Christa Wolf

Ein Tag im Jahr

1960 - 2000
Cover: Ein Tag im Jahr
Luchterhand Literaturverlag, München 2003
ISBN 9783630871493
Gebunden, 654 Seiten, 25,00 EUR

Klappentext

1960 erging an die Schriftsteller der Welt ein Aufruf der Moskauer Zeitung Iswestija, sie möge den 27. September dieses Jahres so genau wie möglich beschreiben. Maxim Gorki hatte 1936 damit begonnen, "Einen Tag der Welt", wie es damals hieß, zu porträtieren. Christa Wolf reizte diese Idee, sie hat dann aber nicht nur den 27. September 1960 beschrieben, sondern von diesem Jahr an jeden darauffolgenden 27. September genau beobachtet und festgehalten, "mehr als die Hälfte ihres erwachsenen Lebens".

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 09.10.2003

Irgendwie sitzt die "DDR immer mit am Tisch" resümiert Jens Bisky nach der Lektüre der Aufzeichnungen von Christa Wolf, die sie über vierzig Jahre jeweils am 27. September verfasst hat. Es seien keine Kommentare zur Zeitgeschichte geworden, diese mit Collagen von Martin Hoffmann ergänzten Tagebuchaufzeichnungen. Vielmehr habe Wolf dem alltäglichen Leben eines Herbsttages im Jahr Raum gegeben, wodurch man viel über die Familie Wolf erfahre. Aber dennoch: auch zwischen den Einkäufen im örtlichen Dorfkonsum, den Landschaftsschilderungen, den Diskussionen und den Fernseheindrücken breche immer wieder der Grundkonflikt ihres Lebens auf, schreibt Bisky. Und der bestehe im ständigen Zwiespalt aus Engagement, Verteidigung des eigenen Lebens und Wunsch nach Ruhe, nach Rückzug, so seine Schlussfolgerung. Dadurch würden diese Aufzeichnungen auch wieder zum Dokument - schließlich könne man in den neunziger Jahren miterleben, wie "die Frage nach Versagen, Verdienst und Schuld der Frage gewichen ist, wie es gewesen und geworden ist".
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.10.2003

Evelyn Finger fasst noch einmal kurz den Streit der Literaturkritik um Christa Wolf zusammen, den Vorwurf der Unredlichkeit ihres Leidens an der Realität. Was nämlich seinerzeit übersehen wurde und in diesen Tagebuchaufzeichnungen wieder ganz deutlich hervortrete: Christa Wolf ist unfähig zur Identifikation - mit einem Staat, welchem auch immer, vor allem aber mit sich selbst. Ihre Skepsis richtete sich auf die Erwartungen, sozialistische Prosa zu produzieren, sie betraf aber auch den Alltag mit den Kindern und ihrem Mann, von dem es in diesem Buch naturgemäß viel gibt. Christa Wolfs Skeptizismus, hat Finger erkannt, ist systemunabhängig, genau wie die Aufrichtigkeit ihrer Suche nach Hoffnung und ihre reflektierte, aufrechte Haltung, ob es nun um die Gesellschaft oder um die eigenen Ängste geht. All das könne man nachlesen in dieser 40-jährigen Chronik eines Kalendertages, doch lieber hätte die Rezensentin einen neuen Roman Wolfs gelesen, "denn diese radikale Innerlichkeit", meint sie, "braucht den Spielraum der Fiktion", um Wahrheit hervorzubringen. "Was bleibt, stiften noch immer die Dichter und nicht die Tagebuchschreiber."

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 27.09.2003

Was als Auftragswerk begann - als nämlich die russische Zeitung "Iswestija" die Autoren der Welt dazu aufrief, den Tag des 27. Septembers 1960 so präzise wie möglich zu schildern -, hat Christa Wolf als eine Art private Chronik weitergeführt, erklärt ein begeisterter Martin Krumbholz. Über vierzig Jahre hinweg, von 1960 bis 2000, habe somit der 27. September als Ort der Reflexion gedient. Die meisten Fragen, über die Wolf nachdenkt, bleiben offen, doch in den Augen des Rezensenten werden manche - wie die Frage, ob Literatur auf Fiktion angewiesen ist - durch das Buch selbst beantwortet: Literatur "entsteht, wenn das Geschriebene einen Sog entfaltet, dem der Leser sich unwillkürlich anvertraut". Das der Autorin sonst so eigene "Pathos" gibt es hier nicht, erklärt Krumbholz: Der Ton sei nicht "gemeißelt", sondern im Gegenteil "warm", "geschmeidig", "lebendig" und "beinahe kunstlos". Aus den 41 Texten ergibt sich für unseren Rezensenten "ein großes Ganzes", ein "Zeitbild", in dem "sich eindrucksvoll ein Lebenswerk bündelt". Sehr heilsam findet Krumbholz auch, dass nun Christa Wolfs einsetzende politische Ernüchterung dokumentiert sei, die tatsächlich viel früher stattgefunden habe, als im Westen angenommen.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 26.09.2003

Christa Wolf, atmet Susanne Messmer erleichtert auf, hat ihre gelassenen Momente, ist mehr als jene pflichtbesessene "Leidensfrau", die im Kampf für eine bessere Welt - früher: eine bessere DDR - keine Minute nachlässt. So habe die westliche Literaturkritik sie immer dargestellt, doch das Urteil werde durch die Tagebücher des 27. September aus vierzig Jahren, zuerst eine Auftragsarbeit, später dann Notate "für die Schublade", widerlegt. Klar, es sei ein "Buch über die Liebe zur DDR", auch eines über den "schmerzhaften Prozess der Ablösung", vor allem aber: "ein Zeugnis der Entkrampfung", die Christa Wolf erstaunlich gut zu Gesicht stehe. Durch die Beschränkung auf ein willkürliches Datum, so Messmer, laufen vierzig Jahre durch einen Zeitraffer, der bedeutende Ereignisse in angenehme Ferne rücke und durch Szenen aus dem Alltag ersetze. Und hier begegne man auch einer Christa Wolf, die "aus ihrem Lebensthema, dem Leiden an der Gesellschaft" ausbreche und dabei nicht uninteressanter werde - ganz im Gegenteil.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 23.09.2003

Auch wenn Susan Sontag und Christa Wolf vieles gemeinsam haben, so unterscheidet sich die amerikanische von der deutschen Kollegin in einem zentralen Punkt, behauptet Ursula März: in ihrer Ablehnung der "Krankheit als Metapher". Für Christa Wolf sei das ein ganz selbstverständlicher, geradezu ihr "innigster" Gedankengang, führt März dagegen an und zitiert Wolf aus einem kürzlich gegebenen Spiegel-Interview: "Jede Zelle des Körpers reagiert, wenn in der Gesellschaft etwas nicht stimmt." Die Psychosomatiker würden bedenkenlos zustimmen, so März, aber was heiße das in der literarischen Praxis? Heißt das nicht auch, fragt sie weiter, dass man alles, jedes Symptom mit Argwohn betrachten muss, dass nichts unverdächtig bleibt? Diese Grundhaltung, die März auch als den "Vergeblichkeitsblick" bei Wolf bezeichnet, zieht sich für die Rezensentin durch das ganze Buch, das im übrigen nach einem besonderen literarischen Prinzip funktioniert: vierzig Jahre lang hat Wolf ihren Alltag an einem 27. September protokolliert. Zufällig der Tag vor dem Geburtstag der Tochter, so dass sich Veränderungen im Leben der Autorin plausibel abbilden lassen, meint März. Jene Leidenshaltung an der Welt (nicht im Privaten, wo ein außerordentliches Eheglück geschildert werde), diese seltsam "diffuse Melancholie" gleicht in den Augen von März einem hypochondrischen Bewusstsein; allerdings, und das sei das Bitterste einer solchen Lebensbilanz, meint März, handele es sich dabei um etwas "zutiefst Unbewusstes".
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