Heute in den Feuilletons

Im gleißenden Weiß

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2013. Auch die NZZ findet das Deutschlandbild der Louvre-Ausstellung "De l'Allemagne" recht gestrig. Wer Immigration will, sollte gegen Multikulti sein, meint Kenan Malik in seinem Blog. Die FR ist ziemlich sicher, dass Wolfgang Büchner Chefredakteur des Spiegels wird. Die FAZ fürchtet nach den Bostoner Morden eine noch stärkere Videoüberwachung der Städte. Die Washington Post beschreibt neue Fahndungsmethoden, die in Boston eingesetzt wurden. Die SZ fürchtet Kapitalismuskritik in Osteuropa. Der Welt gefällt Norman Fosters Anbau an das Lenbachhaus.

NZZ, 22.04.2013

Den institutionellen Streit um die Pariser Ausstellung "De l'Allemagne" und die feuilletonistischen Verletztheiten findet Jürgen Ritte aus Schweizer Sicht zwar reichlich übertrieben, aber auch ihm erscheint das Ergebnis ziemlich gestrig: "Es ist die Vision, die aus Anselm Kiefers Holzschnitten und, deutlicher noch, aus seiner Selbstauslegung im Vorspann zum begleitenden Katalog spricht. Es ist die Vision einer Geschichte zur Katastrophe. Man kann - in künstlerischer Auslegung - die deutsche Geschichte so sehen, aber von heute aus betrachtet wären als Motto einer Ausstellung zur Kunst in Deutschland vielleicht die ungleich subtileren Auseinandersetzungen eines 'Romantikers' wie Sigmar Polke mit der Tradition hilfreicher gewesen."

Das tut sich was an Moskaus Theatern, stellt Ruth Wyneken fest, die mit heller Freude etwas Konstantin Bogomolows Oscar-Wilde-Inszenierung "Der ideale Gatte" am MChAT gesehen hat: "Bogomolows Inszenierung ist ein gigantischer Wutausbruch gegen die Machthaber. Und nicht der einzige: Die Moskauer Proteste ziehen offenbar von der Straße, wo sie verboten wurden, ins Theater. So viel Kritisches, solche Schärfe und Vielfalt der Formen hat es seit den 1980er Jahren auf den Bühnen nicht mehr gegeben."

Besprochen werden unter anderem eine Inszenierung von Monteverdis "Il ritorno d'Ulisse in patria" in Luzern und Morton Feldmans Oper "Neither" in Bern.

Welt, 22.04.2013

Hans-Joachim Müller besucht in München das neue Lenbachhaus nach dem Um- und Anbau von Sir Norman Foster. Sehr gelungen, findet er: "Der Annex des britischen Pritzker-Preisträgers Norman Foster umgreift den Kopfbau der U-förmigen Lenbach-Villa in einer Weise, dass dieser nun mit drei Außenwänden mitten im neuen Haus steht. Das hat etwas Überraschendes, Heiteres auch. Der Altbau mit seinem ockerfarbenen Anstrich und dem italienisierenden Stil des späten 19. Jahrhunderts wirkt im gleißenden Weiß, das ihn umwölbt, nun selber wie ein Museumsstück." (Bild: Nigel Young, Foster+Partners)

Weitere Artikel: Vor allem Fragen bringt Eckhard Fuhr mit zu einer Münchner Museumstagung über "Sammellust und Sammellast" im Mai. Michael Pilz erinnert mit Blick auf Bushido an die kriminellen Ursprünge der Popmusik. Elmar Krekeler unterhält sich mit den neuen Tatort-Kommissar Wotan Wilke Möhring über dessen neuen Film "Das Leben ist nichts für Feiglinge" und die Schauspielerei.

Besprochen werden Philipp Löhles Inszenierung von Alexander Moltschanows Theaterstück "Mörder" in Mainz und neue Choreografien mit Martin Schläpfers Ballett am Rhein.

TAZ, 22.04.2013

Mit großem Interesse hat sich Tilman Baumgärtel in der Berliner ifa-Galerie junge kambodschanische Kunst angesehen: "Erst in den vergangenen zehn Jahren hat sich in Phnom Penh wieder eine Kunstszene entwickelt, die international anschlussfähig ist. Wobei der Ausdruck 'Szene' für dieses zarte Pflänzchen fast zu üppig ist. Lokale Galerien, in denen man ausstellen kann, gibt es kaum; erst recht keine lokalen Sammler und kein Museum für zeitgenössische Kunst. Ausstellungen finden in Cafés statt, die von Ausländern besucht werden, oder in Institution wie dem Institut Français oder dem Meta House, einem von Goethe-Institut unterstützten deutschen Kulturzentrum." (Foto: Samnangs-Kuhtaxi bewegt Sand, Phnom Penh, 2011, Videodokumentation einer Performance © Khvay Samnang)

Friedrich Küppersbuch kommentiert das Polit-Elend in Italien, das es vielleicht auch mal mit einem Losverfahren statt mit Wahlen versuchen könnte: "Offenbar wollten Helmut Schmidt und Altbenni Ratzinger nicht in den Lostopf. So muss es der 87-jährige Napolitano richten. Die Amtszeit beträgt sieben Jahre, es droht der Präzedenzfall 'Rente mit 94'. Er wird eine Koalition herbeimoderieren - mit Berlusconi. Oder Neuwahlen ausschreiben - die will Berlusconi."

Weiteres: Elias Kreuzmair feiert das Album "A Lie" der süddeutschen Band Joasihno. Vorabgedruckt ist eine Touristen-Beschimpfung aus Peter Laudenbachs Berlin-Buch "Die elfte Plage".

Und Tom.

Aus den Blogs, 22.04.2013

Kenan Malik lehnt die Multikulti-Ideologie nicht etwa ab, weil er gegen, sondern weil er für Immigration ist, schreibt er in einer Rezension eines Buchs von David Goodhart auf seinem Pandaemonium-Blog: "The lived experience of diversity is something to celebrate. The problem has been the attempt the authorities to manage that diversity through multicultural policies by putting people into ethnic and cultural boxes, defining individual needs and rights by virtue of the boxes into which people are put, and using those boxes to shape public policy. The results have been disastrous, sidelining progressive movements within minority communities and giving new legitimacy to conservative, often religious, figures."

Das Internet bringt auch hergebrachte Verkehrskonzepte durcheinander, schreibt Jürgen Vielmeier auf Netzwertig: "Es geht darum, alte Strukturen aufzubrechen. Eine viel bemühte Floskel, die in diesem Falle zutrifft: Langstreckenbusse und Mitfahrzentralen brechen das Monopol der Bahn, Tamyca und Nachbarschaftsauto bieten Hertz, Sixt und Europcar mit privaten Mietwagen die Stirn. MyTaxi geht den Taxizentralen an den Kragen."

Jemand hat zum 65. Geburtstag der wunderbaren Claire Denis eine melancholische Zugfahrt durch die Pariser Banlieue mit der Musik der Tindersticks hochgeladen. Wir fahren mit:


Weitere Medien, 22.04.2013

(via Boing Boing) Die Washington Post beschreibt in einem interessanten Artikel, wie FBI und Polizei neue Technologien nutzten, um die Attentäter von Boston aufzuspüren. "Quickly, the authorities secured a warehouse in Boston's Seaport district and filled the sprawling space: On half of the vast floor, hundreds of pieces of bloody clothes were laid out to dry so they could be examined for forensic clues or flown to FBI labs at Quantico in Prince William County for testing. In the other half of the room, more than a dozen investigators sifted through hundreds of hours of video, looking for people 'doing things that are different from what everybody else is doing,' Boston Police Commissioner Edward Davis said in an interview Saturday. The work was painstaking and mind-numbing: One agent watched the same segment of video 400 times. The goal was to construct a timeline of images, following possible suspects as they moved along the sidewalks, building a narrative out of a random jumble of pictures from thousands of different phones and cameras."

Glaubt man Ulrike Simon auf der Medienseite der FR, dann ist es so gut wie sicher, dass Wolfgang Büchner, der für seine Reorganisation der dpa viel bewundert wird, Chefredakteur des Spiegels wird. Allerdings muss auch der Spiegel mit Print und Online reorganisiert werden, meint sie: "Diese beiden Parallelwelten mit ihren völlig unterschiedlichen Unternehmenskulturen zusammenzuführen ist eine Aufgabe, die aus Gründen des Arbeitsrechts und der auf Geld und Macht fixierten Gesellschafterinteressen kein noch so guter Redaktionsmanager allein lösen kann. Und sie ist mindestens so groß wie die, jede Woche ein gutes Blatt an den Kiosk zu bringen." (mehr dazu auch hier). Außerdem sei Jakob Augstein nach wie vor als "aktiver Herausgeber" im Gespräch.

turi2 berichtet unterdes über die Umsetzung der (schon länger bekannten) Stellenstreichungen bei der Berliner Zeitung.

FAZ, 22.04.2013

Jordan Mejias ist sich sicher: "Der Terror von Boston wird den Trend zur total überwachten Stadt, der sich seit Jahren abzeichnet, ganz sicher beschleunigen." und dabei gibt Mejias zu bedenken: "Kameras neigen dazu, ihren Nutzen immer erst zu erweisen, wenn das Unglück schon passiert ist und mit Hilfe iher Aufzeichnungen gezielt nach Tätern gefahndet werden kann." In einem zweiten Artikel zum Thema resümiert Moskau-Korrespondentin Kerstin Holm die Reaktionen russischer Blogger.

Weitere Artikel: Regina Mönch besucht die neue Ausstellung des ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück (132.000 Frauen und Kinder waren dort seit 1939 inhaftiert). Besprochen werden ein Liederabend Christian Gerhahers und Gerold Hubers mit späten Schumann-Liedern beim Heidelberger Frühling, Kleists "Zerbrochener Krug" in Bonn und Bücher, darunter Philip Hoares "Leviathan oder Der Wal" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Sehr instruktiv ist auf der Gegenwartsseite auch Christiane Liermanns Hintergrundartikel zu Italiens Geschichte, seiner Staatlichkeit und der Rolle der katholischen Kirche.

SZ, 22.04.2013

Joseph Hanimann staunt nicht schlecht, als er die große Keith-Haring-Schau in Paris besucht: Die Originale seiner Werke bieten gegenüber ihren zirkulierenden Reproduktionen erstaunlich wenig Mehrwert - wenn überhaupt: "In ihrer Anhäufung quer durch die Museumsräume schnappen diese Bilder ... nach Wirklichkeit wie gestrandete Fische auf dem Sand nach ihrem Lebenselement. Paradoxerweise kommt die museale Werkanhäufung dem ruhelosen Gestaltungsdrang dieses Künstlers nicht entgegen, sondern scheint ihn eher zu lähmen."

Ein sichtlich beunruhigter Felix Stephan erfährt bei einer Veranstaltung in der Berliner Akademie der Künste nicht nur, dass immer mehr junge russische Schriftsteller eine nationalistisch-imperial aufgeladene Kapitalismuskritik bedienen, sondern auch, dass ihre Kollegen in den Nachbarstaaten dies teilweise durchaus billigen: So "erzählten Schriftsteller und Übersetzer aus Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine, dass sich ihre jeweiligen Nationen vor dem Untergang des Sowjetreiches deutlich ungebrochener für Demokratie und Freiheit begeisterten als heute. Der litauische Schriftsteller Laurynas Katkus berichtete, dass der Totalitarismus seinen Landsleuten noch immer tief im Herzen sitze. 'Wenn die Litauer ihrer demokratischen Exerzitien müde sind', so Katkus, 'werden sie sich wieder nach Osten wenden.'"

Weiteres: Der türkische, in seiner Heimat wegen religionskritischen Tweets auf Bewährung zu 10 Monaten Haft verurteilte Pianist Fazil Say äußerte sich bei seinem Münchner Konzert nicht zu seiner Situation, berichtet Michael Stallknecht. Kristina Maidt-Zinke porträtiert Christina Pluhar vom Barock-Ensemble L'Arpeggiata. Hans-Peter Kunisch gratuliert der Autorin Paula Fox zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Roger Vontobels Inszenierung von Hans Falladas "Wolf unter Wölfen" am Deutschen Theater in Berlin und Bücher, darunter Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France aus den Jahren 1970 und 1971 (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).