Heute in den Feuilletons

Kvatch!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2013. Die NZZ will sich von akademischen Weltverbesserungsmaschinen nichts einreden lassen. Die taz feiert das kleine, räudige und überdies in Venedig präsentierte Kino des Bret Easton Ellis  und Paul Schrader. Im Börsenblatt bekennt Suhrkamp-Miteigner Hans Barlach seine Sympathie für das Kaufinteresse von dtv. 3quarksdaily plädiert für die Aufnahme des Wortes "Quatsch" ins Englische. In der SZ verdreht Jazz-Avantgardist Peter Brötzmann die Augen über die heutige Jugend.

Weitere Medien, 03.09.2013

Wenigstens zwei wackere Kolumnisten versuchen das Thema Syrien oben zu halten.

Götz Aly ist in der Berliner Zeitung im Blick auf einen möglichen westlichen Einsatz in Syrien immer noch skeptisch: "Wenn mir jemand sagen würde, wie ein militärischer Einsatz in Syrien aussehen kann, der wenigstens zum Waffenstillstand führte, ich wäre dafür. Dem jetzt zumindest aufgeschobenen Plan zum Strafbombardement fehlte .. jede Perspektive für den Tag danach."

Alan Posener fordert in einem längeren Essay auf starke-meinungen.de ein Eingreifen in Syrien und macht vor allem rationale Argumente geltend: "Zunächst geht es darum, Assads Chemiewaffen unschädlich zu machen. Nicht nur - nicht einmal in erster Linie - mit Rücksicht auf kommende Opfer, oder gar um die bisherigen Opfer zu rächen. Sondern weil sie in Assads Hand schon mal sehr gefährlich sind, aber bei seinem Sturz in noch gefährlichere Hände geraten könnten." Allerdings erklärt Posener auch: "Ich habe jedoch keine Ahnung, ob es militärisch möglich wäre, Assads Chemiewaffen zu zerstören."

Im Gespräch mit dem Börsenblatt bekennt Suhrkamp-Miteigner Hans Barlach seine Sympathie für das Kaufinteresse von dtv: "Offen gesagt, ich habe mit dtv oder seinen Gesellschaftern gar nicht gesprochen. Aber die Kompetenz von Verlagen wie Hoffmann und Campe, C.H. Beck oder Hanser spricht doch klar dafür, ihnen das Schicksal des Suhrkamp Verlags anzuvertrauen. Die könnten den Verlag so auf die Beine stellen, dass er wirtschaftlich gesundet. Es geht ja nicht darum, hohe Renditen einzuspielen, sondern den Verlag aus regulären Gewinnen zu finanzieren - und nicht aus Sondererlösen wie in den vergangenen Jahren."

TAZ, 03.09.2013

Beeindruckt berichtet Cristina Nord aus Venedig über Paul Schraders und Bret Easton Ellis im billigen Digital-Look produziert Erotik-Thriller "The Canyon": "'Ich habe den Eindruck', sagt Schrader, 'dass wir den Kinosaal verlassen und die Plasmazone betreten'. 'The Canyons' lässt sich vor diesem Hintergrund auch als smarte Selbstreflexion lesen: Was einmal groß und prächtig war, ist bei flachen, schlecht ausgeleuchteten, schlonzigen Bildern angekommen. Interessant ist, dass Schrader deshalb nicht nostalgisch wird, sondern dieses kleine, räudige Kino umarmt."

Ziemlich geärgert hat sich Andreas Fanizadeh über Jürgen Kuttners und Tom Kühnels Stück "Agonie" über die letzten Tage der Romanows, das kaum über simple DDR-Geschichtsbilder hinausgehe: "Die alte Elite, sie ist infantil, dumm, egoistisch, machtverliebt, selbstbezüglich und und und. Aber, wusste man dies nicht schon vor hundert Jahren (und in der DDR dann sowieso)?"

Weiteres: Micha Brumlik berichtet von seinem Sommer am exklusiven Dartmouth College in New Hampshire, wo sich nach Entrichtung der recht erklecklichen Gebühr eine wunderbare Arbeits und Lernatmosphäre genießen lässt. Michael Sontheimer besucht die Ausstellung "Geraubte Mitte" über die NS-Stadtplanung im Berliner Stadtmuseum.

Und Tom.

Aus den Blogs, 03.09.2013

Angesichts von Globalisierung und Internet ist es eigentlich erstaunlich, dass sich nicht mehr Wörter aus fremden Sprachen in die eigene mischen, meint Brooks Riley, bei 3 quarks daily, und weist auf einige besonders schöne Wörter im Deutschen hin: "Every language can lay claim to inadequacies and English is no exception. Take the word 'nonsense': The German exclamation 'Quatsch' (pronounced 'kvatch', meaning 'nonsense') is an onomatopoetic grenade that explodes from the mouth in reaction to a blatently wrong declaration by someone else. Compared to it, the exclamatory 'nonsense' seems faded, almost quaint. ... The German language may have a reputation for exhaustively long words, but when it's pithy, it's penetrating: The word for 'scene of the crime' is 'Tatort', a linguistic slamdunk."
Stichwörter: Globalisierung, Internet, Tatort

NZZ, 03.09.2013

Joachim Güntner berichtet von der Verleihung des Whistleblower-Preises am Freitag an Edward Snowden und stellt fest: "Um den Schutz von Whistleblowern steht es schlecht." Für ausgesprochen windig und langweilig obendrein hält ein ziemlich erboster Uwe Justus Wenzel die von der Akademie der Wissenschaft lancierte Weltverbesserungsmaschine.

Besprochen werden unter anderem die Konzerte beim Jazzfestival Willisau 2013, Odo Marquards Schrift über das Altern "Endlichkeitsphilosophisches" und Dieter Dorns Theater-Erinnerungen "Spielt weiter!"

Auf der Medienseite beobachtet Sarah Grenner eine zunehmende Aufweichung jener Presserichtlinie, nach denen über Selbsttötungen vor allem in Hinsicht auf Ort und Methode zurückhaltend berichtet werden soll, um Nachahmungstaten zu verhindern. Nach dem Tod des Tortwarts Robert Enke etwa sei die Zahl der Selbstmorde sprunghaft angestiegen.

Weitere Medien, 03.09.2013

(via 3 quarks daily) Freitag nacht veranstaltete das Cern seine erste Stand-up-Show mit Wissenschaftlern. Der Independent berichtete vorab und verriet einige Witze: "Why are quantum physicists crap in bed? Because when they find the position, they can't find the momentum, and when they have the momentum, they can't find the position."

Als afrikanische Studentin in China hatte Zahra Baitie einiges auszustehen. Aber so nervtötend sie das ständige ihr ins Gesicht knipsen, das Anfassen und Angaffen fand, sie hat auch etwas daraus gelernt, erzählt sie in The Atlantic: "Es gab kaum einen Tag, an dem ich nicht gehört habe, wie Leute 'schwarze Person' oder 'Afrikanerin' sagten, wenn ich an ihnen vorbei ging - es war eine Tatsache, die sie sich und anderen immer wieder bestätigen mussten. Mir wurde langsam klar, dass Menschen nur dann fähig sind, wirklich zu verstehen, wer sie sind und was ihre Kultur ist, wenn sie einen Kontrast dazu haben. Es ist der Kontrast zwischen zwei Kulturen, der es einem erlaubt die Feinheiten und Komplexitäten der einen zu verstehen."

In der Washington Post hat sich der neue Eigentümer Jeff Bezos erstmals über seine Strategie geäußert: "Put the reader first."

Zur Feier von Goethes Geburtstag am 28. August hat The New Republic einen Text von George Santayana ins Netz gestellt, der 1915 erklärte, warum Goethe, Kant und Hegel auch für das Verständnis der modernen Deutschen wichtig seien.

Welt, 03.09.2013

Nicht freundlich liest sich Manuel Brugs Bilanz des größten deutschen Tanzfestivals in Berlin: "'Tanz im August' ist eine engstirniges Ereignis geworden, sich aus der immer gleichen, eingleisigen, in sich selbst kreiselnden Antiästhetik im engmaschigen Austausch- und Auftragsnetz miteinander verknüpfter Kuratoren speisend. Das ganz gewöhnliche, an Tanz interessierte Publikum aber steht außen vor."

Weitere Artikel: Marco Frei schreibt ein kleines Porträt der israelischen Komponistin Chaya Czernowin, die einst in Berlin bei Dieter Schnebel studierte und nun beim Lucerne Festival Composer in Residence war. Hier lässt sie's ab Minute 9 richtig knallen:



Daniel Kothenschulte resümiert die letzten Tage von Venedig mit Filmen von Terry Gilliam und Hayao Miyazaki. Michael Pilz berichtet über die Wiederauferstehung der Lady Gaga beim Itunes-Festival in London. Und Tilman Krause mag sich über Anglizismen im Duden nicht aufregen.

Tagesspiegel, 03.09.2013

Morgen startet das Internationale Literaturfest in Berlin. Noch ist Europa "the place to be", aber Gregor Dotzauer sieht schon die Zukunft aufziehen: "Griechenland abgerissen und als Theme Park vor den Toren von Las Vegas neu aufgebaut. Frankreich ein einziges Museum. Großbritannien ein Armenhaus. Ungarn, weil politisch berechenbar, als Sonderwirtschaftszone an China verkauft. Bulgarien ein einig Mafialand mit Serbien als Protektorat. Italien eine von Indern geführte Schönheitsklinik. Und Deutschland ein schnuckeliges internationales Konferenzzentrum, dessen Hauptstadt, wenn das Schloss erst einmal steht, Heidelberg und Rothenburg ob der Tauber den Rang abgelaufen hat."

SZ, 03.09.2013

Über Forderungen nach Mindestlohn und besserer Subventionierung von Jazzmusikern kann Jazz-Avantgardist Peter Brötzmann im Gespräch mit Karl Lippegaus nur die Augen verdrehen: "Ich benutze jetzt mal das große Wort 'Künstler'. Wer sich als solcher in unserer Gesellschaft bewegen möchte, betrachtet sie notwendigerweise von ihrem Rand aus, ist auf Distanz. Von der Gesellschaft aber, die einem entweder egal ist oder gegen die man sogar künstlerisch angeht, kann man doch nicht verlangen, dass sie einem den Lebensabend bezahlt!" Und auch sonst hat er wenig gute Wort für den Jazznachwuchs in Deutschland übrig.

Außerdem: Heribert Prantl würdigt die Europäische Menschenrechtskonvention, die heute vor 60 Jahren in Kraft getreten ist. In Venedig begibt sich Tobias Kniebe beim neuen Film von Terry Gilliam auf eine Reise "bis an die Grenzen des Verstandes". In Dänemark wurden gerade Preise für Produkte und Designs vergeben, die ökologische Probleme lösen wollen, doch Till Briegleb ist von den Preisträgern nicht so recht überzeugt: "Ein Küchenterrarium für Heuschrecken, um die Beißer dort für die häusliche Pfanne zu züchten, wird vermutlich nicht das Welthungerproblem lösen und in Europa allemal an archaischem Ekel scheitern."

Auf der Medienseite würdigt Alexander Menden den verstorbenen Journalisten David Frost. Bernd Graff schreibt etwas verschnupft über die neue Mini-Serie "Under the Dome", die auf Stephen Kings Roman "Die Arena" basiert: "Ein typischer Stephen-King-Zoo, der da fürs TV aufgebaut wurde".

Besprochen werden die ersten Spielzeitpremieren des Deutschen Theaters Berlin, der Teenie-Fantasyfilm "Chroniken der Unterwelt" und Bücher, darunter Uwe Timms Roman "Vogelweide" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 03.09.2013

Michael Hanfeld staunt, dass das Kanzlerduell in all seiner trostlosen Trockenheit über 17 Millionen Fernsehzuschauer anzog. Andreas Kilb war dabei, als in Berlin der von Günter Grass ins Leben gerufene August Bebel-Preis an die Üblichen (Oskar Negt und Günter Wallraff) verliehen wurde. Der in der Liste mit FAZ-Autorenkürzeln nicht aufgeführte Autor "phiko" will nicht recht an den jetzt von Computern bestätigten Gottesbeweis des Mathematikers Kurt Gödel glauben. Mark Siemons besuchte ein vom Auswärtigen Amt unterstütztes chinesisch-deutsches Schriftstellerforum in Peking. Oliver G. Hamm begutachtet das von Staab Architekten (dysfunktionale Architektenwebsite in Flash-Technologie) entworfene Kunstmuseum in Ahrenshoop. Technikkritiker Andreas Möller erzählt, dass ausgerechnet der Thüringer Wald zum Kollateralschaden der im Namen von Energiewende und Klimaschutz erbauten Nord-Süd-Stromtrasse zu werden droht. Auf der Medienseite zeichnet Jürg Altwegg französische Debatten zu einem eventuellen Syrien-Einsatz nach.

Besprochen werden der saudische Spielfilm "Das Mädchen Wadjda", in dem sich ein Mädchen ein Fahrrad erkämpft, Schillers Dramenfragment "Demetrius" als Saisoneröffnung am Deutschen Theater in Berlin, die Ausstellung "Roms vergessener Feldzug - Die Schlacht am Harzhorn" im Braunschweigischen Landesmuseum und Bücher, darunter Andreas Mayers Studie "Wissenschaft vom Gehen - Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).