Heute in den Feuilletons

Sport und Gemüse

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2013. In der FAZ freut sich Constanze Kurz: Drei britische Organisationen klagen vor dem Europäschen Gerichtshof gegen Tempora. John Lanchester fordert im Guardian eine Digital Bill of Rights. Jonathan Franzen ist dem FAZ-Redakteur Dietmar Dath nicht kommunistisch genug, weil er das Netz zwar verdammt, aber nicht mit Haut und Haar. taz und SZ interpretieren die allerneueste Suhrkamp-Gerichtsentscheidung als Sieg für Ulla Unseld-Berkéwicz. Eine in Cision präsentierte Umfrage zeigt: Deutschlands Journalisten können Facebook und Twitter nicht. Die NZZ steht vor Munch und kann nur staunen.

Guardian, 04.10.2013

Wir schlafwandeln in eine vollkommen neue Art von Gesellschaft, in einen Überwachungsstaat, wie es ihn noch nie gegeben hat, warnt in einem großen Essay der britische Schriftsteller John Lanchester, dem beim Lesen der Snowden-Papiere das Blut gefror: "Britannien ist bereits die am meisten ausspionierte, beobachtete und überwachte demokratische Gesellschaft, die es je gegeben hat. Dies scheint nicht diskutiert oder debattiert zu werden, und ich kann mich auch nicht daran erinnert, jemals aufgefordert worden zu sein, darüber abzustimmen." Lanchester fordert zum Schutz der Bürger eine "digital bill of rights": "Die wichtigste Klausel in diesem Gesetz wäre, dass die digitale Überwachung nur so zielgenau eingesetzt werden darf wie die Überwachung des Briefverkehrs und des Festnetz-Telefonverkehrs. Keine Schlupflöcher für Massenüberwachung mehr."

FAZ, 04.10.2013

Endlich tut sich auch in Europa etwas gegen den Überwachungsskandal, berichtet Constanze Kurz: "Drei angesehene britische Organisationen - Big Brother Watch, die Open Rights Group und der englische PEN - haben bekanntgegeben, gegen den britischen Geheimdienst und gegen die für ihn verantwortliche britische Regierung zu klagen. Sie wollen den millionenfachen Eingriff in das Kommunikationsgeheimnis nicht nur der Briten, sondern im Grunde den überwiegenden Teil aller Europäer und Amerikaner nicht mehr hinnehmen." Geklagt wird vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Konkret berufen sich die drei (eigentlich sind es vier, Constanze Kurz ist auch dabei) auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die auch Britannien unterzeichnet hat.

Patrick Bahners liest Jonathan Franzens Versuch, eine Auswahl aus "Die Fackel" (hier alle Ausgaben nach Anmeldung online) des als unübersetzbar geltenden Karl Kraus ins Englische zu übertragen (hier die davon wenig begeisterte Rezension der New York Times). Dietmar Dath sieht sich unterdessen gezwungen, den vehement unkorrumpierbaren deutschen Autor vor seiner relativierenden Vereinnahmung durch den amerikanischen Schriftsteller insbesondere hinsichtlich dessen abwägender Netzkritik zu schützen: "Die Unbedingtheit ist Voraussetzung der Unbestechlichkeit - indem Franzen, der es mit Kraus gut meint, das abschleift, nimmt er ihm gerade das, was in Zeiten der überall ausposaunten Interaktivität, Partizipation, Kommunalität der eigentlich radikale Kritikansatz wäre: Die Unversöhnlichkeit, die sich nicht nur spezifischen technischen Vermittlungsarten, sondern den damit verbreiteten sozialen Inhalten selbst verweigert - den falschen Vergesellschaftungsweisen, Besitzverhältnissen, Ausschlussmechanismen und Einschließungsfallen."

Weiteres: Markus Bickel berichtet über die nach wie vor gefährliche Lage der Kopten in Ägypten. Marcus Jauer überprüft in Brandenburg beim Paintball-Spielen, ob in ihm ein Krieger steckt. Jürgen Dollase vermisst in den Speisen des belgischen Restaurants Li Cwerneu das letzte bisschen Struktur.

Besprochen werden diverse neue Verdi-Aufnahmen, das Debütalbum von FAZ-Popkritiker und Rolling-Stone-Blogger Eric Pfeil (hier interviewt er sich selbst und hier kann man in das Album reinhören), das neue Album von Cher, eine Frankfurter Bühnenadaption von Dürrenmatts "Das Versprechen", die Markus Bothe mit dem Filmklassiker "Es geschah am hellichten Tag" kreuzt, aktuelle Verdi-Aufführungen in Mönchengladbach und Dortmund, neue Autofilme im Kino und David Marksons Roman "Wittgensteins Mätresse" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Welt, 04.10.2013

Für die zuweilen selbst eher europaskeptische Welt quält sich Wolf Lepenies durch die krass antideutschen und -europäischen Blogbeiträge des französischen Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon und malt eines konfliktuelle Komplizenschaft von französischen Rechts- und Linksextremisten gegen die EU an die Wand - in den kommenden Europawahlen könnte eine Mehrheit der Franzosen extremistisch wählen: "Dadurch wird zunächst weder die Mehrheit der regierenden Sozialisten in der Nationalversammlung noch die Präsidentschaft Hollandes gefährdet. Was in Frankreich aber droht, sind eine Radikalisierung des politischen Klimas und die Herausbildung einer europafeindlichen Mehrheitsstimmung."

Fürs Feuilleton besucht Kulturkorrespondent Hannes Stein den New Yorker Schriftsteller Louis Begley, der achtzig Jahre alt wird. Iris Aranyali erklärt, warum "Borgen" die beste Fernsehserie der Welt ist. Hanns-Georg Rodek feiert den Rennfahrer Film "Rush" mit Daniel Brühl als Niki Lauda.

Weitere Medien, 04.10.2013

Bei Wired lernen wir, was uns die Serie "The West Wing" über das Herunterfahren des amerikanischen Staatsbetriebs zu sagen hat.

(Via Matthias Rascher und npr.org) Eine faszinierende Visualisierung von Strawinskys "Sacre du printemps".

TAZ, 04.10.2013

Auf dem Weg zur Alleinherrschaft sieht Christian Rath Ulla Unseld-Berkéwicz nach dem Urteil des OLG Frankfurt, wonach bei der Gläubigerversammlung am 22. Oktober die Gesellschafter, Gläubiger und Pensionsberechtigten nun über den Suhrkamp-Insolvenzplan abstimmen dürfen (und ihm vermutlich zustimmen werden) und der Verlag anschließend in eine AG umgewandelt werden kann, um den missliebigen Gesellschafter Hans Barlach auszuschalten. Dirk Knipphals hebt in seinem Kommentar noch einmal auf die Tradition der Autorenpflege bei Suhrkamp ab, gibt jedoch zu bedenken, dass man sich diese auch leisten können müsse.

Im Kulturteil fasst Rudolf Balmer die Positionen der derzeit in Frankreich geführten Islam-Debatte zusammen, die das Buch „"Nos Mal-Aimés, ces musulmans dont la France ne veut pas"“ (Die Ungeliebten, diese Muslime, die Frankreich nicht will) des Journalisten Claude Askolovitch ausgelöst hat. Daniel Bouhs berichtet über eine Berliner Veranstaltung mit dem australischen Journalisten Gerard Ryle, der im Verbund mit mehr als hundert Journalisten weltweit das Großprojekt „Offshore-Leaks“ realisierte und mit dieser Form der „Internationalisierung der Recherche“ eine Art neuen „Premium-Journalismus im digitalen Zeitalter“ schuf.

Besprochen werden Alice Buddebergs Inszenierung von Alfred Döblins Prosatext „"Karl und Rosa“" am Theater Bonn, das Album „"Monaco“" der Münchner Künstlerin und Musikerin Michaela Melián sowie neue Alben von Laurel Halo, Lucrecia Dalt und Oneohtrix Point Never.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 04.10.2013

Claus Löser freut sich über die DVD-Veröffentlichung der DEFA-Produktion "Der fliegende Holländer", die wegen des angewandten Mehrkanaltonverfahrens und ihrer wechselnden Bildformate "für DDR-Verhältnisse geradezu avantgardistisch" gewesen war. "Es gibt jede Menge Doppelbelichtungen, dies in mehreren Ebenen, teilweise sogar im Negativ kopiert. Die Fotografie erinnert einerseits an die Klassiker des deutschen Expressionismus, andererseits an die Mysterienspiele des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman."

Metallica-Drummer Lars Ulrich plaudert über alte Zeiten in Berlin, als man die Puppen tanzen ließ. Heute sei man verantwortungsvoller: "Durchzechte Nächte gibt es nicht mehr. Wir leben gesund und halten uns fit. Sport und Gemüse sind der neue Rock 'n' Roll!"

NZZ, 04.10.2013

In der gestrigen Ausgabe schilderte Joseph Croitoru das Ringen um das "Meinungsmonopol in Religionsfragen" in Ägypten. Nachdem die Muslimbrüder die Moscheen zu Stätten politischer Meinungsbildung gemacht haben, kündigt die Militärregierung nun weitreichende Reformen an: "Dabei handelt es sich um eine umfassende Umstrukturierung, die dem ägyptischen Staat offensichtlich mehr Kontrolle über die Moscheen im Land sichern soll als je zuvor. So würde Imamen der Entzug ihrer Zulassung nicht nur für den Fall drohen, dass sie die Nähe zu einer Partei pflegen, sondern auch dann schon, wenn sie in ihren Moscheen 'politische Kontroversen' auslösen."

Heute berichtet Maria Becker begeistert von der Ausstellung mit grafischen Werken von Edvard Munch im Kunsthaus Zürich: "Er lässt die Machart der Technik auf eine Weise mitsprechen, dass sie die Expression des Motivs per se hervorbringt: Farbe, Körnung, Flecken, Fasern und Unebenheiten - alles spielt mit... Was im fertigen Gemälde verborgen bleibt, ist hier sichtbar: das Suchen nach dem höchsten Ausdruck, das Probieren der Variante, die Einbeziehung des Zufalls im Druck." (Hier der Holzschnitt "Der Kuss IV" von 1902.)

Weiteres: Zaha Hadids Erweiterungsbau zur neuen Serpentine Sackler Gallery im Londoner Hydepark ist "das vielleicht witzigste Gebäude" der Architektin, findet Marion Löhndorf: "Die Lust zum dramatischen Statement ist hier gezügelt, vielleicht auch dank der überschaubaren Größe." Besprochen werden Bücher, darunter Moritz von Bredows Biografie der Pianistin Grete Sultan (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

Aus den Radios, 04.10.2013

Edgar Reitz' neuer Film "Die andere Heimat" war diese Woche bestimmendes Thema in den Feuilletons. Der Bayerische Rundfunk liefert nun noch ein ausführliches Gespräch mit dem Filmemacher - hier (ca. 39mb) zum Nachhören. Außerdem lässt der br Drehbuchautor Gert Heidenreich erzählen (ca. 27 mb), wie es zur Umsetzung seiner Geschichte kam.

Aus den Blogs, 04.10.2013

(Via hemartin) Das Blog Cision präsentiert die Ergebnisse einer Umfrage zur Kompetenz von Journalisten im sozialen Netz. Deutschland steht an letzter Stelle unter den erforschten Ländern:


Stichwörter: Deutschland, Soziale Netze

SZ, 04.10.2013

Mit der Entscheidung des Oberlandgerichts Frankfurt, das das erstinstanzlich über die Suhrkamp-Familienstiftung verhängte Verbot, an der Umwandlung des Verlags von einer KG in eine AG mitabzustimmen, kassierte, sieht Andreas Zielcke seinen Glauben ans Rechtssystem wieder ein Stück weit hergestellt. Thomas Steinfeld tätschelt Juli Zeh das Köpfchen: Ihre Beschwerden gegen die staatliche Überwachung seien wenig hilfreich. Kristina Maidt-Zinke besucht die Feierlichkeiten der Heinrich-Schütz-Gesellschaft. Der Historiker Kristian Meyer berichtet, dass der Freideutsche Jugendtag seine Vergangenheit aufarbeiten will. Willi Winkler schreibt den Nachruf auf Thrillerautor Tom Clancy.

Besprochen werden Steven Soderberghs Film "Liberace", eine Ausstellung in Berlin über den Architekt Ludwig Leo, Julie van den Berghes Bühnenadaption von Franz Kafkas "Amerika" an den Münchner Kammerspielen und Bücher, darunter Patrick Tschans Roman "Polarrot" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).