Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2002. In der NZZ wird Gott als Ur-Automobil geoutet. In der FAZ annonciert Jeremy Rifkin die neueste "biologische Bombe": eine künstliche Gebärmutter. In der SZ stellt Schimon Peres seinen Friedensplan vor. Die taz interviewt Ryszard Kapuscinski, dem auch alle anderen zum Siebzigsten gratulieren.

SZ, 04.03.2002

Viel Interessantes heute in der SZ: Israels Außenminister Schimon Peres etwa begrüßt in einem Beitrag die Pläne des saudi-arabischen Kronprinzen Abdallah grundsätzlich, um sich dann allerdings für seinen eigenen Plan stark zu machen. Man dürfe nicht, schreibt Peres, von einem "zu hohen Sprungbrett herunterspringen", um dann festzustellen, "dass das Schwimmbad leer ist. Unsere Antwort lautet darum, schrittweise vorzugehen und erst einmal zu beginnen, das Schwimmbad mit Wasser zu füllen - indem wir den Mitchell-Plan zur Erreichung eines Waffenstillstands kombinieren mit vertrauensbildenden Maßnahmen, mit der Rückkehr zu Verhandlungen auf der Grundlage meiner Vorschläge, die gemeinsam mit dem Sprecher des palästinensischen Parlaments entwickelt wurden."

Reinhard Brembeck sieht in Spanien einen neuen Glaubenskampf heraufziehen. Die dortige Bischofskonferenz hat nämlich beschlossen hat, die Selig- und Heiligsprechung von Isabella der Katholischen (mehr hier) in Gang zu setzen, der Königin der Reconquista und Inquisition. "Dennoch oder gerade deshalb galt und gilt Isabella den nationalkonservativ katholischen Kreisen Spaniens als Heilige, als bewunderte Garantin für die Einheit des Landes wie auch des Glaubens. Damit steht sie für jenen Teil der heute eher schon legendären 'Zwei Spanien' der seit der Besetzung durch Napoleon einen unerbittlichen Kampf gegen alle liberalen und fortschrittlichen Kräfte des Landes geführt, einen Kampf, der in der vom Katholizismus massiv unterstützten Franco-Diktatur seinen Höhepunkt erlebte."

Andrian Kreye empört sich über einen gemeinen, zynischen Coup des globalen Kapitals: Die schamlose Adaption der Protestkultur. Denn Sony hat ein Computerspiel mit dem Namen 'State of Emergency' auf den Markt gebracht, das die Protestler der antikapitalistischen Globalbewegung zu prügelgeilen Hip-Hop-Vandalen reduziere. Zwei Strategien bietet das Spiel an: "Versuche den Konzern zu stürzen oder verursache ganz einfach komplettes Chaos und Zerstörung".

Außerdem: Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler sprechen mit Wim Wenders und Wolfgang Niedecken über Fernweh, Heimweh und ihren Film "Viel passiert". Navid Kermani schreibt über eine verwirrende Reise nach Israel entlang sichtbarer Grenzzäune und unsichtbarer Verwerfungen. Thomas Meyer berichtet von einem Gadamer-Kolloquium in Heidelberg, und Volker Breidecker war auf einer Tagung zu dem Schriftsteller Johann Gottfried Schnabel und seiner "Insel Felsenburg".

Gratulationen zum Geburtstag gehen an den Frankfurter Politologen Iring Fetscher, den polnischen Reporter Ryszard Kapuscinski und an die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba.

Besprochen werden: eine Ausstellung der britischen Künstlerin Sam Taylor-Woods im Stedelijk-Museum in Amsterdam, eine Aufführung von Monteverdis "Ulisse" in Zürich, Yasmina Rezas neues Stück "Der Mann des Zufalls", eine zu kurze Inszenierung der "Maria Stuart" in Hamburg, Janaceks Oper "Yenufa" in Wien und Bücher, darunter die neu edierten Romane von Patricia Highsmith und Oskar Negts Analyse der Erwerbsgesellschaft "Arbeit und menschliche Würde" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 04.03.2002

Mit zwei Porträts wartet die taz-Kultur heute auf. Heike Harrhoff etwa hat den großen polnischen Reisenden und Reporter Ryszard Kapuscinski getroffen, der heute siebzig wird: "Da steht kein breitschultriger Abenteurer, der die Welt im Griff hat. Ryszard Kapuscinski hat einen leichten Silberblick und ist von einer Statur, die Fitnessstudios das große Geschäft wittern ließe. Sein Anzug ist so schlicht wie grau, und dennoch ist die Bescheidenheit bar jeder Koketterie: Ryszard Kapuscinski ist sich seiner Qualitäten und seines Ruhms durchaus bewusst. Er macht keinen Hehl daraus, dass er mit seinen Reportagen über Alltag und Krieg in Afrika und Lateinamerika, über Intrigen, Niedergang und Fall des Schah-Regimes oder des sowjetischen Imperiums so ziemlich sämtliche wichtigen europäischen Schriftstellerpreise abgeräumt hat. Und natürlich, sagt er, 'ist es eine gewisse Befriedigung, sagen zu können, du warst wirklich da, du hast das wirklich gesehen'."

Tobias Rapp porträtiert den Soulsänger Montell Jordan (mehr hier), der jahrelang "glaubhaft" davon gesungen habe, "jede ins Bett zu kriegen, die nicht rechtzeitig die Flucht ergreift", und nun dem Hedonismus abgeschworen haben soll. "All das hat natürlich auch einen starken Hau ins Religiöse. Der ganze Pathos, das ganze Sichhinstellen-und-Zeugnisablegen-über-die-eigenen-Verfehlungen ... Aber hey - wer will sich darüber lustig machen? Würden wir nicht alle Sonntag für Sonntag in die Kirche gehen, wenn dort Leute wie Montell Jordan singen würden - um mitzusingen?" (Vom Angucken hätte man auch schon was!)

Gerrit Bartels schließlich klärt in seiner "checkliste medizin" über Schizophrenie auf.

Und natürlich Tom.

NZZ, 04.03.2002

Geradezu samstäglich schöne Lesetexte präsentiert heute die NZZ.

Dokumentiert wird eine Rede des Rätoromanisten Iso Camartin zur Eröffnung des Genfer Autosalons. Er beschwert sich zunächst über die Hässlichkeit und mangelnde Triftigkeit des Begriffs "Automobil", um dann erst ans Eingemachte zu gehen: "Bei logischem und konsequentem Denken gibt es nur ein Wesen, das Automobil heißen dürfte, nämlich Gott selbst. Schließlich wissen wir auf Grund der Spekulationen unserer Meisterdenker, dass die Welt entstanden ist, weil Gott sich selbst bewegt hat. Das heißt: Gott hat sich ein Stück kleiner gemacht, als er war, damit neben ihm auch noch für die Welt Platz sei. Also ist Gott das erste und im strengsten Sinn des Wortes einzige Automobil, das es überhaupt gibt. Gott ist das Urautomobil."

Im "Kleinen Glossar des Verschwindens" erinnert sich Hans-Ulrich Gumbrecht an die "Stenorette", die seinem Vater zum Aufnehmen von Diktaten diente: "Die Stenorette seines Vaters stand auf einem Goldbrokatdeckchen, das anzufassen bei ihm einen (nie psychoanalytisch bearbeiteten) Brechreiz auslöste, obwohl doch offensichtlich war, dass dieses Deckchen allein der Gefahr von Kratzern vorbeugen sollte, welche die unsichtbaren Stenorettenfüße auf der Oberfläche des antiken Schreibtisches hätten verursachen können."

Weiteres: Susanne Schanda besucht zusammen mit dem Istanbuler Krimiautor Celil Oker die Schauplätze seiner Romane. Stefan Dornuf gratuliert Iring Fetscher zum Achtzigsten. Marta Kijowska gratuliert Ryszard Kapucinski zum Siebzigsten. Besprochen werden eine Ausstellung der Designer Ronan und Erwan Bouroullec (die vor zwei Jahren mit der Schlafkabine "Lit clos" Aufsehen erregten) in London, ein Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Warschau in der Tonhalle Zürich, ein Konzert der Pianistin Elisabeth Leonskaja mit dem Zürcher Kammerorchester und eine Ausstellung des Architekturfotografen Lucien Herve in Paris.

Ferner werden die Cesars, die französischen Oskars bekanntgegeben.

FR, 04.03.2002

Fritz von Klinggräff kommentiert den Thüringer Theaterkampf anlässlich einer Podiumsdiskussion in Weimar: Seit der Weimarer Stadtrat die Zwangsfusion seines Deutschen Nationaltheaters mit dem Erfurter Theater abgelehnt hat, fege "statt der großen Thüringer Theaterreform einmal mehr das Pathos der Kulturrevolution von Weimar aus über die ganze Nation. Die kleine Schar der Weimarer Kulturbürger zwischen Tourismus-Verein und Heimatzeitung nahm die Gelegenheit beim Schopf, nach Goethe, Friedrich Ebert und Gauleiter Fritz Sauckel einmal mehr ein 'Weimarer Modell' für ganz Deutschland zu verkünden."

Weitere Artikel: Karl-Heinz Heinemann berichtet, dass die Rechtschreibkommission zu dem Schluss gekommen sei, dass die Rechtschreibreform mitnichten abgelehnt werde. Karin Ceballos Betancur schreibt über die Kunst, in Buenos Aires ein Truthahnsandwich zu bestellen. Und Herfried Münkler gratuliert dem Frankfurter Politologen Iring Fetscher zum Achtzigsten.
 
Besprochen werden politische Bücher, darunter die Hannelore-Kohl-Biografien von Sohn Peter Kohl und von Patricia Clough (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 04.03.2002

"Die nächste biologische Bombe steht schon zum Abwurf bereit", meldet der Technologiekritiker Jeremy Rifkin (mehr hier). Überall wird an künstlichen Gebärmüttern gearbeitet. "In einem kleinen Forschungslabor an der Juntendou-Universität in Tokio arbeiten Yosinori Kuwabara und seine Kollegen an der Entwicklung der ersten funktionsfähigen künstlichen Gebärmutter - ein Plastiktank von der Größe eines Brotkorbs, der mit Fruchtwasser von konstanter Temperatur gefüllt ist. In den letzten Jahren gelang es Kuwabara und seinem Team, Ziegenföten zehn Tage lang in dieser künstlichen Gebärmutter am Leben zu halten, indem sie deren Nabelschnur an zwei Maschinen anschlossen, die statt der Plazenta Blut, Sauerstoff und Nährstoffe zuführte und die Abfallprodukte beseitigte." Was unseren Verdacht bestätigt, dass es der Biotechforschung vor allem um eine Abschaffung der Frau in der Kindeszeugung geht.

Wo ist eigentlich der (auch europäische) Widerstand gegen Silvio Berlusconi, fragt Dietmar Polaczek. Gerade wurde von Berlusconis Parlament ein Gesetz erlassen, wonach das größte Problem, "die Verfügungsgewalt über die größte landesweite Medien- und Verlagskonzentration Europas in einer Hand und in Personalunion mit der Regierungsgewalt" gar kein Problem ist: "Der Besitz eines Unternehmens stellt nach dem neuen Gesetz keinen Interessenkonflikt dar, 'solange der Besitzer keine Führungsfunktionen wahrnimmt'. Tatsächlich werden die Führungsaufgaben in Berlusconis Gesellschaften - von denen, die ohnehin nicht ihm, sondern seinem Bruder Paolo oder seiner Frau gehören, ganz abgesehen - von Dritten wahrgenommen. Der Vizepräsident von Mediaset? Piersilvio Berlusconi, zweiunddreißig Jahre alter Sohn Silvios. Die Holding Fininvest? Hat eine Vizepräsidentin: Berlusconis Tochter Marina, dreiunddreißig Jahre alt." Und auch die RAI wird inzwischen von Getreuen regiert.

Weitere Artikel: Martin Kämpchen fragt, ob in Indien ein Bürgerkrieg zwischen Moslems und Hindus droht. Stephan Wackwitz gratuliert Ryszard Kapuscinski zum Siebzigsten. Achim Bahnen resümiert ein deutsch-niederländisches Kolloquium über Bioethik. Dieter Bartetzko stellt das neue Frankfurter Wohnhochhaus "Skylight" vor, "dessen Apartments unter dem schwarzhumorigen Motto 'Der Himmel ist käuflich' angeboten wurden". Lorenz Jäger gratuliert dem Philosophen und Politologen Iring Fetscher zum Achtzigsten. Siegfried Stadler erzählt, wie Daniel Libeskind seine Bauprojekte in Dresden vor Bürgern verteidigte, Wolfgang Schneider resümiert ein Aachener Kolloquium von Editoren. Auf der Medienseite berichtet Sandra Kegel von der Zehnjahresfeier des Senders Kabel 1. Und Michael Hanfeld erzählt, wie German TV in den USA gegen Channel D antritt. Auf der letzten Seite stellt Dietmar Dath die Rockband "Rock Bottom Remainders" aus, die aus lauter prominenten Dilettanten wie etwa Amy Tan, Stephen King oder Greil Marcus besteht. Gerhard R. Koch kommentiert den Rückzug des Dirigenten James Levine nach Boston im Jahr 2004. Und Michael Grill resümiert jüngste Münchner Stadiondebatten.

Besprochen werden die Ausstellung "Die griechische Klassik - Idee oder Wirklichkeit" in Berlin, Maurizio Kagels neues Stück "Mare Nostrum" in Basel, eine Ausstellung der Grafikerin Blanche Lazzell in Boston, ein Auftritt der schwedischen Rockband "The (International) Noise Conspiracy" in Dresden, Michael Talkes Inszenierung des "Juden von Malta" in Bremen und Yasmina Rezas Stück "Mann des Zufalls" mit Mario Adorf in Berlin.