurden sogar Papiersorten mit kriminaltechnischen Mitteln datiert - mit vergleichbar aufschlussreichen Resultaten nicht auch bei den Aufzeichnungen der Anonyma angewandt werden?"

Rudolph Chimelli bezeichnet Edward Said in seinem Nachruf mokant als die "angenehmste Stimme Palästinas". Wolf Lepenies erinnert daran, dass Said mitverantwortlich für die Pervertierung des israelisch-palästinensischen Konfliks ist. Reinhard J. Brembeck fordert von den Münchner Orchestern in schweren Zeiten mehr Dienstleistermentalität, will heißen: Erfindungsreichtum. Wolfgang Hörner gesteht Albert Vigoleis Thelen zum Hundertsten zu, mit der "Insel des Zweiten Gesichts" ein großes Buch geschrieben zu haben. Arno Orzessek berichtet von einer Tagung in Potsdam, wo die große Liebe zwischen Kunst und Krieg diskutiert wurde. Alexandra Tischel stellt ein Schreiben von Ricarda Huch an Philipp Witkop aus dem Jahr 1914 vor. Ob die Museen aus Dahlem wegziehen, hängt von der Nutzung des Berliner Schlossplatz-Neubaus ab, kombiniert "zri". Ingeborg Schober schreibt zum Tod des Rockmusikers und lebenskünstlers Robert Palmer. Ulrich Deuter kommentiert Klaus Weises höflich-unauffälliges Debüt als Generalintendant am Theater Bonn.

Auf der Medienseite plagen Marcus Jauer linksseitige Bauchschmerzen, wenn er an das heutige taz-Experiment denkt: sie ist heute von den "Lieblingsfeinden" der Redaktion produziert worden. Der Drehbuchautor Fred Breinersdorfer stellt sich vor, wie es Goethe an seiner Stelle ergehen würde. "Redakteur: Woooolfi, überleg Dir doch genau, will unser Publikum in unserer Zeit wirklich was vom Teufel hören? Vom richtigen, wahren Bösen? Will das Publikum so was Düsteres? ... Goethe beginnt Whisky zu trinken." Im Interview warnt Zeitungs-Unternehmer Helmut Heinen vor dem Fernsehen: " Es ist Sprengstoff für eine Gesellschaft, wenn nur noch zwei Drittel lesen und ein Drittel sich berieseln lässt."

Besprochen werden das an Entdeckungen reiche Sibelius-Festival im finnischen Lahti, eine erhellende Ausstellung zum 200. Geburtstag von Ludwig Richter in Dresden, Christian von Borries Fortsetzung seiner Happening-Reihe "Psychogeographie" im Berliner Palast der Republik, Steven Shainbergs flirrend-wunderlicher Film "Secretary", und Bücher, darunter Qiu Xiaolongs Kriminalroman "Tod einer roten Heldin", Jonathan Kaplans "Notversorgung", der Bericht eines Arztes aus den Krisengebieten der Welt, sowie Thomas Ramges Geschichte der großen Polit-Skandale der Bundesrepublik (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende erzählt Benjamin von Stuckrad-Barre sprachlich gewagt über seine Erfahrungen mit Verlagen, Lektoren und vielbeschäftigten Rezensenten. "Dabei wird telefoniert, dabei werden neue Bücher bestellt, neue Pakete ausgepackt, neuer Schmalz im Ohr gefunden. Prokel, prokel, laber, rhabarber, knister, blätter, kommt jemand mit in die Kantine, ist schon zwölf, ist noch Konferenz, bin ich schon tot? - und derart multitaskend hat man eben schnell eine Leitz-Messingschiene durchs Handfleisch gepflügt. Dieses Buch geht unter die Haut. Autsch. Ich hatte also Glück und Vorabexemplare."

Außerdem: Zwei Drittel der Leser sind Frauen, sagt eine Statistik, die Thomas Steinfeld ins Grübeln bringt. Der springende Punkt sind demzufolge nicht die lesewütigen Frauen, entscheidend ist die "Theorie der nicht lesenden Männer". Susanne Hermanski spricht mit Santo Versace, der ihr gesteht, dass er diese schrecklichen Interviews nur für die Firma macht. Rayk Wieland singt ein Hohelied auf die Bars, in denen man bei Cohiba und Cuba Libre die Weltgeschichte an sich vorbeirauschen lassen kann. Und Julia Encke inspiziert die besondere Beziehung von Justiz und Schriftstellerei.

Welt, 27.09.2003

Uwe Wittstock untersucht den Streit zwischen der SZ und Hans Magnus Enzensberger über den Umgang mit der "Authentizität" bei der Anonyma: "Heikel ist die Affäre sicher für Enzensberger, der sich von der Authentizität des gedruckten Textes nicht überzeugte, aber zuließ, dass der Eichborn Verlag nachdrücklich mit dem Hinweis auf dessen Authentizität warb." Hier der Link zum Artikel in der SZ, der den Streit auslöste.

Die Literarische Welt ist ganz Russland gewidmet. Im Aufmacher versucht der russische Schriftsteller Oleg Jurjew, "sein Heimatland zu ergründen".

Berliner Zeitung, 27.09.2003

Arno Widmann hatte bei der Eröffnung der Internationalen Theodor W. Adorno Konferenz in Frankfurt ein deja-vu Erlebnis, als Jürgen Habermas sprach: "Es war nämlich einer jener berüchtigten Habermas-Vorträge, die die Argumentationsstruktur des Referierten scheinbar dicht beschreiben, in denen aber Habermas Dekonstruktions- und Konstruktionslust sich so frei entfalten, dass er am Ende so selig dasteht wie ein Kind, dem es Heiligabend gelungen ist, die Märklin-Lokomotive, die es auf der Suche nach ihrem Mechanismus auseinander genommen hat, wieder so zusammenzubauen, dass sie aussieht wie vorher - nur fahren kann sie nicht mehr." Wieder der Autor den Vortrag dann elegant mit Adornos Theorie der Freiheit und den gegen Sparpläne protestierenden Studenten verflicht, müssen Sie einfach selbst lesen.