Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.05.2001.

TAZ, 12.05.2001

Der französische Schriftsteller Frederic Beigbeder, der mit seinem Roman über die Werbung, "99 Franc" (im Deutschen unter dem Titel "39,90" erschienen), in Frankreich für Furore sorgte, plaudert im Interview über Werbung, Marken und die Macht der Bücher. Er selbst trägt übrigens Levis-Jeans. "Genau das meine ich ja: Ich kritisiere Levis, weil das Unternehmen seine Produktion von Europa in die Billiglohnregion Südostasien verlegt hat. Trotzdem trage ich Levis-Jeans. Also Vorsicht: Ich behaupte nicht, ein Vorbild zu sein. Oder Che Guevara. Ich bin nur ein Schriftsteller, der die Widersprüche aufdecken will, in denen wir alle leben. Mein Roman funktioniert wie ein Vergrößerungsspiegel, in dem sich jeder wieder erkennt und sich dabei ärgert."

Katja Nicodemus beschreibt in ihrer Cannes-Kolumne den Director's Cut von "Apocalypse Now": "Neben vielen kleinen Einfügungen, Umschnitten und Veränderungen der Musikeinsätze haben Coppola und Murch drei größere Szenen wieder eingefügt, die damals noch als erzählerisches Wagnis und Produzentenprovokation empfunden wurden und den Wahnsinn noch vergrößern ... Die längste und einschneidendste Einfügung besteht aus einer Dinnereinladung französischer Plantagenbesitzer, bei denen Willard auf seinem Weg zu Colonel Kurtz Station macht: ein Häuflein unbeugsamer Franzosen, die mit Kristall und Tafelsilber speisen, Baudelaire zitieren, hasserfüllte Anti-68er-Monologe halten, Opium rauchen und die Plumpheit der amerikanischen Kriegführung beschimpfen."

Die taz-Redaktion hat außerdem eine Liste von Schallplatten zusammengestellt, die Gerhard Schröder im Bundeskanzleramt deponieren soll. Mit dabei: Keith Jarret, Jethro Tull, Scorpions, Rolling Stones, Al Stewart. Das ist ja gruselig! Wer war das?

Besprochen werden die Kurzfilmtage in Oberhausen und Schlingensiefs Hamlet-Inszenierung in Zürich. Tobi Müller war enttäuscht: "Die Inszenierung, das Produkt, müht sich ab an einem vielfach fantasierten, aber kaum mehr existierenden Deklamationstheater, kleidet sich in das historische Gewand deutscher Nachkriegs-Theaterrestauration, für die hier Gründgens steht."

Außerdem ist Harald Fricke im deutschen Feuilleton der Einzige, der Joseph Beuys (wäre heute 80 geworden) vermisst.


Im taz mag liefert Andreas Willisch einen Beitrag zur "'Faulenzer'-Debatte" in Form einer Reportage über Arbeitslose vor einem Supermarkt im Prenzlauer Berg: "Wie rettende Inseln sind diese Haltemilieus über die Stadt verteilt. Im Osten mehr als im Westen, weil der Entlassungsschub viele zur gleichen Zeit erreicht hat und daher die gesellschaftlichen Stigmatisierungen nicht auf den Einzelnen allein verweisen konnten. Deshalb auch scheinen hier die Regeln eines ganz normalen Lebens noch nicht vollständig außer Kraft gesetzt zu sein. Solidarität, Ordnung und die Suche nach Gelegenheitsjobs sind hier noch auffällig selbstverständlich."

Weitere Artikel: Kirsten Küppers schreibt über ostdeutsche Akademiker, die keinen neuen Job finden, weil sie überqualifiziert und angeblich zu alt sind. Jürgen Meier denkt über Magersucht als "ideologische Sinnestrübung" nach. Paul Parin meditiert über Heimat. Elisabeth Wagner beschreibt, wie die lettische Popgruppe "Brainstorm" (dritter Platz beim Grand Prix 2000) für ein besseres Verhältnis zum Nachbarn Estland sorgt. Und schließlich gibt es noch eine Liste, auf der alle Interpreten des Grand Prix 2001 vorgestellt werden.

FAZ, 12.05.2001

Morgen sind Wahlen in Italien - und nicht mal am Vortag bringt das FAZ-Feuilleton einen Aufmacher zum Thema - Dietmar Polaczeks Artikel steht auf Seite 4. Er hat Berlusconis "Vertrag" mit der italienischen Bevölkerung gelesen und macht folgende trockene Bemerkung: "Nach Schätzung von Steuerexperten wird die Senkung der Erbschafts- und Schenkungssteuern bei einem Übergang der Fininvest-Anteile auf Berlusconis Kinder etwa eine Milliarde Mark ausmachen."

Wahlen sind sind auch im Baskenland. Paul Ingendaay schildert noch mal die Position der "Separatisten": "Eine sich demokratisch nennende Partei mit Regierungsverantwortung versucht, einer Bevölkerung von etwa zwei Millionen Menschen ein nationalistisches Geschichtsbild als Zukunftsprogramm zu verkaufen, das die freie Meinungsäußerung und die demokratische Willensbildung außer Kraft setzt."

Bei Gerhard Stadelmaier kommt Schlingensiefs "Hamlet" nicht besonders an (âuch hier spricht die Platzierung des Artikels auf Seite 4 des Feuilletons Bände). Natürlich, da war Schlingensiefs Aktionismus vor der Premiere. "Aber dann auf der Bühne... Die Nebelmaschine wallt, die Pappekulissen sind tief gestaffelt. Die Figuren verschwinden schon mal in Bodenluken. Aber bis auf die Tatsache, daß er sie als Zombies beschwor, konnte Schlingensief mit Shakespeares Personen nichts anfangen. Er kann sie nicht führen, ihnen keine Sprache geben, keine Welt schaffen außer der Welt des Zitats."

Weitere Artikel: Jochen Hieber schreibt zum Tod von Klaus Schlesinger. Christian Geyer stellt fest, dass die öffentliche Meinung, die er ja selbst prominent vertritt, mehrheitlich gegen die Manipulaition von Embryonen ist. Jürgen Kaube schreibt über die Reform des geisteswissenschaftlchen Ausalndsinstitute, denen im Innenteil eine ganze Seite mit Artikeln aus Rom, Paris, Warschau, Washington und London gewidmet ist. Wilfried Wiegand bezeichnet in seinem heutigen Cannes-Bericht Mohsen Makhmalbafs Film "Reise nach Kandahar", der sich mit dem afghanischen Extremfundamentalismus auseinandersetzt, als "ersten Höhepunkt des Festivals". Hans-Dieter Seidel gratuliert Senta Berger zum Sechzigsten. Jüg Altwegg liest französische Zeitschriften, in denen es um Mitterrand - wen sonst? - geht. Martin Thoemmes berichtet über eine extreme Rechtswendung der einst von Vertriebenen ins Leben gerufenen Ostsee-Akademie. Und Dieter Barteztko beschreibt die neue schweizerische Botschaft in Berlin.

Besprochen werden eine Austellung der Sammlung Claribel und Etta Cone in Baltimore, die Schikaneder-Oper "Der Stein der Weisen" in Augsburg und das "Pro musica antiqua"-Festival in Bremen.

Bilder und Zeiten bringt immerhin einen größeren Artikel über Berlusconi. Heinz-Joachim Fischer sieht die Sache ausgesprochen gelassen: "Die Kritiker Berlusconis, ob aus ideologischen Gründen oder beruflicher Verpflichtung, übertreiben zuweilen kontraproduktiv oder wirken kurios, wie etwa Umberto Eco, Schriftsteller und politisierender Publizist, der für besonders infam hält, dass in den vergangenen Monaten das rechte Wahlbündnis eine professionelle Werbe-Wahlkampagne über die Italiener hat niedergehen lassen, mit Anleihen bei kommunistischen Machtregeln und den Methoden der revolutionären '68er-Generation'." Und mit Hilfe der Privatsender, die zu 90 Prozent dem Kandidaten gehören.

Weitere Artikel: Charles Simic erzählt, wie er mit Buster Keaton lachen lernte. Felicitas von Lovenberg schreibt zum 100. Geburtstag von Rose Ausländer. Und Ludwig Harig legt eine Recherche über Alain-Fournier im Roman und im Krieg vor.

In der Frankfurter Anthologie stellt Barbara Frischmuth ein Gedicht von Ernst Stadler vor: "Ich bin nur Flamme, Durst und Schrei und Brand..."

SZ, 12.05.2001

Die SZ bringt einen beherzten Appell Umberto Ecos für ein moralisches Referendum. Eco erklärt, warum ein Wahlsieg Berlusconis "in keiner Weise zur demokratischen Dialektik gehört:" Die Folge wäre die Errichtung eines De-facto-Zensur-Regimes. Sowohl die überzeugten Anhänger des Cavaliere wie auch die Masse der bloß materiell gesteuerten "faszinierten Wählerschaft" aber auch die "entmotivierten Linken" ruft Eco auf, Verantwortung zu übernehmen: "Gegen die Errichtung eines faktischen Zensur-Regimes, gegen die Ideologie des Spektakels und für die Bewahrung der Informationsvielfalt in unserem Lande, betrachten wir die anstehenden Wahlen als ein moralisches Referendum, dem sich niemand entziehen darf."

Rechtzeitig zum Muttertag wagen die Münchener "ein paar Prognosen, wie sich das verhalten könnte mit den Müttern der Zukunft." Eher düster schaut 's da aus für unsere Spezies. Wenn das Modell-Ideal in den Köpfen die Gebärfreudigkeit erst unmöglich gemacht hat, wenn Mutterschaft zu einem Akt genetischer Dienstleistung verkommen und der Anteil der Frauen an der Weltbevölkerung weiter gesunken ist - dann wird nicht nur der Mythos "deutsche Mutter" an sein Ende gekommen sein. Oder aber sie übernehmen die Macht, die Frauen, die Mittel - und die Mutterschaft.

Weitere Artikel: Mutmaßungen über Dinge, die in Cannes nicht auf die Leinwand kommen. Dann: Eine Erinnerung an den großen künstlerischen Anreger Joseph Beuys, der an diesem Wochenende 80 geworden wäre. Und ein Nachruf auf den Berliner Journalisten und Schriftsteller Klaus Schlesinger.

Und besprochen werden: Recht wohlwollend Schlingensiefs Zürcher "Hamlet", Andreas Dresens Film "Die Polizistin", Reinhard Febels neues Musiktheaterwerk "Besuchszeit" in Bonn. Und, als Lesetipp, Sibylle Mulots Liebesgeschichte "Das ganze Glück" (siehe auch unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr).

In der SZ am Wochenende können wir lesen, wie in den USA zwischen Historie und Disneyworld, zwischen Fakt und Fake, unterschieden wird: Gar nicht nämlich. "Vergangenheit und Gegenwart", schreibt Sabine Heinlein, die sich in verschiedenen Themenparks umgesehen hat, "sind in Amerika gleichsam in der Fiktion wie in der Realität verortet ... die Grenzen zwischen der Nachstellung eines historischen Ereignisses und einem Theaterspektakel sind fließend. Aus Geschichte werden ... Geschichten gemacht, und aus Geschichten wiederum Geschichte."

Außerdem stellt Claudia Wessel "die demokratischen (Stil-)Blüten der Online-Literatur" vor, erzählt der Chinese Bei Ling von den Gefahren, in China eine Literaturzeitschrift herauszugeben, sagt Andrea Exler, warum es karrierebewusste Frauen in Frankreich leichter haben und erklärt Friedemann Bedürftig in seiner "Hermeneutik sonderbarer Vokabeln" den Unterschied zwischen Urinsekten und Urin-Sekten.

Und dann war da noch dies traurig-schöne Ende der Ballade vom Nashorn, das des Fräuleins Gatten, den Großwildjäger, fraß:
Wie schließt denn die Ballade?Das Nashorn wankt ins Abendrot, das Fräulein springt in seinen Tod wohl von der Balustrade.

FR, 12.05.2001

In Cannes hat neben vielen sehr mäßigen Filmen (den Eindruck hinterlässt der Bericht von Peter Körte leider) auch eine neue Kino-Weltordnung Premiere. Sollte es den Kontinent Kino tatsächlich geben, meint Körte, dann bleibe auch er von der Globalisierung nicht verschont. Wohin die maßgeblich durch die Fusion von Vivendi mit Universal eingeleitete neue Ära führen wird, sei nicht klar, "sicher ist nur, dass sie die Vivendi-Tochter Canal plus endgültig zum größten Player in Europa gemacht hat." Wenn die mehr als 25 Prozent aller Filme im offiziellen Programm von Cannes nun tatsächlich aufs Konto von Canal plus gehen (der auch die Eröffnungs- und die Schlussgala inszeniert), wie Körte schreibt, und sich Filme gleichzeitig mit "Kitsch, Klischee und Cartoon" bescheiden, so Baz Luhrmanns Eröffnungsbeitrag "Moulin Rouge", steht es aber wohl nicht allzu gut ums Kino.

Das Leiden und Sterben Gustav Mahlers (vor ziemlich genau 90 Jahren übrigens) hat Stefan Schomann rekapituliert. Schomann präsentiert uns den Komponisten als am Seitensprung seiner Frau (mit Walter Gropius) und an einer gewissen Unfähigkeit in Liebesdingen zugrunde gehendes Nervenbündel - und als Patient Freuds: "Auf diskrete Art ist der Fall Mahler sogar in Freuds Gesamtausgabe eingeflossen. In ... 'Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens' geht der Seelenarzt den Ursachen psychischer Impotenz nach. Er referiert die 'nicht überwundene inzestuöse Fixierung an Mutter und Schwester'. Soweit Sexualität stattfinde, sei sie 'launenhaft, leicht zu stören, oft in der Ausführung inkorrekt, wenig genußreich'. Den fundamentalen Zwiespalt solcher Fälle bringt der Meister auf die Formel: 'Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben.'" Mahler aber starb an entzündetem Herzen.

Ferner in der FR zu lesen: Wie eine Koreanerin Schalke-Fan wurde. Und wie die Kultsendung "Aktenzeichen XY ... ungelöst" solidarische Gefühle stiftet. Schließlich noch die Bekanntmachung mit einem sonderbaren Zeitgenossen, der an der noch sonderbareren Bambusstabbwirbelsäule laboriert: Becketts Murphy, als zweiter Teil der "Literaturszenen".

Rezensionen gibt 's zu einer Jubiläumsedition der Gedichte von Rose Ausländer, zum neuen Buch von Elke Naters, zu Peter Wawerzineks "Sperrzone reines Deutschland", zum Band "Smile i-D. Fashion and Style: The Best from 20 Years of i-D" (siehe auch unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr) sowie zur Ausstellung "Das Versprechen der Fotografie" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle und zu Schlingensiefs "Hamlet" in Zürich.

NZZ, 12.05.2001

Auweia. Barbara Villiger Heilig lässt aber kein gutes Haar an Schlingensiefs "Hamlet", der nun endlich in Zürich aufgeführt wurde. Zuerst geißelt sie seinen Aktionismus als Selbstinszenierung, und dann das: "Der neuste Zürcher 'Hamlet' ist, wen überraschte das, ein Etikettenschwindel. Zudem hat er ein Labelproblem: Das Stück, das gar keines ist, geht zwischen Markenzeichen - Schlingensief und Gustaf Gründgens, Neonazis und Nationalsozialismus - unter. Ausserdem erweist sich die Büchse der Pandora als Konservendose mit längst abgelaufenem Verfalldatum. Kaum geöffnet, verbreitet sie nicht einmal mehr den fauligen Geruch des Staates Dänemark, denn wo kein Leben war, gibt es auch keine Verwesung."

Weitere Artikel: Christoph Egger resümiert die ersten Tage in Cannes. Jeannette Zwingenberger hat eine Ausstellung der japanischen Pop-Art-Künstlerin Yayoi Kusama im Pariser Maison de la Culture du Japon besucht. Pula Jandl kommentiert den Abschied des österreichischen Kolumnisten Richard Nimmerichter, der mit achtzig Jahren in Pension geht. Besprochen werden die Oper " Madame de" von Jean-Michel Damase in Genf, ein Workshop und Klavierrezital mit Clare Fischer in Luzern und eine Ausstellung mit dem Mobiliar von Carlo Bugatti im Pariser Musee d'Orsay.


In der Samstagsbeilage Literatur und Kunst fragt Martin R. Dean, warum gerade Schriftsteller zur Hypochondrie neigen: "Nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Literatur kommt es zu einer geheimen Allianz zwischen Wort und Körper, zwischen den oftmals kränkelnden Autoren und der Literatur als Unternehmen der Gesundheit."

Ein kleines Dossier widmet sich den Geisteswissenschaften und ihrem Verhältnis zu den Naturwissenschaften. Uwe Justus Wenzel meditiert dabei über die "Kulturwissenschaften". Michael Hagner plädiert für einen "gelassenen Pluralismus" der beiden Wissenschaftskulturen. Und Jürgen Mittelstrass legt "Thesen zur transdisziplinären Aufgabe der Geisteswissenschaften" vor.

Claudia Schawartz versucht noch mal sich dem umstrittenen Anbau der Architekten Diener & Diener an die Schweizer Botschaft in Berlin (das ZDF hat einige Bilder dazu ins Netz gestellt) anzunähern, die in diesen Tagen eröffnet wird. "Die schweizerische Botschaft wird auch in Zukunft ein Haus sein, wo die Zeitsprünge erfahrbar bleiben. Zwischen dem alten Palais und dem neuen Anbau liegen über hundert deutsche Jahre, ein Berliner Jahrhundert und die grossen Umbruchzeiten der Architektur. Man kann das auf den ersten Blick sehen. Die Basler Architekten Diener &Diener haben sich nicht für eine Befriedung der Verhältnisse entschieden, sondern für eine Betonung derselben."

Besprochen werden einige Bücher, darunter eine Byron-Biografie von Benita Eisler und eine Anthologie englischer und amerikanischer Dichtung (siehe auch unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr).