Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2002. Erfurt ist das Thema des Tages. In der SZ erkennt Georg Klein in der Tat des Attentäters einen Appell. Die taz stellt klar, dass die Schule heute nicht gewalttätiger ist als vor vierzig Jahren. Die FAZ will jetzt die Popkultur ernst nehmen. Die NZZ beschreibt Russlands Versuche, Joseph Brodsky zu ehren. Die FR widmet sich dem Sotheby-Skandal.

SZ, 29.04.2002

Der Amoklauf des Erfurter Abiturienten ist auch das Thema im Feuilleton. Georg Klein ("Barbar Rosa") schreibt dazu: "Der Amokläufer ist einer jener Mörder, deren Tat durch ihre Form von vorneherein wenig Wert auf das Mäntelchen mildernder Umstände legt. Wie sein Tun steht der Erfurter Amokläufer als Täter unerbittlich nackt vor uns. Wenn dieser Mörder durch die Form seines Handelns zu uns spricht, dann sagt er: 'Lasst mir meine armseligen Motive! Es gibt so viele billige Gründe, seinen Mitmenschen den Tod zu wünschen. Fragt Euch stattdessen, warum meine Tat so scheußlich gut in Eure Welt passt! Und warum der Amoklauf nicht weit öfter seine einleuchtende Fratze zeigt.'"

Jeanne Rubner sieht das Problem in den unterschiedlichen Erwartungen an die Schule: "Von vielen Kindern und Jugendlichen wird Schule als Zwangsort wahrgenommen, in dem man vormittags seine Stunden verbringt. Das wahre Leben aber spielt sich anderswo, am Nachmittag, am Abend, in der Freizeit ab. Diese Differenz wird zumindest von all denen ignoriert, die von der Schule erwarten, dass sie zugleich auf das 'wahre Leben' vorbereitet. Und je weniger Eltern ihre Erziehungsaufgaben wahrnehmen, je weniger also Erziehung sich an ihrem ursprünglichen Ort abspielt, desto lauter schallt der Ruf nach der erziehenden Schule. Nach einer Schule, die den Gegenpol zu Gewaltvideos, Drogen oder Rechtsradikalismus da draußen bildet. Nach einer Schule, die Zielstrebigkeit, Disziplin und soziale Kompetenzen beibringt"

Weiteres: Susan Vahabzadeh berichtet vom Fall des Schauspielers Robert Blake, der wegen Mordes an seiner Frau in Los Angeles vor Gericht steht. Thomas Meyer hat sich den Vortragszyklus des Philosophen Ernst Tugendhat über "Ideen zu einer Anthropologie" angehört. Stefan Koldehoff liefert den Nachruf auf den Kunstsammler Hans-Heinrich Thyssen-Bornemisza.

Julia Encke war bei einem Vortrag des Kunsthistorikers Hans Belting, der in der Reihe "Ironic Turn und das neue Bild der Welt" über die Verwechslung von Körper und Bild gesprochen hat. Christoph Wiedemann spekuliert, dass Hubertus Gaßner Nachfolger von Christoph Vitali im Münchner Haus der Kunst werden könnte.

Besprochen werden: Andrea Breths Inszenierung von Albert Ostermaiers "Letzter Aufruf" in Wien, die Uraufführung von Andre Werners "Marlowe: Der Jude von Malta" bei der Münchner Musikbiennale, Thomas Ostermeiers Aufführung von Richard Dressers "Goldene Zeiten" in Berlin, Peter Turrinis "Die Liebe in Madagaskar" in der Münchner Inszenierung von Ruth Drexel, die Uraufführung von Gerhard Stäblers Madame La Peste" in Duisburg sowie die Konzerttournee von The Cooper Temple Clause.

Und Bücher: Carl Zuckmayers Porträtsammlung "Geheimreport" über Künstler und Schriftsteller im Nationalsozialismus, Jürg Altweggs Essays "Ach, du liebe Schweiz" und Lionel Cassons Band über "Bibliotheken in der Antike" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 29.04.2002

Das amerikanische Kartellrecht habe eine der mächtigsten Figuren des Kunsbetriebs zu einem Verbrecher gemacht, schreibt Sascha Verna über den Sotheby's-Skandal: Der frühere Chef des Auktionshauses, Alfred A. Taubmann, ist von einem New Yorker Gericht zu einem Jahr (und einem Tag) Gefängnis und einer Geldstrafe von 7,5 Millionen Dollar verurteilt worden. Sotheby's soll mit seinem Konkurrenten Christie's illegale Absprachen getroffen haben. "Dieser Aktion war ein ruinöser Kampf um potente Kunden und lukrative Sammlungen vorausgegangen, der wegen immer tieferer Kommissionsraten das Budget der Unternehmen umso mehr belastete, als sie sich längst nicht mehr auf das Versteigern von Kunst-und Kultobjekten (Jimi Hendrix' Gitarre, die Juwelen der Duchesse of Windsor) beschränkten. Christie's und Sotheby's operieren heute als Dienstleistungsmaschinen, sie vergeben Kredite, offerieren Lagerplätze und übernehmen die Aufgaben von Versicherungen. Im Nachhinein und rein überlebenstechnisch betrachtet erscheinen die Absprachen zwischen Sotheby's und Christie's durchaus sinnvoll."

Besprechungen widmen sich Richard Dressers "Goldenen Zeiten" an der Berliner Schaubühne (Regie: Thomas Ostermeier) und Knut Hamsuns "Spiel des Lebens" am Frankfurter Schauspiel (Regie: Armin Petras).

TAZ, 29.04.2002

Heute ist der letzte Montag im Monat, also gibt es die Freibank. Gabriele Goettle hat in Wien einen Kanalarbeiter besucht. Eine kleine Kostprobe von der Arbeit im Untergrund: "Wir nehmen an einem langen Tisch im leeren Versammlungsraum Platz, und nach wenigen Minuten kommt der Pressereferent mit dem Kanalarbeiter. Herr Rosner ist ein mittelgroßer, drahtiger, dunkelhaariger Mann Mitte vierzig. Nach kurzer Verlegenheit berichtet er in gemäßigtem Wiener Dialekt und zunehmend selbstbewusst von seiner Arbeit. Auf unsere Frage, was sich denn so alles an Seltsamkeiten im Abwasser der Kanäle finden lasse, erzählt er: 'Na, da ist vor allem Katzenstreu, das klumpt zusammen, die Leute entsorgen so was einfach ins Klo, dann eben Kippen und Essensreste. Haben wir mal einen Stromausfall, dann ham wir aus den Tiefkühltruhen die ganzen Knackwürsteln, es steht ja nicht drauf, von wem das kommt. Dann kann Schutt drin sein, von den Baustellen illegal entsorgt, und, na, da gibts viele Sachen.'"

Auf den Schwerpunkt-Seiten erklärt der Soziologe Joachim Kersten, warum wir trotz des Erfurter Amoklauf keine Monstergesellschaft sind. Vor allem die verbreitete Vorstellung, dass die Jugend immer gewalttätiger werde sei falsch. "Die Schule ist nach allem was an empirischen Daten verfügbar ist, nicht mehr so gewalttätig wie in den fünfziger und sechziger Jahren - zumindest nicht gegen Schüler. Es gibt mehr verbale Androhungen, aber weniger Körperverletzung und Morde. Die Pädagogik sagt trotzdem: Es wird alles immer schlimmer, die Jugend wird immer gewalttätiger. In dem apokalyptischen Gerede davon, dass es einen Verlust an Normen und Werten gibt, werden die Fakten einfach übersehen. Außerdem: Selbst wenn es stimmen würde, dass die Schule Ort von immer mehr Gewalt wird, muss man sehen, dass diese Amoktat an einem Gymnasium stattfand - und nicht an einer Hauptschule, nicht an einem Ort sozialer Desintegration."

Und schließlich Tom.

NZZ, 29.04.2002

Bisher haben die deutschen Feuilletons Oliver Gehrs' Buch über Stefan Aust geflissentlich ignoriert. In der NZZ bespricht es jetzt H. SF., ist allerdings nicht zufrieden: "Wer voyeuristische Lust auf solche Abrechnungen unter Journalisten hat, die mit ihrer Mischung aus Klatsch und Ressentiment immer auch Erhellendes über den Zustand des Medienbetriebs enthalten, wird mit Oliver Gehrs' unterhaltsam geschriebenem Buch durchaus gut bedient." Aber: "Oliver Gehrs versteht den Typus Aust nicht. Ähnlich wie Mathias Döpfner, der heute den Springer-Verlag leitet, und Frank Schirrmacher, der fürs Feuilleton zuständige FAZ-Herausgeber, gehört Aust zur in Deutschland neuen Spezies des journalistischen Managers, der die Bildung der öffentlichen Meinung nicht mehr in erster Linie in der Präzeptorenrolle des Leitartiklers betreibt, sondern Meinungsführerschaft als Mittel des unternehmerischen Erfolgs inszeniert. Diesem Phänomen kommt man mit Personalisierung nur bedingt bei."

Joseph Brodsky
wurde 1972 ins amerikanische Exil getrieben. Jetzt will Russland ihm ein Denkmal bauen, berichtet Felix Philipp Ingold. Wie das aussehen soll, ist noch umstritten, und auch die Finanzierung ist noch nicht geklärt. So hat die St. Petersburger Alfa-Bank zwar die "gestifteten Preisgelder gesichert, nicht aber die Kosten für die Ausführung und Aufstellung des geplanten Denkmals." Zur gleichen Zeit hat der Kritiker und Übersetzer Wiktor Kulle "ein Sonderheft der in Moskau neu erscheinenden 'Alten literarischen Rundschau' (Staroe literaturnoe obozrenie)" herausgegeben, "das seit kurzem - reich illustriert mit Faksimiles, Fotos und bisher unpublizierten Zeichnungen des Autors - unter dem Titel 'Eine neue Odyssee' vorliegt", schreibt Ingold. Enthalten sind unter anderem "eine Reihe von Originaltexten, die man bisher kaum hat lesen können, da sie entweder an entlegener Stelle publiziert oder bei der ersten Drucklegung durch redaktionelle Eingriffe verfälscht, bisweilen auch massiv gekürzt wurden."

Weitere Artikel: Philipp Meier schreibt zum Tod des Barons Hans Heinrich Thyssen. Che. meldet die Preise für Dokumentarfilme beim Filmfestival in Nyon. Und Gerhard Mack hat den Maler Alex Katz in seinem New Yorker Atelier besucht: "Seine Sujets sind eingängig, seine Gemälde sitzen, manchmal wie Keulenschläge. Vielleicht haben Galeriebesucher deshalb bis in die siebziger Jahre in seinen Ausstellungen randaliert. Und heute noch wollen ihm Passanten Freunde vermitteln, in deren Bar er vielleicht ausstellen könnte, wenn er draußen 'sur le motif' malt."

Besprochen werden Albert Ostermaiers Stück "Letzter Aufruf" in Wien, die Aufführung von "In Vain oder Reproduktion verboten" in der Zürcher Schiffbauhalle, Pina Bauschs neues Tanzstück in Wuppertal, die Schweizer Erstaufführung von Andre Previns Bühnenmusik "A Streetcar Named Desire" in der Oper in St. Gallen, György Ligetis Klavierkonzert gespielt von Roland Pöntinen und dem Tonhalle-Orchester in Zürich und die Sammlung Herzog im "Laboratorium für Photographie" in Basel.

Auf der Filmseite erinnert Michael Wenk an den nach Hollywood emigrierten Regisseur Henry Koster, der vor hundert jahren geboren wurde. Besprochen werden Thomas Schärers Studie zu den Zürcher Filmkursen von 1967 bis 1969 "Wir wollten den Film neu erfinden" und das starke Debüt "Schiza" der Kasachin Guka Omarowa.

FAZ, 29.04.2002

Die FAZ widmet einen Teil ihres heutigen Feuilletons dem Massaker in Erfurt. Dietmar Dath beschreibt den Attentäter als einen Helden der Popkultur. "Popkultur ist - wie jede Kultur - angewiesen auf das Versprechen einer Magie, die aus der sozialen Falle des Üblichen befreit. Jugendliche müssen die andere Seite dieser Falle kennenlernen dürfen, auch durch drastisch übersteuerte Darstellungen der Falle selbst. Sie müssen mehr und anderes tun können als kaufen und träumen: seltsame Pillen schlucken, sich als Verliebte mit Messerchen gegenseitig ihre Namen in die Arme schneiden, jemand völlig Fremden küssen. Sie sollen ihre Herzen und ihre Noten riskieren dürfen, aber nicht ihr Leben und das anderer." Dath plädiert dafür, dass sich die Kulturkritik ernsthaft mit der Popkultur auseinandersetzt und diese - "nicht borniert", sondern "kompetent" analysiert.

Jürgen Kaube denkt über die "Gewaltkulturindustrie" nach und stellt fest, dass es kein Grundrecht auf Unterhaltung gibt, die Gewalt einübt. Auch wenn man sich eingestehe, dass sich aus dem Einzelfall so gut wie nichts lernen lasse - "der Befund mangelnder Kausalität zwischen Spiel und Ernst rechtfertigt keineswegs eine völlige Indifferenz gegenüber jeglichem Spiel." Es gehe nicht darum, was diese Unterhaltungsprodukte "zweifelsfrei anrichten, sondern was sich in ihnen manifestiert, welchen Eindruck sie machen und welche Schlüsse sie ihren Konsumenten nahe legen..." Indifferent findet es Kaube etwa, dass das neue Waffenrecht Jugendlichen ab 10 Jahren das Schießen mit Druckluftwaffen erlaubt.

Auf der Medienseite wird die Berichterstattung über das Massaker im Fernsehen gegeißelt. Siegfried Stadler kritisiert die hektische Berichterstattung auf allen Kanälen, die Antworten wollte, als es noch keine gab. Vor allem aber geht es dem ZDF an den Kragen: Johannes B. Kerner "war überfordert, die Szenerie absurd, die Pannen nervig und das ZDF hat sich durch seine Entscheidung, das Thema live um 23 Uhr mit einem elfjährigen Augenzeugen zu diskutieren, auf Jahre hinaus für jede Diskussion über journalistische Standards disqualifiziert", schreibt Stefan Niggemeier. Jordan Mejias schließlich berichtet, dass die amerikanischen Medien bei aller Betroffenheit auch erleichtert sind, dass das weltgrößte Schulmassaker in Deutschland stattfand, nicht in den USA. Auf der letzten Seite beschreibt Harald Staun die öffentliche Trauer über die Morde an Schulen im Internet.

Weitere Artikel: Martin Halter berichtet von einer Tagung in Marbach, auf der Heinrich Schlaffer mit seinen Thesen zur deutschen Literatur und vor allem deutschen Literaten (keinen Deut hellsichtiger als ein Schuster) die Kollegen provozierte und das Publikum zu Beschimpfungen anregte: "Stellen Sie erst mal was auf die Beine ... Sie können doch nicht mal Märchen erzählen!"). Andreas Rosenfelder hat einem Streit über Neoliberalismus und die Renaissance des Kulturellen zwischen Bazon Brock und Michael Friedmann auf dem Bonner Petersberg zugehört.

Zhou Derong beschreibt die Schwierigkeiten von Hu Jintao, der Nummer 2 in China, bei seinem Besuch in den USA nicht zu viel Profil zu zeigen, aber auch nicht zu wenig. Zeigt er zu viel, könnte er sich in die Reihe unglücklicher Stellvertreter einordnen wie Liu Shaoqi, Lin Biao oder Hu Yaobang, deren "Profilierungswille den eigenen politischen, oft aber auch biologischen Tod" bedeutete. Zu wenig könnte ihm von den amerikanischen Medien übelgenommen werden. Michael Adrian berichtet über eine Tagung des deutschen Pen in Darmstadt, auf der unter anderem ein "Künstlergehalt" gefordert wurde. Und Eduard Beaucamp schreibt zum Tod von Hans Heinrich Thyssen-Bornemiza.

Besprochen werden Andre Werners Marlowe-Oper in München, Knut Hamsuns Stück "Spiel des Lebens" in der Inszenierung von Armin Petras in Frankfurt, eine Ausstellung amerikanischer Landschaftsmalerei in der Tate Britain, ein Konzert des Bluessängers Eric Bibb in Frankfurt, Richard Dressers Stück "Goldene Zeiten" an der Berliner Schaubühne, inszeniert von Thomas Ostermaier und Chuck Russels Film "The Scorpion King" (hat einen Stich, meint Michael Althen).