Heute in den Feuilletons

Das ist Humbug, wenn nicht Unfug

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2013. Die Gleichung "68 = Antizionismus = linker Antisemitismus" geht nicht auf, rechnet die taz vor. Die NZZ beschwört die Gunst des Augenblicks. Lukas Foerster fordert von Kinos die Einhaltung musealer Grundprinzipien. Die FAZ wünscht sich einen Gorbatschow des Kapitalismus. Isabelle Huppert bestreitet, eine intellektuelle Schauspielerin zu sein. Die Welt beklagt die Putinisierung Ungarns. Frankfurt ist keine romantische Stadt, findet die FR. Die SZ vermisst bei der Biennale im Emirat Sharjah Exzesse, Drogen und Queer Art.

Welt, 16.03.2013

In einem Leitartikel beklagt Jacques Schuster die "Putinisierung Ungarns" und plädiert für eine Reaktion der Europäischen Union: "Zu lange haben Brüssel und die anderen Hauptstädte die orbánschen Kapriolen zu leichtgenommen... Eine Tatsache haben sie dabei aber außer Acht gelassen: Würde Budapest unter Orbán heute die Mitgliedschaft in der EU beantragen, würde es abgelehnt werden. Der Staat, in dem der Eiserne Vorhang zuerst fiel, erfüllt die europäischen Aufnahmekriterien schon lange nicht mehr."

Im Feuilleton geißelt Kai-Hinrich Renner am Beispiel von "Menschen bei Maischberger" die unzulässige Verquickung von Informations- und Unterhaltungssendungen. Jan Küveler berichtet von der Leipziger Buchmesse. Marc Reichwein meldet den Relaunch des Stern. Ulrich Goll geht mit Lena Meyer-Landrut in Charlottenburg essen. Besprochen werden die Bremer Uraufführung von Elfriede Jelineks "Aber sicher!" ("als enttäusche Apokalyptikerin ist Jelinek nur peinlich", findet Stefan Grund), Graham Vicks (wie Peter Krause findet: "fulminante") Inszenierung von Wagners "Walküre" in Palermo und der ZDF-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter", den Sven Felix Kellerhoff nachdrücklich empfiehlt.

In der Literarischen Welt unterhält sich Jacques Schuster mit Marina Weisband über zeitgemäße Politik. Das Buch der Woche ist Rolf Bauerdicks Studie "Zigeuner". Außerdem besprochen werden unter anderem Elfriede Jelineks Bühnenessay "Rein Gold", Rainer Merkels Afrika-Roman "Bo", Martin Walsers "Messmers Momente", Helmut Pfotenhauers Jean Paul-Biografie "Das Leben als Schreiben", Sandy Nairnes "Die leere Wand", Dieter Dorns Autobiografie "Spielt weiter!", Götz Alys Euthanasie-Studie "Die Belasteten" und Hans Beltings Kulturgeschichte des Gesichts "Faces".

Aus den Blogs, 16.03.2013

The Big Picture bringt eine faszinierende Fotoreportage aus dem Iran, mit aufregenden Bildern aus dem kurdischen Palangan-Tal.
Stichwörter: Fotoreportage

NZZ, 16.03.2013

In Literatur und Kunst denkt Maria Becker über die Gunst des Augenblicks nach und die Bedeutung des Zufalls für die Kreativität: "Ich hatte gelernt, dass es Menschen gibt, die - scheinbar zufällig - das einzig Richtige finden, das nur für sie geschaffen ist: ein Haus, eine Idee, eine Position, eine Frau und anderes mehr. Sie finden es, ohne zu suchen, einfach am Weg, als habe das Richtige dort auf sie gewartet. Sie wundern sich immer darüber, dass dies in ihrem Leben so gekommen ist. Natürlich gibt es solches auch bei anderen Menschen. Doch eben diese, die Zufallsbegabten, haben eine ganz besonders glückliche Hand dafür. Mir scheint, dass sie dem alltäglichen Leben mehr vertrauen als andere."

Außerdem erinnert Ludger Lütkehaus an den vor zweihundert Jahren geborenen Friedrich Hebbel, dessen Dramen von "sinnlichster Leidenschaft" geprägt waren, bevor er sich in die Zwänge des klassizistischen Hoftheaters fügte. Jan Koneffke verehrt Mascha Kaleko und ihre gesammelten Werke.

In der Kultur hofft Ulrich Ruh, Chefredakteur der katholischen Monatszeitschrift Herder-Korrespondenz, dass Papst Franziskus die katholische Kirche aus ihrer Krise führen wird: "Kern dieser Krise ist die enorme Differenz zwischen pays légal und pays réel, die sich in der Kirche vielerorts mit Händen greifen lässt."

Weiteres: Mit einem gewissen Unbehagen verfolgte Joachim Güntner auf der Leipziger Buchmesse, wie sich die Funktionäre des Literaturbetriebs gegenseitig die Preise zuschoben. Der indische Schriftsteller Kiran Nagakar erzählt von der Schlaflosigkeit. Besprochen werden Schillers "Wilhelm Tell" in der Regie des Tschechen Dusan David Parizek am Schauspielhaus Zürich und Joseph Roths Feuilletons "Heimweh nach Prag" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 16.03.2013

"Das Buch ist dick, der Erkenntnisgewinn dünn": Stefan Reinecke ist von Wolfgang Kraushaars neuem Buch über den Antisemitismus und die APO ganz und gar nicht überzeugt. Statt eines antisemitischen Schulterschlusses sieht er um 1968 eher eine diffuse Gemengelage aus Israelsolidarität, Indifferenz und taktischen Manövern im Generationenkampf: "Aus dieser Melange rührte die Taubheit vieler Linker gegenüber der antisemitischen Tat 1969, für die indes nur eine Handvoll Militanter verantwortlich war. Und diese Proportion gerät im großformatigen Reden vom linken Antisemitismus aus dem Blick. Die Gleichung '68 = Antizionismus = linker Antisemitismus', die bei Kraushaar oder auch Götz Aly aufblinkt, geht nicht auf."

Außerdem: Jens Uthoff erkundet mit Hanns Zischlers neuem Buch in der Hand Berlin. Andreas Fanizadeh lauscht in Leipzig jammernden Buchhändlern. Peter Unfried trifft sich mit Katja Kraus, die es als erste Frau in das Topmanagment eines großen Fußballvereins geschafft hat. Michael Sontheimer stellt die Monuments Men vor, über die George Clooney gerade einen Film dreht. Ulrike Baureithel porträtiert die Feministin und Historikerin Karin Hausen anlässlich deren 75. Geburtstags.

Besprochen werden das neue Album von Laing, das neue Album von Justin Timberlake und Bücher, darunter Olga Martynovas Roman "Mörikes Schlüsselbein" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 16.03.2013

Eher genervt ist Peter Michalzik in der FR vom bisherigen Verlauf der Diskussionen um das Romantikmuseum, das sich die Stadt Frankfurt nun doch sparen will: Einerseits hält er den schrillen feuilletonistischen Aufschrei für deutlich im Ton vergriffen, andererseits hat er seine rechte Mühe, anhand der Wortmeldungen überhaupt nachvollziehen zu können, was für die Stadt auf dem Spiel steht. Dass Frankfurt eine Hochburg der Romantik gewesen sein soll, hält er jedenfalls nicht für evident: "Das ist Humbug, wenn nicht Unfug. Ja, die Brentano-Geschwister, Bettine und Clemens, stammen aus der Stadt am Main und haben als Kinder hier gelebt, aber sonst? ... Romantische Frankfurtbilder mögen ein bestimmtes Bedürfnis befriedigen und dem Tourismus gefallen. Ein Romantikmuseum können sie niemals begründen." Stattdessen wünscht er sich ein Romantikmuseum, das den bis in den heutigen Alltag reichenden Impulsen der Romantik nachspürt.

Perlentaucher-Filmkritiker Lukas Foerster sorgt sich auf critic.de nach einer Bilanz jüngerer Digital- und Analogkinovorführungen um das analoge Kino im Zeitalter fortschreitender Digitalisierung. Er sieht die Kinematheken und filmhistorischen Institutionen in der Pflicht: Man kann "fordern, dass sie gewisse museale Grundprinzipien einhalten, die zum Beispiel in Kunstausstellungen selbstverständlich sind, dass also historische Filme so weit wie eben möglich materialauthentisch zur Aufführung kommen. Und man kann von ihnen auch in einem noch allgemeineren Sinne verlangen, dass sie das filmische Bild mit einer gewissen Sorgfalt behandeln, dass sie es nicht nur als austauschbaren Container behandeln, sondern seinen ästhetischen Eigenwert achten. Durchaus auch im Sinne der klassischen Filmtheorie, die das filmische Bild als eine materielle Spur liest, die das durch die Kameralinse einfallende Licht auf dem Filmstreifen hinterlassen hat: Kino als Band zur Welt. "

SZ, 16.03.2013

Keine Exzesse, keine Drogen, keine Queer Art, geschweige denn überhaupt Nuditäten: Viel zu aufgeräumt, sauber und auf Kurs getrimmt ist Catrin Lorch die Biennale im Emirat Sharjah. "Man wäre durchaus bereit, die Entwicklung zeitgenössischer Kalligrafie zu verfolgen - aber nur, wo auch die Hängung einer Foto-Serie von Cindy Sherman denkbar bleibt, Videos von Keren Cytter oder schwule Motive von Henrik Olesen. Ist der offensive Gegen-Kanon dieser Biennale nicht vor allem Camouflage der begrenzten Möglichkeiten, vorauseilende Selbstzensur? ... Die Kunstszene muss überrascht feststellen, dass sich am Golf, in China oder Südamerika kaum jemand für ihr Bekenntnis zum Multikulturalismus, für Bürgerrechte und Toleranz interessiert."

Außerdem: Johan Schloemann schlendert ganz ungezwungen von der momentanen Buchstadt Leipzig in die Musikstadt Leipzig, deren Sinnenfreuden er mit Begeisterung zur Kenntnis nimmt. Kristina Maidt-Zinke porträtiert den Countertenor Valer Sabadus. Joachim Hentschel besucht den 80er-Jahre-Superstar Adam Ant, der ein Comeback plant. Jens Bisky berichtet von der Verleihung des Leipziger Buchpreises an David Wagner, Eva Hesse und Helmut Böttiger.

Besprochen werden die Uraufführung von Elfriede Jelineks Finanzkrisen-Stück "Aber sicher!" in Bremen, Judd Apatows neue Komödie "Immer Ärger mit 40", ein Auftritt von Mark Padmore in München und Christian Weises Inszenierung von "Whatever happened to Baby Jane?" in Stuttgart.

Für die SZ am Wochenende reist Tim Neshitov ins triste, weißrussische Smolensk, um sich mit der trotz Auftrittsverbot populären Band Ljpais Trubezkoj zu treffen, zu deren in Russland gegebenen Konzerten die Fans aus Weißrussland einfach nachreisen. Alexander Runte stellt den Gonzo-Journalismus des immer erfolgreicheren Vice-Magazines vor. Helmut Martin-Jung sieht eine Renaissance der freien WLan-Netze in den Großstädten heraufdämmern. Reymer Klüver hält den USA ihre Verfehlungen im Irakkrieg vor. Und Antje Wewer schaut dem aufstrebenden Jungschauspieler Tom Schilling verzückt in die veilchenblauen Augen.

FAZ, 16.03.2013

Im Interview mit Andreas Kilb bestreitet Isabelle Huppert, besonders intellektuell an ihre Rollen heranzugehen: "In Wahrheit bin ich ja nicht distanziert. Die Verfremdung, wie Brecht sie wollte, ist mir zuwider, eher würde ich mich mit den großen japanischen Schauspielerinnen vergleichen, die ein Gleichgewicht zwischen Identifikation und Distanz bewahren... Man kann doch zur selben Zeit impulsiv und nachdenklich sein, je nachdem, was die Rolle von einem verlangt."

Im Aufmacher feiert Nils Minkmar Michail Gorbatschows sehr private Erinnerungen "Alles zu seiner Zeit" und wünscht sich einen ebenbürtigen Reformer für das marode System des Kapitalismus. Oliver Tolmein fragt, warum die nun beschlossenen Renten für Contergan-Geschädigte vom Steuerzahler und nicht von dem Verursacher des Skandals, der Firma Grünenthal finanziert werden. Edo Reents plädiert dafür, den neuen Papst Franz statt Franziskus zu nennen. Eduard Beaucamp schreibt zum Tod des Wiener Kunsthistorikers Werner Hofmann.

Besprochen werden Elfriede Jelineks neues Stück "Aber sicher!" im Theater Bremen (das bei Volker Corsten den Eindruck von "knapp zwei Stunden allgemeiner Orientierungslosigkeit" hinterließ) und Bücher, darunter Peter Buwaldas Roman "Bonita Avenue", Neuerscheinungen zu Jean Paul und das Hörbuch zu Don Winslows "Tage" der Tote" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie stellt Rüdiger Görner Hans Keilsons Gedicht "Bühlertal" vor:

"Dein Gang über die Höhen
und Widerhall im Tal
..."