Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2001.

SZ, 04.09.2001

Jakob Augstein erinnert angesichts von Franz Münteferings Sanktionsdrohungen gegen Abgeordnete seiner Partei, die nicht für den Mazedonieneinsatz stimmen wollen, an den Paragraphen 38 des Grundgesetzes: Danach sind die Abgeordneten "Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Im übrigen warnt Augstein Müntefering vor einer möglichen Retourkutsche: "Franz Müntefering hat die Abgeordneten daran erinnert, dass sie ihre Posten der Partei verdanken. Die Delegierten-Konferenzen beschicken die Listenplätze für den Bundestag: 'Den Delegierten ist natürlich das Verhalten der Abgeordneten präsent.' Er hat bei dieser Drohung jedoch übersehen, dass 12 der 19 Abweichler so leicht nicht einzuschüchtern sind. Sie haben ihre Wahlkreise direkt erobert."

Rainer Gansera hat in Venedig Laura Bettis Essayfilm "Pier Paolo Pasolini und die Vernunft eines Traums" gesehen, "bei dessen Vorführung die emotionalen Wogen hoch schlugen. Schon als Laura Betti den Kinosaal betrat, gab es standing ovations. Der überwiegend aus Archivaufnahmen und Ausschnitten kompilierte Film ist liebevolle Erinnerung, zärtliches Requiem, Evokation eines immer noch brisanten Vermächtnisses ? Pasolini revisited, aus der Sicht einer nahen Vertrauten."

Weitere Artikel: Helmut Schödel porträtiert den Chansonnier Tim Fischer, der mit einem Georg-Kreisler-Programm unterwegs ist. Der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger antwortet im Interview mit Gottfried Knapp auf Gregor Schöllgen, der der Stadt Nürnberg ein heuchlerisches Verhältnis zu ihrer Geschichte vorwarf ("Ich gebe Schöllgen Recht, dass die Stadt beim Umgang mit diesem Erbe nicht immer die glücklichste Form gewählt hat.") Jens Bisky meldet, dass der Bund weitere 10 Millionen Mark für die Berliner Kultur lockermacht. Tori Amos antwortet auf die Frage, was sie in letzter Zeit zum besseren Menschen machte (ihre Tochter).

Besprochen werden eine Ausstellung über Jean Paul im Zürcher Museum Strauhof, eine Ausstellung über den Psychiater und Kunstsammler Hans Prinzhorn in der Heidelberger Universität, die Deutschland-Tournee von David Thomas & Two Pale Boys (mehr hier), eine Schlagerplatte des "Herrn Spin" (mehr hier), ein Bändchen mit Jorge Sempruns Rede auf Norbert Gstrein anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer- Stiftung, Richard Hamiltons neuer Eiserner Vorhang für die Wiener Staatsoper und ein "Beethoven-Remix" von Christian von Borries beim Festival Luzern.

NZZ, 04.09.2001

Pia Horlacher ist nach wie vor nicht zufrieden mit dem Festival von Venedig: "Dort wurden uns weiterhin Gewalt, brutaler Sex und Grausamkeiten um die Ohren geknallt, wie wenn eine Gang aggressiver Halbwüchsiger aus den Slums der internationalen Metropolen die Programmauswahl besorgt hätte."

Sorgen um die hoch entwickelte Musikkultur im Irak macht sich Martina Sabra. Die Musiker emigrieren ? meist nicht aus politischen, sondern aus wirtschaftlichen und logistischen Gründen. "Auch Geld spielt eine Rolle, denn große Stars kassieren für ein Konzert im Ausland 50 000 Dollar Gage oder mehr, und an diesem Umsatz möchte das Regime beteiligt werden. In Exilantenkreisen erzählt man sich, Saddam Husseins Sohn Uday halte regelmäßig die Hand auf, wenn erfolgreiche irakische Exilkünstler nach Hause kämen. Von dem Schlagersänger Kazem as-Saher aus Bagdad - eine Art arabischer Julio Iglesias, der von Marokko bis Oman verehrt wird und mutmaßlich Millionen US-Dollars umsetzt - habe Uday sich diverse teure Autos 'schenken' lassen, berichten Auslandiraker. Nachdem Kazem as-Saher mit seiner Familie nach Kanada umgesiedelt ist, wird Uday sich nun wohl nach neuen Sponsoren für seine Auto-Leidenschaft umsehen müssen."

Besprechungen widmen sich dem 27. Jazzfestival in Willisau, Heinz Spoerlis "Fille mal gardee" am Zürcher Opernhaus, einer Wiener Ausstellung mit Hochhaus-Postkarten aus den USA (mehr hier), die der Sammler Luc Van Malderen zusammengestellt hat, und einigen Büchern, darunter Peter-Andre Alts Schiller-Biografie (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr.)

FR, 04.09.2001

Christian Thomas konstatiert anlässlich der Scharping-Affäre um ein paar Urlaubsfotos: Was die SPD "jetzt heimsucht, ist ihr Glaubwürdigkeitspathos".

Christian Schlüter bemüht Niklas Luhmann, um die jüngste Sozialhilfedebatte zu charakterisieren: "Das Besondere an der Gleichheit entdeckt Luhmann in ihrer Funktion als Norm, die ein soziales System von innen her stabilisiert, indem sie dessen Geltungsbereich, wie umfänglich er auch sein mag, begrenzt: Die Präferenz für die Gleichheit eröffnet und trägt die Unterscheidung zwischen gleich und ungleich." Undsoweiter.

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte sieht im Filmfestival von Venedig "die letzte Bastion der Linken" (jedenfalls scheint es nicht die letzte Bastion der Filmkunst zu sein ? es fällt schon auf, wie wenig die Reporter über die Filme schreiben). Besprechungen widmen sich Beethoven-Konzerten in Luzern und der großen Ausstellung über Otto den Großen und seine Zeit im Kulturhistorischen Museum Magdeburg.

FAZ, 04.09.2001

Tobias Döring berichtet über eine Umfrage des Times Literary Supplement, das elf Autoren, Kritiker und Übersetzer nach dem "bedeutendsten Buch" fragte, das "aus Afrika" gekommen sei. "Die großen panafrikanischen Utopien, mit denen der literarische Aufbruch in die Dekolonisierung einst begann, finden hier kaum Beachtung. Eine Ausnahme bildet nur der nigerianische Kritiker Chinweizu: Als wichtigste Schriften Afrikas nennt er die 'Pyramiden Texte' des Pharaos Ptahhotep aus dem vierten vorchristlichen Jahrtausend, deren 'Werte' in die mosaischen Gebote ebenso eingegangen seien wie in die christliche Doktrin. In pointierter Umkehrung kolonialer Deutungsmuster wird hier das gesamte Abendland zur Fußnote einer großen afrikanischen Tradition erklärt, und Chinweizu wahrt so seinen Ruf, die kulturnationalistischen Debatten der siebziger und achtziger Jahre ungebrochen fortzuführen."

Dietmar Polaczek hat das Rossini Opera Festival in Pesaro besucht und fand ein "italienisches Stereotyp" bestätigt: "Zuerst muss eine kritische Situation entstehen. Dann antworten die gerühmten Stärken des Landes - Improvisationskunst, Phantasie, Erfindungsgabe - der Herausforderung mit Macht, auf dass aus der Katastrophe eine Beglückung erwachse." Sodann widmet sich Polaczek mit Hingabe den "glänzenden" Neuinszenierungen von "La Gazzetta", "Le nozze di Teti" und "La donna del lago".

Weitere Artikel: Georg Diez stellt Eric Schlossers "Großreportage" über MacDonalds und die "Fast Food Nation" vor, das demnächst auf deutsch erscheint (hier ein Interview mit dem Autor aus Atlantic Monthly). Reinhard Wandtner stellt ein Bonsai-Gen vor. Dirk Schümer schreibt über Filme von Teresa Villaverde, Damien Odoul und Paolo Sorrentino in der Nebenreihe der Biennale von Venedig. Harald Biermann berichtet über eine Tagung in Hamburg, die sich dem "totalen Krieg" widmete. Stephan Sahm macht am Beispiel des Lipobay-Skandals darauf aufmerksam, dass nicht nur Chirurgen wegen Kunstfehlern verklagt werden können, sondern auch Ärzte, die über Nebenwirkungen eines Medikaments nur ungenügend aufklären: Ein schlichter Hinweis auf die Informationen im Waschzettel genüge nicht. Horst Rademacher berichtet, dass der Milliardär James Clark, Mitbegründer von Netscape, einen Teil seiner 150 Millionen Dollar Spende für ein Zentrum für biomedizinische Forschung an der Stanford University aus Protest gegen die Stammzell-Entscheidung George W. Bushs storniert hat. Acba berichtet über ein Interview mit dem Astrophysiker Stephen Hawking , das in Focus erschienen ist: wie Bill Joy hält auch Hawking die Gefahr für real, dass Computer 'Intelligenz entwickeln und die Welt übernehmen'.

Nicht im Netz: Rainer Flöhl schreibt zum Tod des Chirurgen Christiaan Barnard, der als erster 1967 ein menschliches Herz transplantierte. Gina Thomas schreibt zum Tod des englischen Verlegers Lord Hamlyn. Jürg Altwegg wirft einen Blick in schweizerische Zeitschriften. Robert von Lucius berichtet über eine Streit um die Datierung von Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei" in Oslo.

Besprochen werden Michel Houellebecqs neuer, bisher nur auf französisch erschienener Roman "Plateforme" (der Autor bewähre sich hier als "Routinier seines Schreibfachs", meint Joseph Hanimann wenig begeistert), eine Aufführung von Fassbinders "In einem Jahr mit 13 Monden" in Dortmund, politische Bücher und Sachbücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite denkt Jörg Thomann über den Fall des Fernsehmoderators Ingo Dubinski nach, der kürzlich zugegeben hat, einst für die Stasi gearbeitet zu haben. Thomann nennt Dubinski den "fleischgewordenen Fernsehnachmittag: adrett, harmlos, anständig, nicht besonders schlagfertig oder inspiriert", gibt dann aber zu bedenken, dass nicht jeder frühere IM behaupten könne, sich schon nach wenigen Monaten den Fängen der Stasi entzogen zu haben, zumal im Alter von gerade erst neunzehn Jahren, und dadurch den eigenen Lebensplan zu begraben." Dubinski hatte auf seinen Studienplatz in Moskau verzichtet.

Auf der Bücher- und Themen-Seite schließlich skizziert der Göttinger Rechtswissenschaftler Christian Starck die künftigen Aufgaben der Rechtsdogmatik in Europa.

TAZ, 04.09.2001

Daniel Bax hat an der Stelle, wo in Genua ein 23-jähriger Globalisierungsgegner getötet wurde, neben Blumen und linkem Devotionalienkitsch unter anderem Porträts von Che Guevara und Bob Marley gesichtet und gerät darüber ins Meditieren. "Interessanterweise sind es ausgerechnet altbewährte Popikonen des Antiimperialismus der Siebzigerjahre, die für die Protestierenden von heute noch immer ungebrochene symbolische Bedeutung besitzen. Zwar existiert jener einst monolithisch gedachte Komplex 'Dritte Welt', für die der Revolutionär wie der Reggaestar einmal stellvertretend standen, so nicht mehr... Offenbar aber hat die neue internationale Protestbewegung noch keine eigenen popkulturellen Identifikationsfiguren und ästhetischen Symbole hervorbringen können, die es mit den altbewährten aufnehmen könnten."

Amin Farzanefar porträtiert den ägyptischen Regisseur Yousri Nasrallah, dessen Dokumentarfilm "El Medina" gerade in deutschen Kinos läuft: "Seine Problemfelder heißen Verwestlichung, Nepotismus, Despotismus, Korruption. Nasrallahs Taktik ist dabei nicht leicht zu fassen. Zum einen ist er bekennender Grenzgänger, der seine politischen Themen immer zwischen verschiedenen sozialen Milieus, Ländern und (Sub-)Kulturen - auch zwischen Dokumentarfilm und Fiktion - positioniert. Zweitens erscheint er als Rebell, der einmal etablierte Formen und Inhalte sofort wieder kippt, um neue Aspekte aufzuwerfen."

Weiteres: Katja Nicodemus berichtet über eine Pressekonferenz in Venedig zu einem Film über die G8-Konferenz in Genua, der aber dummerweise nicht fertig geworden ist, und über Andre Techines neuen Film "Loin". Besprochen werden neue Bücher von Bill Broady, von Angeilka Klüssendorf und Dave Berry (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).