Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2003. Die New York Times wirft einen Blick auf die Steiff-Tiere Peter Olsons von Random House. In der FAZ setzt Frank Schirrmacher seine schonungslose Erkundung männlichen Machtverfalls fort. In der SZ erklärt ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter, wie die USA die irakische Gefahr aufbauschten. Die taz beklagt, dass die Briten die Qualität des Trinkwassers in Basra nicht verbessern. Die NZZ besucht Wolgograd alias Stalingrad.

Weitere Medien, 21.07.2003

Den aufregendsten Artikel finden wir heute nicht in den deutschen Feuilletons, sondern im Magazin der New York Times. Dort porträtiert Lynn Hirschberg einen Mann, der schließlich auch für die deutsche Szene von Belang ist: Peter Olson von Random House, der zum Entsetzen des literarischen Establishments in New York vor ein paar Monaten die berühmte. Ann Godoff feuerte. Der Artikel ist ausgedruckt zwölf Seiten lang. Unter anderem erfahren wir, dass Olson Steiff-Tiere sammelt (aber keine Hasen!) Und der Artikel fängt so an: "Obwohl er niemals ein Buch herausbrachte, einen Schriftsteller entdeckte oder eine Marketingkampagne ersann, ist Peter Olson der mächtigste Mann im Verlagswesen."

SZ, 21.07.2003

Der ehemalige CIA-Mitarbeiter Ray McGovern schildert, wie US-Vizepräsident Dick Cheney das irakische Atomwaffenprogramm eigenhändig wiederbelebte, entgegen der Überzeugung der meisten CIA-Fachleute. "Dramatischeres musste her, und zwar schnell, wollte man dem Kongress die Zusage zum Krieg abringen. Und so entschloss man sich, die Ente mit dem Uran aus dem Niger aus der Schublade zu ziehen. Das Weiße Haus setzte zu Recht darauf, dass der Kongress seine Zusage geben würde, ehe irgendjemandem auffiele, dass dieses wichtige 'Geheimdienstdokument' auf einer Fälschung beruhte. Damit waren Krieg und militärischer Sieg beschlossene Sache."

Daniel Libeskind musste seinen radikalen Entwurf für Ground Zero entschärfen, die SZ diskutiert nun über Sinn und Unsinn visionärer Architektur. Jörg Häntzschel verteidigt die ambitionierteren Architekten. "Die Europäer des Mittelalters erlebten in ihren Kathedralen eine einzigartige Erfahrung von Raum, Licht und Materialien. Wir, die wir in Bausparerhäuschen wohnen, die sich von mittelalterlichen Katen nur graduell unterscheiden, haben ebenso das Bedürfnis, wenigstens ein paar Stunden lang über die Banalität und Enge, die uns sonst umgibt, hinauszuwachsen." Gerhard Matzig will dagegen mehr Bau als Kunst, und zitiert Adolf Loos. "Das Haus hat allen zu gefallen. Zum Unterschiede vom Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das Kunstwerk wird in die Welt gesetzt, ohne dass ein Bedürfnis dafür vorhanden wäre. Das Haus deckt ein Bedürfnis. Das Kunstwerk ist niemandem verantwortlich. Das Haus einem jeden..."

Weitere Artikel: Henning Klüver beschreibt, wie der italienische Innenminister mit formalen Tricks die Begnadigung der linken Ikone Adriano Sofri (mehr hier und hier) verhindert - offenbar sogar gegen den Willen Berlusconis. Werner Burkhardt stellt Johann Kresniks Karl-Kraus-Projekt im ehemaligen Bremer U-Boot-Bunker Valentin vor, in dessen stimmungsvollem Gewölbe "Die letzten Tage der Menschheit" nun schon die fünfte Spielzeit erleben. Ira Mazzoni kann es nicht glauben, dass das erfolgreiche "Dach und Fach"-Programm zur Erhaltung verfallender Bauten nun eingestellt werden soll. Zwei Tagungen über den umstrittenen Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft Hans Rothfels führen die Diskussion um sein Leben und Wirken fort: Christian Jostmann berichtet aus München, Frank Ebbinghaus meldet sich aus Berlin. Reinhard J. Brembeck schreibt zum Tode der US-amerikanischen Pianistin Rosalyn Tureck. Jens Bisky resümiert Hanns Zischlers Vortrag aus Rudolf Borchardts neuentdecktem Fragment "Anabasis" in Neuhardenberg.

Auf der Medienseite stellt Juan Moreno die öffentlich-rechtliche Verteidigung gegen Superstars und Championsleague vor. Hans Leyendecker widmet sich in der Serie Große Journalisten dem "Grandseigneur der Feder" Alfred Polgar.

Besprochen wird die Frankfurter Schau "City Scape East" mit Aufnahmen des Wandels im Osten der Republik, eine fulminante Gesamtschau der multimaterialen Kunst von Dieter Roth in Basel, Pepe Planitzers bemühter Märchenfilm "Ein Schiff wird kommen" und Bücher, darunter die Gesamtausgabe der Gedichte der wunderbaren Rajzel Zychlinski, drei neue Studien über das Judentum sowie Konrad Deufels und Manfred Wolfs Abgesang auf den Sozialstaat "Ende der Solidarität" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 21.07.2003

Mark Dion (mehr hier) gastiert mit seiner Ausstellung Encyclomania zur Zeit in Hannover, und Frank Keil ist begeistert. Clou der Schau, schreibt Keil, sind Stücke von Studenten der ortsansässigen Fachhochschule, die Dion vorher anlernte. Ein Beispiel: "Gaby Taplick kontrastiert Dions Diorama 'Mobile Wilderness Unit' (Bild), bestehend aus einem ausgestopften Wisent auf einem fahrbaren Untersatz mit einer kleinen, vergilbten Streichholzschachtel, in dem ein Kartoffelkäfer auf dem Rücken liegt. Zu diesem gesellt sich ein gleichfalls verblasstes Foto eines Jungen, der recht spitzbübisch dreinschaut; weshalb der Titel 'Hans und seine erste Beute' nur folgerichtig ist: der kleine Hans und der große Mark, zwei Sammler, die dem Töten nicht ausweichen können, um zu erlangen, was sie bewahren wollen."

Weiteres: Morten Kansteiner war in Bielefeld auf einer Tagung und hat gelernt, dass Forschung und Feminismus langsam auch im Historienfilm Einzug halten. In Times mager rümpft Gunnar Luetzow die Nase über Nike, die ihr Geschäft perfiderweise und erfolgreich als Kultur tarnen. Gemeldet wird unter anderem, dass der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein den Uwe-Johnson-Preis erhält und dass nun eine nationale Strategie zur Rettung von 60 Millionen durch Säurefraß gefährdete Bücher erarbeitet werden soll.

Auf der Medienseite wundert sich Albert Hefele, warum "RTL Aktuell" so werbetauglich ist und hält ein ergreifendes Plädoyer für die Heimeligkeit des "Heute Journals".

Besprochen werden Herbie Hancocks und Bobby Hutchersons Konzert in München, Marco Bechis' ausgezeichneter Film "Junta" über die Folter in Argentinien sowie Ibsens "Peer Gynt" in der Inszenierung Hasko Webers zum Saisonfinale in Stuttgart.

TAZ, 21.07.2003

So schlimm war es in Klagenfurt gar nicht, denkt sich Gerrit Bartels nach der "Letzten langen Nacht der Popliteratur", in einem zweitklassigen Berliner Club über der Wohnung des Selbstvermarkters, Autors und Organisators Joachim Lottmann (mehr). "Hauptsache, der Neid spielt keine Rolle, Hauptsache Lottmann-in-Weimar-Schwänke: Tex Rubinovitz trägt Lottmanns Begegnung mit Peter Handke vor (Vorsicht, der Tom Kummer in Lottmann!), schöne Tage werden beschworen, an denen man unbedingt rausgehen muss, oder wie ich, Lottmann, eines Tages auf Jochen Distelmeyer traf. Manchmal großer Scheiß, weil in der Tat lustig, vor allem aber viel kleiner Scheiß, weil eben nur noch Kabarett und untere Bettkante."

Auf der Tagesthemenseite berichtet Inga Rogg aus Basra, wo vor allem die Frauen dem Elend den Kampf ansagen, dass auch unter der britischen Besatzung nicht wesentlich kleiner wird. "Das Leitungswasser war auch schon vor dem Krieg eine trübe Brühe, und Strom gab es nicht mehr als heute. Aber auf den Flugblättern, die Briten und Amerikaner während des Kriegs abwarfen, versprachen sie eine Zukunft so rosig, dass es den verarmten Städtern wie die Verheißung auf das Paradies erscheinen musste - Freiheit, Lebensmittel und Wasser im Überfluss. Nicht zuletzt deshalb stehen die Besatzer heute da wie der Wunderdoktor, der Zaubermittel gegen ein Krebsgeschwür versprach."

Auf der Medienseite spricht ein angriffslustiger Michael Maier, Chefredakteur der Netzeitung, über die fettgewordenen Zeitungen und die vampiresken Eigentümer der SZ.

Ansonsten wird rezensiert. Christoph Wagner hält Scheibengericht und beurteilt unter anderem Charlotte Greigs schnörkellose "Winter Woods" oder Robert Crumbs kauzige "Hot Women - Women Singers from the Torrid Regions of the World".

Besprochen werden außerdem die große Berliner Ausstellung "Schätze der Himmelssöhne" mit bisher ungesehenen Stücken aus dem Palastmuseum Taipeh und eine Ausstellung in der Münchener Pinakothek der Moderne mit einem Querschnitt durch das Werk von Luc Tuymans.

Schließlich Tom.

NZZ, 21.07.2003

Für den "Schauplatz Russland" hat Cord Aschenbrenner Wolgograd besucht, das einmal Stalingrad hieß (mehr hier). Er beschreibt den Alltag in einer Stadt, die 1943 von der Wehrmacht fast ganz zerstört wurde. Doch noch immer ist die Erinnerung an die Schlacht in der Stadt allgegenwärtig, sei es in den 1.300 Denkmälern und Gedenkstätten oder in den 600 Namen der Plätze, Straßen und Parks: "Der Weg aus dem Zentrum hinunter zum Quai über die Heldenallee, vorbei am Park des Sieges, hinüber über die 62.-Armee-Uferstraße, ist ein Weg zum Schlendern, ein Weg für Paare oder für Gruppen von Jugendlichen. Je dunkler es wird, desto mehr Menschen kommen, mehr Frauen als Männer, mehr Junge als Alte. Bier trinkend und schwatzend sitzen sie auf Bänken und blicken auf den Strom."

Leicht enttäuscht resümiert Thomas Burkhalter das zwanzigste Berner Gurtenfestival, auf dem unter anderem Massive Attack, Alanis Morissette und Die Fantastischen Vier auftraten: "Alternative, Punks, Rocker, die einstige Klientel des Festivals, bleiben der kommerziellen Eventindustrie mehr oder weniger fern. Die Politparolen wirkten in all dem Trubel fehl am Platz: 'Kein Mensch ist illegal', skandierte die Asian Dub Foundation. 'Was, dein Bier ist schon leer?!', grölte gleichzeitig eine Horde wild tanzender Jungs."

Weitere Artikel: Rolf Mäser ehrt den Schweizer Pianisten Paul Baumgartner, und Andrea Körner gratuliert dem New Yorker Central Park zum 150. Geburtstag. Abgedruckt ist außerdem die gekürzte Fassung von Urs Altermatts Festrede aus Anlass der Meditationsakte von 1803. Besprochen wird die Uraufführung von Jörg Widmanns Oper "Das Gesicht im Spiegel" durch Roland Schimmelpfennig in München.

FAZ, 21.07.2003

Frank Schirrmacher setzt die schonungslose Erkundung männlichen Machtverfalls fort. Neulich konstatierte er bereits die weibliche Vorherrschaft in der politischen Mediensphäre (orientiert sich Sabine Christiansen überhaupt noch im FAZ-Feuilleton?). Heute fragt er, unter Zuhilfenahme eines ebenfalls hoch besorgten Artikels von Hans-Christoph Buch aus der Welt ("Big Sister"): Was passiert eigentlich mit den Männern im verfallenden Patriarchat? Nun, sie bleiben in der Pubertät: "Die Männer scheinen zunehmend einem sonderbaren Wachstumsstopp zu unterliegen, einer Inhibition, die bei stagnierender Entwicklung den Typus des ewig pubertären Jugendlichen noch mit sechzig Jahren erzeugt." Wobei klarzustellen ist: "Es sind nicht die Patriarchen, gegen die sich die jungen Männer unter den Menschen behaupten müssen. Es ist die Gesellschaft, die im Begriff ist, sich von ihren patriarchalischen Vorstellungen zu lösen..."

WeitereArtikel: Dietmar Polaczek freut sich, dass die in den siebziger Jahren aufgefundenen Mosaiken einer Villa in römischen Tellaro nun in Sizilien ausgestellt werden. Mark Siemons wohnte einer Aufführung von Rudolf Borchardts autobiografischem Fragment "Anabasis" im Schloss Neuhardenberg bei. Jürg Altwegg beschreibt den Untergang linker französischer Mythen beim Streik der Bühnenarbeiter und bei der Tour de France. Joseph Croitoru berichtet über israelische Reaktionen auf den archäologischen Bestseller "The Bible Unearthed" (deutsch: "Keine Posaunen vor Jericho"), der einige Bibelstellen archäologisch in Frage stellt und jetzt auf hebräisch erschienen ist. Paul Ingendaay setzt die Metropolenserie "Geld oder Leben" am Beispiel Madrids fort. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod der Pianistin Rosalyn Tureck.

Auf der letzten Seite beschreibt Christian Schwägerl, wie sich die deutsche Nanotechnologie-Forschung aus Angst vor fundamentalskeptischen Debatten ganz besonders klein macht. Patrick Bahners würdigt anlässlich der Münsteraner Historikermedaille für Reinhart Koselleck das Pferd an sich (Koselleck unterteilte die Geschichte bei der Entgegennahme des Preises in eine Vorpferde-, ein Pferde- und ein Nachpferdezeitalter). Renate Schostak erzählt, dass sich der Architekt Stephan Braunfels gegen Plakate an der von ihm entworfenen Pinakothek der Moderne wehrt, mit denen für Ausstellungen im Gebäude geworben wird. Auf der Medienseite porträtiert Michael Hanfeld den Senderchef Nicolas Paalzow von Pro Sieben.

Besprochen werden Opern- und Musical-Aufführungen bei den Bregenzer Festspielen, eine Ausstellung über die Maler des Hyperrealismus in Straßburg und einige Sachbücher, darunter Reinhold Kaisers "Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).