Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2001. In der taz warnt der britische Militärhistoriker Michael Howard vor dem "schrecklichen Irrtum" der westlichen Kriegsführung. Die FR berichtet, dass ausgerechnet in den multikulturellen Niederlanden die meisten Moscheen in Brand gesetzt werden. In der NZZ bespricht Gerd Koenen Lothar Machtans Buch über Hitlers Homosexualität.

FAZ, 07.11.2001

Deutschland geht in den Krieg, und Dirk Schümer schaut von Venedig aus zu, schaltet zurück ins Jahr 1980 und zeichnet ein paar Biografien nach, zum Beispiel diese: "1980 ist auch das Jahr, da Joschka Fischer bei den frühen Versammlungen der Grünen gemeinsam mit Joseph Beuys und Baldur Springmann pazifistische Lieder zum besten gab, etwa das klassische 'Wir wollen Sonne statt Reagan - ohne Rüstung leben'. Derselbe Fischer verteidigt heute als deutscher Außenminister den amerikanisch-britischen Einsatz gegen ein wehrloses Drittweltland mit Argumenten der Bündnistreue zum Big Brother jenseits des Atlantiks, notfalls auch mit einem Rekurs auf die Menschenrechte."

Krise in der Schweiz. Nach der Swiss Air geht nun auch der Haffmans-Verlag in den Konkurs, meldet Tilman Spreckelsen. Zwar will Gerd Haffmans weiter machen, aber Spreckelsen glaubt nicht recht daran: "Es ist erschreckend, wie viele alte Weggefährten mit Haffmans nichts mehr zu tun haben wollten, weil sie dem Verleger nicht mehr über den Weg trauten. Immer wieder war die Rede von undurchsichtigem Geschäftsgebaren, zu spät oder gar nicht bezahlten Rechnungen und auch überhasteten Lizenzvergaben zu Lasten der Autoren und des Verlags, 'nur damit schnell etwas Geld hereinkommt', wie Robert Gernhardt sich erinnert." Auch Gernhardt wird sich für seinen nächsten Gedichtband einen anderen Verlag suchen.

Gestern hatten wir uns beschwert, dass nichts zum Tod von Ernst Gombrich in der FAZ zu lesen war. Heute werden wir für das Warten überreich entschädigt: mit zehn Nachrufen. Als Redakteur schreibt Wilfried Wiegand: "Er dürfte der einzige Kunsthistoriker sein, den ein Millionenpublikum wirklich gelesen hat." Hinzukommen neun Texte von Kollegen und Freunden, darunter Alfred Brendel, Martin Warnke und Anthony Grafton, die allerdings nicht fürs Internet freigechaltet sind. Und Werner Hofmann schreibt: "Er war der liebenswürdigste erratische Block, den man sich vorstellen kann. Als solcher legte er sich quer zu allem, was er als modisch beargwöhnte. Das bekam besonders die Moderne zu verspüren, an der ihn das messianische Sendungsbewusstsein irritierte. Dem hielt er mit sokratischer List die Frage entgegen: 'Was soll's? So what?'"

Weiteres: Ulrich Olshausen bereitet uns auf das Jazzfest in Berlin vor. Josef Oehrlein berichtet aus Argentinien, dass Hebe de Bonafini, die jahrelang die "Mütter der Plaza de Mayo" anführte, diese Bewegung nun durch extremistische Äußerungen in Verruf bringt. Andreas Rosenfelder resümiert eine Tagung von Graphologen in München. Michael Hanfeld bringt neuesten Diskussionsstoff zur Frage, wer nun Intendant beim ZDF wird und porträtiert aus diesem Anlass den als Nachfolger gehandelten RTL-Mann Gerhard Zeiler, der behauptet, dass jede vierte Minute seines Senders der Information dient (wovon allerdings die Hälft auf die Tränen der Verona Feldbusch entfallen dürfte). Ferner resümiert Thomas Sören Hoffmann eine Tagung über "Menschenwürde" (mit dem Experten Robert Spaemann) in Bochum.

Besprochen werden die Ausstellung "Domestic Delights" im Rotterdamer Architekturinstitut, die sich mit der Geschichte holländischer Villenentwürfe befasst, Ferdinand Bruckners Schauspiel "Die Marquise von O.", das in Bochum nach Andreas Rossmann eine "wunderbar geglückte Wiederbelebung" erfuhr, Lortzing-Aufführungen im mittelsächsischen Freiberg, die Nordischen Filmtage in Lübeck, Saburo Teshigawaras Tanzstück "Luminous" in Mulhouse, eine Karl-Werschke-Ausstellung in Gera und die Ausstellung "abc des Ostens" über die Produktkultur der DDR in Eisenhüttenstadt.

SZ, 07.11.2001

Johannes Willms sieht bei aller Bündnistreue die Wehrpflicht in Frage gestellt. "Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist an sich schon mehr als fragwürdig. Ganz unmöglich aber wird er unter Bedingungen der Wehrpflicht." Die Pflicht zur "Verteidigung des Vaterlandes" sei zwar seit der Französischen Revolution "gewissermaßen gesellschaftsvertraglich verankert", meint Willms. Ob so eine Legitimation aber noch für einen Bündniskrieg in Afghanistan gültig ist, scheint fraglich. Schließlich fühlt sich Willms an Karl Kraus erinnert, der in seinen "Letzten Tagen der Menschheit" jemanden fordern lässt: "Mehr Stahl ins Blut!"

Richard Swartz hat Slobodan Milosevic, der von sich ja auch gern behauptet, dass er nur Terroristen bekämpfen wollte, vor dem Kriegsverbrechertribunal in den Haag beobachtet: "Mit dem fliehenden Kinn und den runden Wangen ähnelt Milosevic manchmal einer Bulldogge, einen Augenblick lang denke ich an Winston Churchill. Milosevic wäre gerne wie Churchill...Wenn Milosevic dann, die Arme vor der Brust verschränkt, still da sitzt, erkenne ich, dass der Vergleich mit der Bulldogge nicht stimmt. Mit seiner versteinerten, beleidigten, aber zugleich merkwürdig weinerlichen Miene erinnert er eher an einen Mops."

Außerdem ist heute Musik dran: Jonathan Fischer findet Alicia Keys (homepage mit Videos) fast so gut wie Aretha Franklin, nur schlauer. Pinky Rose meint, dass es auf AphexTwins' neuem Album "Drukqs" "klingklangt wie von Spieluhren, Kindergartengongensembles und altmodischen Computerspielkennungen". David Grubbs hat sich noch einmal die Platten des "Free-Jazz-Multiinstrumentalisten" Joe McPhee angehört  (mehr hier) und dabei über Relativität nachgedacht.

Besprochen werden: "The Man Who Wasn't There", der neue Film der Brüder Coen (mehr hier), Hannes Stöhrs Film "Berlin is Germany", die Ausstellung "Monets Vermächtnis: Serie - Ordnung und Obsession" in der Hamburger Kunsthalle, die Schau "Transient Spaces" der englischen Bildhauerin Rachel Whiteread in Berlin, sowie die Uraufführung von Kristof Magnussons Stück "Der totale Kick" am Staatstheater Dresden, Carlo Goldonis Komödie "Trilogie der schönen Ferienzeit" in Mühlheim und Bücher, darunter E. L. Doctorows Roman "City of God" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

NZZ, 07.11.2001

Andreas Köhler schickt Impressionen aus New York: "Die Gegend rund um Ground Zero sieht aus, als sei ein Tornado darüber hinweggefegt. Das gähnende Loch in seiner Mitte aber ist von keinem Foto und Videofilm in seiner imaginären Wucht zur Erscheinung zu bringen - ein Massengrab ohne Leichen. Und doch meint man beim Anblick des zu sinistrer Schönheit entstellten Stahlgerippes eins zu begreifen: Dieses Szenario ist durch keinen ähnlichen Anschlag zu überbieten. Der nächste Terrorakt, sofern er sich einer sichtbaren Ikonographie bedient, wird einer andren symbolischen Linie folgen."

Weitere Artikel: Gerd Koenen findet in einer ausführlichen Kritik von Lothar Machtans Buch über "Hitlers Geheimnis", dass man seine These von Hitlers Homosexualität allzu schnell abgetan habe. Cornelia Isler-Kerenyi fasst den deutschen Professorenstreit um Troja zusammen. Sabine Fröhlich resümiert Frankfurter Römerberg-Gespräche über Terror und Krieg. Besprochen werden eine Ausstellung über Norman Foster in Köln, die Komposition "Decasia" von Michael Gordon, die beim Basler Musikmonat uraufgeführt wurde, das neue Dokumentationszentrum über das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, eine Ausstellung über Eleonara Duse in Venedig, eine Ausstellung über die Geschichte des Linoleums in Karlsruhe und einige Bücher, darunter Aminata Sow Falls Roman "Die Rückkehr der Trommeln" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 07.11.2001

Bisher waren die Niederländer stolz, eine weitgehend konfliktfreie, multikulturelle Gesellschaft aufgebaut zu haben. Doch nirgendwo in Europa wurden in den letzten Wochen so viele Moscheen in Brand gesteckt wie in den Niederlanden, schreibt Klaus Bachmann und konstatiert, "dass erst die Anschläge in den USA offen gelegt haben, wie oberflächlich, ja paternalistisch der niederländische Diskurs über die so genannten 'Allochthonen' bisher war und wie sehr jede offene Debatte über die Kluft erstickt wurde, die einheimische und zugewanderte Niederländer trennt".

Weitere Artikel: Rüdiger Suchsland berichtet von einer Tagung über die Rolle und die Rechte des Körpers in Berlin. Petra Kohse würdigt das fünfjährige Bestehen der Berliner Sophiensäle, den "wichtigsten freien Produktionsort für Theater". Und ein Nachruf auf den Kunsthistoriker Sir Ernst Gombrich.

Besprochen wird eine Aufführung von Verdis Requiem in Berlin, das neue Album der Grunge-Band Garbage (homepage mit Videos), eine Retrospektive zum Werk des amerikanischen Künstlers Artschwager im Neuen Museum Nürnberg und die Ausstellung "Pygmalions Werkstatt" im Münchener Lenbachhaus. Die Medien-Seite sieht Angela Merkel in einem tiefgreifendem PR-Dilemma, und außerdem hat die FR heute eine Kinder- und Jugendbuchbeilage.

TAZ, 07.11.2001

Auf einer Schwerpunkt-Seite macht der britische Militärhistoriker Michael Howard (Gründer und Präsident des Internationalen Instituts für strategische Studien) einen schrecklichen Irrtum in der militärischen Logik des Westens aus: "Die Frontlinie in diesem Kampf (gegen den Terrorismus) ist nicht Afghanistan. Sie liegt in den islamischen Staaten, wo ein traditionalistischer Rückschlag modernisierende Regierungen bedroht: Türkei, Ägypten, Pakistan, um nur die offensichtlichsten zu nennen. Und sie verläuft auch durch unsere eigenen Straßen. Das ist der Grund, warum eine Verlängerung des Krieges so verheerend sein könnte. Noch verheerender wäre seine Ausweitung, wie die amerikanische Öffentlichkeit sie zunehmend zu fordern scheint, auf andere 'Schurkenstaaten', angefangen mit Irak, um denTerrorismus ein für alle Mal auszurotten, damit die Welt in Frieden leben kann. Mir fällt keine Politik ein, die besser dazu geeignet wäre,den Krieg nicht nur unbefristet zu verlängern, sondern auch sicherzustellen, dass wir ihn niemals gewinnen können."

Auf den Kulturseiten gibt es heute den zweiten Teil der Aufzeichnungen aus Pflegehäusern von Peter Fuchs und Jörg Mussmann: "Hochglanzindividualität als Uniformierung der Lebensvollzüge, bis kaum noch jemand von den alten Leuten weiß, worin er sich einstens unterschied von anderen Menschen, wo sein Proprium jenseits der Betreuung und Erledigung von Vitalfunktionen lag. Da ist es ein Glück, wenn nach dem Freiwerden eines Heimplatzes neue alte Leute kommen, die noch ein wenig störende Andersheit mitbringen - für eine kleine Weile.?

Außerdem wird der Nachruf auf den Kunsthistoriker Sir Ernst Gombrich nachgeliefert, der Ärzte-Sänger Farin Urlaub verteidigt seinen "Mut zur Pubertät", die Wiedereröffnung des Kölner Museum Ludwig wird gewürdigt und der Film der Coen-Brüder "The Man Who Wasn't There" besprochen.