Heute in den Feuilletons

Die sich so erholsam räkelt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2012. Für die taz spricht Gabriele Goettle mit der Frau von der Fürsorge. In der NZZ jongliert  Martin Walser wieder mit Hölderlin-Zitaten. Diesmal geht's aber nicht um Europa, sondern um Religion. Atheisten in Amerika geht's schlecht, stellt good.is fest: Sie sind die einzige Gruppe, die jeder in diesem Land noch offen verabscheuen darf. Die Welt ging nach Baden-Baden und fand dort Luxe, calme et volupté: allerdings nur im Museum. Das Niemanlab stellt fest: Die Zeitungen sind noch gar nicht tot, da geht's den Homepages an den Kragen. Außerdem betten wir die Berliner Rede von Tim Berners-Lee ein.

NZZ, 27.08.2012

Martin Walser sammelt seine Gedanken (und die von Hölderlin, Hegel und Kierkegaard) zu Glauben, Gott und Unsagbarem und kommt zu dem Schluss: "Gott wäre natürlich prima. Aber er könnte, wenn es ihn gäbe, nicht deutlicher sein, als er durch seine Abwesenheit ist. So ist er das Wort für alles, was mir fehlt. Ich bin nach oben offen. Da kommt mehr hinaus als herein."

Weiteres: Michelle Ziegler porträtiert die russische Komponistin Sofia Gubaidulina, die in diesem Jahr in Luzern gastiert. Daniel Ender unterhält sich mit dem Nestlé-Chef Peter Brabeck-Letmathe und dem Dirigenten Ingo Metzmacher über die unfaire Verteilung von Talent und Geld.

Weitere Medien, 27.08.2012

(Via Matthias Rascher) Ziemlich unglaubliche Fotos von Tierembryos präsentiert Daily Mail.
Stichwörter: Daily Mail

Welt, 27.08.2012

"Luxe, calme et volupté im Museum Frieder Burda in Baden-Baden", notiert ein sichtlich inspirierter Hans-Joachim Müller nach Besuch der Ausstellung "Léger - Laurens. Tête-à-tête": "Man hat ja über all den Brüchen und Revolutionen, die die Kunst der avantgardistischen Epoche gestiftet hat, zuweilen vergessen, dass sie ihrer alten Zuständigkeit für den Lebensgenuss nie vollends überdrüssig geworden ist. In sanfteren Momenten hat sie ganz unbeirrt für das schöne Nichtstun Partei ergriffen. Hat - wie Fernand Léger - Akrobaten gemalt, deren pralle Körper so schwerelos anmuten, dass sie die Turnerei keinen Tropfen Schweiß kostet. Oder hat - wie Henri Laurens - eine weibliche Figur modelliert, die sich so erholsam räkelt, dass der Titel 'Sommer' fast unausweichlich scheint."

In der Leitglosse zeigt Matthias Heine einiges Verständnis für die Äußerung des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis, der die Berufung der belgischen Theatermacherin Frie Leysen zur Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen im Standard mit den Worten kommentierte, deren Multikulti-Theaterbegriff erinnere ihn "an die Sowjet-Ära in kommunistischen Ländern, wo Politiker nur proletarische Ideologie unterstützten, der Kunst und Professionalität geopfert wurden".

Weitere Artikel: Dankwart Guratzsch hörte einer ihrem Thema nicht gewachsene Debatte von Denkmalpflegern über Altstadt-Rekonstruktion in Frankfurt am Main zu. Manuel Brug sah "unaufwendig diffuse, exotische, interaktive, intertextuelle und irgendwie menschheitsverbindende Spektakel" beim Berliner Festival "Tanz im August".

Besprochen werden die Ausstellung "Otto der Große und das Römische Reich" im Magdeburger Kulturhistorischen Museum (hier "wird der Besucher nicht mit Schautafeln oder irgendwelchen virtuellen Surrogaten abgespeist", versichert Eckhard Fuhr) und ein House-Album von Matthew Dear.

TAZ, 27.08.2012

Gabriele Goettle besucht eine Sozialarbeiterin des Berliner Jugendgesundheitsdiensts (früher war das die Fürsorge). Frau Scholz schildert die Problemlage so: "In Berlin setzt sich das zusammen, wie ich versucht habe zu beschreiben, aus arabischen, türkischen, bulgarischen, rumänischen, vietnamesischen und südeuropäischen Babys. Die besuchen wir alle, bis hin zu den deutschen Familien, bei denen ja auch das Problem vorherrscht, dass viele Jugendliche den Anschluss verloren oder nie gefunden haben, Erwachsene werden und dann den Traum von Papi und Mami mit Kind träumen. Und dann haben sie dieses Kind, und alles ist noch schwerer geworden. Sie haben kaum eine Chance, sich und ihr Kind in eine gute Position zu bringen Und die sind schon in so einem Trott des Nichtstuns, die sind wie Pudding, den man an die Wand nageln will. Sie kriegen ihren Hintern nicht hoch."

Friedrich Küppersbusch interpretiert Antonis Samaras Versicherung, den Deutschen all ihr Geld zurückzuzahlen, mit dem Fluch der Armut: "Sein griechischer Originalsatz 'Die Deutschen haben sich an uns doch dumm und dusselig verdient' wurde von Leichtlohndolmetschern in Indien anhand des Wörterbuchs 'Gyros - Deutsch' übersetzt."

Und Tom.
Stichwörter: Berlin, Geld, Goettle, Gabriele, Indien

Aus den Blogs, 27.08.2012

(Via Wolfgang Blau) Die Zeitungen sind noch gar nicht gestorben, da geht's schon mit den Homepages los, die immer seltener direkt und immer öfter über soziale Medien angesteurt werden, schreibt Adrienne LaFrance im Niemanlab: "As with newspapers - which haven't so much disappeared as been pushed off center stage - few are saying that homepages will disappear completely. But as more people enter news sites sideways - via search engines, links they see in emails, or via Facebook and Twitter - newsrooms are finding their homepages aren't the starting points they once were."

Hier die Rede Tim Berners-Lees auf dem "Campus 2012". Gegen die immer stärker zunehmende Macht von Monopolisten und geschlossenen Universern à la Itunes verteidigt er die Idee des offenen Netzes:



Die Zahl der Atheisten in den USA ist von 1 auf 5 Prozent gestiegen, schreibt Sarah Stankorb auf good.is. Und doch: "Despite rising numbers of atheists, stigma persists, and public perception of atheists continues to be incredibly negative in the US. One 2011 survey indicated that, in a hypothetical scenario, those surveyed saw atheists and rapists as comparatively criminally untrustworthy. Another survey from researchers at the University of Minnesota showed that among all groups, people least wanted their sons and daughters to marry atheists. In some ways, marginalizing atheists is among the few remaining socially accepted bigotries."

FAZ, 27.08.2012

Der Tod Neil Armstrongs ist für Frank Schirrmacher das Ende einer Epoche, die ihre Versprechen nicht gehalten hat: "Wo ist der Sieg über den Krebs, den der amerikanische Kongress für 1976 - eine Art Apollo-Programm für den Menschen - verkündet hat? Wo die billige und risikolose Energie, die für 1980 versprochen wurde? Wie lange warten wir noch auf das 'Ende der Arbeit', utopische Epoche eines gut versorgten Robinson-Lebens, die für das Jahr 2000 versprochen worden war?"

Eva Berendsen hat auf der Berliner Campus Party eine Rede Tim Berners-Lees verfolgt, der die Idee des offenen Internets verteidigte: "Der Physiker spricht von Werten und Verantwortung, beschwört den offenen Geist des Internets, den er in einer von iTunes-Inseln und Facebook-Silos zerklüfteten Netzwelt längst verlorengegangen sieht."

Weitere Artikel: Tilman Spreckelsen mokiert sich über die Stiftung Lesen, die mit McDonald's zusammenarbeitet, um die Idee des Buchs unters Volk zu bringen. Die ehemalige Verfassungsrichterin und SPD-Politikerin Jutta Limbach wendet sich in der Europa-Reihe gegen "mehr Europa".

Besprochen werden Ereignisse eines Sommerfestes im Gartenreich Wörlitz, ein mit Behinderten erarbeitetes Stück Jérôme Bels bei der Ruhrtriennale, ein Auftritt des Tex-Mex-Musikers Howe Gelb und seiner Band in Köln und Bücher, darunter Jaume Cabrés Roman "Das Schweigen des Sammlers" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 27.08.2012

Eher Stillstand als Aufbruch registrierte Michael Moorstedt bei zwei Konferenzen über die Zukunft des Web in Berlin: "Die Sehnsucht nach etwas Neuem ist ... wieder fast physisch zu spüren - verbunden mit dem Gefühl, einen Endpunkt erreicht zu haben."

Weitere Artikel: Dorion Weickmann blickt sorgenvoll in die ungeklärte Zukunft des Berliner Festivals "Tanz im August", das eine Berlinale für den Tanz werden könnte, wenn sich die Veranstalter nicht zerstritten hätten. Niklas Hofmann informiert über eine (dummerweise von der Musikindustrie finanzierte) Filesharing-Studie von George Barker, die die Andersen-Studie von 2007 (die Filesharern noch bescheinigte, besonders fleißige CD-Käufer zu sein) angeblich widerlegt. Willi Winkler erlebt beim Konzert in Dublin vor der Bühne erst Slips werfende Mädchen bei Tom Jones und im Anschluss "einen überwältigenden Ernst" im Publikum bei Van Morrison.

Besprochen werden neue DVDs, viele Aufführungen der Salzburger Festspiele, Benjamin Geisslers Videoinstallation über die Wandgemälde von Bruno Schulz in der Sammlung Falckenberg in Hamburg, der Ausbruch des künstlichen Vesuvs im Wörlitzer Gartenreich (dem Gustav Seibt das Potenzial zuspricht, das Bayreuther Festspielhaus als deutsches Gesamtkunstwerk zu übertrumpfen), Paul Hornschemeiers Comic "Mein Leben mit Mr. Dangerous" und Bücher, darunter Gaito Gasdanows Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).