Heute in den Feuilletons

Es triumphieren die Vorsichtigen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.02.2010. Die Welt staunt über einen Friedhofsflirt. In der NZZ wünscht sich Hans Ulrich Gumbrecht mehr riskantes Denken beim geisteswissenschaftlichen Nachwuchs. In der taz spricht der iranische Regisseur Rafi Pitts über seinen Wettbewerbsbeitrag "Zeit des Zorns". In der FR schüttelt der haitianische Filmregisseur Raul Peck den Kopf über zottelige westliche Journalisten. In der SZ erzählt der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase vom Filmemachen in der DDR.

Welt, 17.02.2010

Auf der Berlinale-Seite feiert Hanns-Georg Rodeck Matti Geschonnecks Film "Boxhagener Platz" mit der 73-jährigen Gudrun Ritter als Oma Otti für seinen feinen Berliner Humor: "Karl beginnt den Flirt mit Otti, indem er sie auf dem Friedhof bittet, ein paar Tage das Grab seiner Verflossenen mit zu gießen; er müsse auf Westbesuch."

Außerdem: Josef Engels wirft einen etwas trüben Blick auf die Deutschen und Aldi und meint: "Wir sind Aldi." Sascha Lehnartz berichtet über eine kleine Diskussion in Frankreich um die Frage, ob Gerard Depardieu im Film den Schriftsteller Alexandre Dumas spielen durfte, dessen Vater Kreole war. Auch Literaturkritiker können "geschickt inszenierten Verlagskampagnen" aufsitzen, meint Uwe Wittstock zum Fall Hegemann, warum es nicht zugeben? Thomas Lindemann erinnert an Schriftsteller, die von der Kritik mal als Nachfolger Salingers ausgerufen wurden. Manuel Brug kommentiert die ewige Krise um die Rundfunk Orchester und Chöre GmbH (ROC).

Besprochen werden die Fritz-Bauer-Dokumentation "Tod auf Raten", einige Forumsfilme, eine Rousseau-Ausstellung in der Fondation Beyeler, das Musical "A Little Night Music" im Pariser Theatre du Chatelet, die Aufführung des Finanzkrisendramas "Flying Down to Rio" in Lübeck und einige CDs.

NZZ, 17.02.2010

Der Komparatist Hans Ulrich Gumbrecht vermisst in all der Exzellenz-Hektik und Kolloquien-Beflissenheit ein paar gewagte Thesen auf geisteswissenschaftlichen Symposien: "Es triumphieren die Vorsichtigen, welche bedingungslos die Konsens-Meinungen ihres Lehrstuhls oder ihrer Forschergruppe bestätigen. Korpsgeist wird mehr denn je belohnt im Zeitalter der massiven Forschungsförderung. Riskantes Denken von Individuen ist weniger gefragt."

Weitere Artikel: Ronald D. Gerste berichtet von dem in den USA offenbar viel diskutierten Buch "FDR's Deadly Secret", in dem der Neurologe Steven Lomazow und der Journalist Eric Fettmann die These aufstellen, dass Präsident F. D. Roosevelt seit 1940 an einer tödlichen Krebserkrankung litt. Dirk Heisserer weiß von der Entdeckung von acht bisher unbekannten Briefen Thomas Manns im Münchner Stadtarchiv, in denen sich der Schriftsteller als Literaturförderer und -kritiker zeigt.

Besprochen werden der Roman "Der gelbe Diwan" von Walter Grond und die Dissertation "Erforschung der Natur als religiöse Praxis" der Historikerin Anne-Charlott Trepp.

TAZ, 17.02.2010

Im Interview mit Ines Kappert spricht der iranische Regisseur Rafi Pitts über seinen Wettbewerbsbeitrag "Zeit des Zorns" und die Lage im Iran: "Als wir zu drehen anfingen, wurde die Stimmung im Iran immer angespannter. Diese Atmosphäre hat unseren Film geprägt. Dabei wollte ich Leute zeigen, die im System verloren sind. Auch die beiden Polizisten, die Jagd auf die Hauptfigur machen, sind nicht einfach böse, sondern vor allem ohne Orientierung. Ebenso wie unsere Regierung. Sie ist nicht einfach nur schlecht, sondern vor allem paranoid."

Diedrich Diederichsen ist bei einigen Berlinalefilmen auf Ungereimtheiten gestoßen (etwa, dass von Orly aus keine Maschinen nach San Francisco fliegen), was frühe Kindheitswunden wieder aufriss. Berichte gibt es auch zu Peter Kerns Film "Blutsfreundschaft", Semi Kaplanoglus Wettbewerbsfilm "Bal" und Reha Erdems Panorama-Film "Kosmos".

Außerdem besprochen werden im Feuilleton die Rousseau-Ausstellung in der Fondation Beyeler bei Basel und der Tourneeauftakt des britischen Musikers Jamie T.

Und Tom.

FR, 17.02.2010

Der aus Haiti stammende Regisseur Raoul Peck ist auf die zerstörte Insel gereist - und entsetzt von dem Bild, das andere Beobachter abgeben: "Ich statte dem Hotel 'Villa creole' einen Besuch ab. Die Menschen hier haben überlebt, aber das Hotel ist zur Hälfte zerstört. Die obdachlosen Journalisten des eingestürzten Hotels Montana irren fassungslos in der Gegend herum. (Sie kennen die Sorte Hotel, unter deren Dächern Journalisten ihre Artikel gerne bei einem Whisky on the rocks verfassen.) In der Villa creole dient der Beckenrand des Swimmingpools jetzt als Schlafstätte. Ich fühle mich wie in einem Camp zotteliger Legionäre. Selbst die dünnsten Menschen wirken muskulös, so sehr strahlen sie Wichtigkeit und Überlegenheit aus. Zu viele Hähne in diesem Hühnerhof."

Zur Berlinale: "Was für ein Juwel von einem Film", jubelt Daniel Kothenschulte über Benjamin Heisenbergs "Der Räuber". Im Gespräch mit Jörg Schindler erklärt der iranische Regisseur Rafi Pitts, dessen Film "Zeit des Zorns" im Wettbewerb läuft, warum das Filmemachen im Iran für ihn in Ordnung geht: "Im Iran habe ich zwar ideologische Zensur, dafür erlebe ich im Westen oft finanzielle Zensur."

Weiteres: In Times mager berichtet Sylvia Staude von einer amerikanischen Erhebung, die ergab, dass der Hälfte der befragten Männer die handelsüblichen Kondome zu groß seien. Felix Helbig würdigt den Wissenschaftsautor Fritz Kahn, der unter anderem den "Menschen als Industriepalast" zeigte und dem die Berliner Charite eine Ausstellung widmet. Hans-Klaus Jungheinrich berichtet vom Stuttgarter Eclat-Festival. Besprochen wird Nino Haratischwilis in Göttingen aufgeführtes Stück "Zorn".

SZ, 17.02.2010

Der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, der dieses Jahr mit einem Ehrenbären ausgezeichnet wird, beschreibt im Interview unter anderem das Filmemachen in der DDR: "Und dann hatte man es in der DDR natürlich auch mit politischen Erwartungen zu tun. Das darf man sich nicht so platt vorstellen, wie es sich manchmal liest. Wir wollten ja den öffentlichen Angelegenheiten auf der Spur bleiben, wir wollten große und offene Fragen in die Gesellschaft bringen. Und auch die Politik war auf ihre Weise an der Realität interessiert. Aber wenn sich die Wunschbilder der Politik nicht deckten mit den Kinobildern, dann gab"s Konflikte. Das war manchmal beschwerlich, aber man arbeitete nicht ins Beliebige hinein. Man war in einem Raum, wo Wirkung entstand."

Weitere Artikel: Alex Rühle berichtet über Proteste gegen die verfilzte Kommunalpolitik in Köln. Klassische Musik ist gut, aber nicht alles im Eiskunstlauf, meint Helmut Mauro und verweist auf die Tücken "klebriger Geigensülze", die bereits zahlreiche Eislaufpaare ins Unglück gestürzt hätten. Johannes Willms berichtet über Proteste gegen den Umbau im alten Bibliotheksgeviert in Paris. Georg Diez besucht Salomon Korn.

Besprochen werden Clint Eastwoods Film "Invictus" ("Make my day, Mandela!", ruft ein begeisterter Fritz Göttler), Filme von Rafi Pitts und Semih Kaplanoglu auf der Berlinale, einige CDs, die Ausstellung "Das große Spiel" im Essener Ruhr Museum, die Uraufführung von Ulrike Syhas "Fracht" in der Inszenierung von Dieter Boyer am Theater Chemnitz ("Mut und Kontinuität" beweist Chemnitz hier, lobt Klaus Dermutz), die Ausstellung "Vermeer, Die Malkunst" im Kunsthistorischen Museum Wien und Bücher, darunter Christian Linders Böll-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 17.02.2010

Der Kunsthistoriker Roberto Zapperi reagiert auf Frank Zöllners Widerspruch gegen seine Thesen zu den Hintergründen von Leonardos "Mona Lisa" - und zwar mit einer quellenkundlichen Ermahnung: "Wie in anderen historischen Disziplinen müssen auch in der Kunstgeschichte, im Fall, dass es sie gibt, die überlieferten schriftlichen Dokumente sorgfältig geprüft werden, bevor die rein künstlerische Dimension eines Werks untersucht werden kann."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko geißelt den in Deutschland grassierenden "Städtebau als Nachvollzug mehr oder weniger heimlicher privatwirtschaftlicher Interessen" und berichtet von einer wundersamen Frankfurter Ausnahme von dieser Regel. Hannes Hintermeier glossiert bayerische Versuche, mit dem Denglischen behördlicherseits Schluss zu machen. Susanne Klingenstein stellt Rick Riordans auf Potterspuren befindliche Kinderbuchserie um den Poseidon-Sohn Percy Jackson vor. Arnold Bartetky begutachtet zwei Neubauten der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig.

Auf der Berlinaleseite preist Andreas Platthaus den Regisseur Koji Wakamatsu, dessen "Caterpillar" (Wettbewerb) ihm nach allen Regeln japanischer Kinokunst inszeniert scheint. Andreas Kilb kann sowohl Rafi Pitts' "The Hunter" als auch Semih Kapanoglus "Bal", beide im Wettbewerb, einiges abgewinnen. Klug findet Bert Rebhandl Philipp Scheffners "Tag des Spatzen". In der Glosse freut sich Andreas Platthaus über eine getanzte Alternativversion des Berlinaletrailers, die manchmal vor Filmen des Forums läuft. Auf der DVD-Seite werden Ausgaben von Rainer Werner Fassbinders "Welt am Draht" (in der restaurierten Fassung gerade auch bei der Berlinale uraufgeführt) und von Max Ophüls' einst schlimmem Flop "Lola Montes" empfohlen - letztere vom Regisseur Dominik Graf.

Besprochen werden die Ausstellung "Maharaja, Pracht der indischen Fürstenhöfe" in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, Clint Eastwoods Südafrika-Rugby-Film "Invictus", die neuen Choreografien "Double Lives" (in Oldenburg) und "Room Exit" (in Hamburg), und Bücher, darunter ein monstergroßer Architekturband über Zaha Hadid (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).