Heute in den Feuilletons

"Anarchoide"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.11.2007. Die SZ blickt mit Ridley Scotts "American Gangster" in das spießbürgerliche Herz des HipHop. Die FAZ sympathisiert mit den friedliebenden Sufis, die von der iranischen Regierung drangsaliert werden. Das Bermudadreieck des Antiquitätenhandels vermutet die Welt in der Nähe von Maastricht. Die FR ernennt die Lokführer zur wichtigsten bewusstseinsbildenden Kraft in Deutschland.

FR, 14.11.2007

Peter Michalzik erklärt, weshalb die geschmähte Lokführergewerkschaft GDL die zur Zeit "wichtigste bewusstseinsbildende Kraft" in Deutschland ist. "Die einzige Gruppierung, die neben Lokführern und Klinikärzten ihre Macht bisher begriffen hat, sind die Manager. Sie haben es in den vergangenen Jahren in bewundernswerter Weise hinbekommen, ihre Partikularinteressen als das Gemeinwohl zu verkaufen. Wenn nun aber die Züge nicht mehr fahren, wird man sehen, dass es noch anderes gibt, das dem Gemeinwohl nutzt, als die Steigerung des Bruttosozialprodukts in Deutschland."

Weitere Artikel: In Interview mit Harry Nutt spricht Martin Roth, Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, über das kulturelle Erbe der Deutschen und das imaginäre Nationalmuseum. Harry Nutt erklärt, wie Berliner Finanzen, Opern und der Flughafen Tempelhof zusammenhängen. Und in Times mager kommentiert Arno Widmann die allein auf das Grundgesetz verweisende Klage der Kirchen gegen verkaufsoffene Sonntage.

Besprochen werden eine Ausstellung von Biedermeier-Möbeln im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst, die Uraufführung von Tom Peuckerts "Elende Väter" in Bielefeld und Brigitte Kronauers neuer Roman "Errötende Mörder" (siehe unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 14.11.2007

Johannes Wetzel schildert den Fall des vierzig Jahre nach einem Raub wiederaufgetauchten Altars von Vetheuil - beim Antwerpener Antiquitätenhändler Bernard Descheemaeker. Dass viele gestohlene Kunstwerke in Belgien auftauchen, sei kein Zufall, schreibt Wetzel, in Belgien und den Niederlanden werde der Antiquitätenhandel nicht kontrolliert. "Außerdem verjährt in Belgien Hehlerei schon nach drei Jahren und die in Belgien eng gefassten Tatbestandsmerkmale erlauben kaum Strafverfolgung. Unter Brüsseler Antiquitätenhändlern gilt das Grenzgebiet um Maastricht zwischen Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Frankreich als Bermudadreieck. Dort sitzen einige schwarze Schafe der Zunft."

Weiteres: Zum hundertsten Geburtstag verneigt sich Wieland Freund tief vor Astrid Lindgren, selbsterklärtermaßen "Astrid aus Smaland, eine Bauerntochter von Anfang bis Ende". Hannes Stein berichtet von einer Podiumsdiskussion unter Transatlantikern in New York. Berthold Seewald widmet sich dem - im neutralen Sinne - größten Revolutionär des 20. Jahrhunderts, Wladimir Iljitsch Lenin, und seiner eher reformerisch orientierten Familie. Sven Kellerhoff widmet der Tatsache eine Meldung, dass der Wissenschaftsrat das Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) in Oldenburg gelobt hat.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Fotograf Richard Prince im New Yorker Guggenheim, Stefan Puchers "Sturm"-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen, Bettye LaVettes neues Album "The Scene of the Crime" und die Umwelt-Doku "11th Hour" mit Leonardo DiCaprio.

NZZ, 14.11.2007

Roman Bucheli freut sich zwar, dass der Berner Germanist Peter Rusterholz in seiner "Schweizer Literaturgeschichte" endlich einmal dieses Stiefkind der Germanistik berücksichtigt. Glücklich ist er über das Ergebnis allerdings nicht. Das Buch "betreibt die Ghettoisierung, ohne dass die damit verbundenen Nachteile mit einem Gewinn an kulturspezifischer Erkenntnis aufgewogen würden. Dabei gäbe es doch hierzulande genügend kluge Köpfe, die einmal das Projekt einer Geschichte der gesamten deutschsprachigen Literatur anzustoßen vermöchten: Da könnten sich dann Thomas Mann, Kafka und Robert Walser gegenseitig spiegeln. Und zeitgenössische Autoren wie Ilma Rakusa, Armin Senser oder Raphael Urweider, die aus einem Schweizer Kontext heraus gar nicht angemessen zu verstehen sind, könnte man dann in einen Horizont stellen, der die kommunizierenden Gefäße des literarischen Austausches erst sichtbar werden ließe."

Weiteres: Jan-Werner Müller stellt die Studie "Comrades! A History of World Communism" des Oxford-Professors Robert Service und seine These einer "autoritären DNA" des Marxismus vor. Besprochen werden Olga Mottas Aufführung von Mozarts "Lucio Silla" in der Staatsoper Stuttgart, eine Ausstellung mit Werken aus der Werkstatt Tizians im Palazzo Crepadona in Belluno sowie Bücher, darunter Peter Demetz' Erinnerungen "Mein Prag", und die Neuübersetzung von Raymond Radiguets "Teufel im Leib" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 14.11.2007

Andreas Fanizadeh stellt den kleinen Hamburger Verlag Edition Nautilus vor, der zunächst mit Andrea Maria Schenkels "Tannöd" und nun "Kalteis" späte Überraschungserfolge einfährt. Lutz Schulenburg, "der hagere Typ aus dem Norden zählt mit Partnerin Mittelstädt wohl zu den ausdauerndsten Anarchoiden des gegenwärtigen deutschsprachigen Literaturbetriebs. Sie repräsentieren eine inzwischen vom Aussterben bedrohte undogmatisch-existenzialistische Verlagsszene, deren Werke im Zuge der außerparlamentarischen Bewegung einmal für die Revolution gedacht waren, heute im Minimum für eine radikal bessere Welt stehen sollen."

Auf der Meinungsseite wehren sich John Mearsheimer und Stephen Walt in einem scharf geführten Interview mit Robert Misik gegen den Vorwurf, ihr Buch über die "Die Israel-Lobby" sei antisemitisch. Ebenfalls auf der Meinungsseite denkt Hilal Sezgin über Formen des alten und neuen Feminismus nach. Und in tazzwei feiert Petter Larsson den 100. Geburtstag von Astrid Lindgren.

Besprochen werden der Film "Free Rainer - Dein Fernseher lügt" von Hans Weingartner und die neue CD "import export a la turka" von DJ Ipek Ipekcioglu.

Schließlich Tom.

SZ, 14.11.2007

Großer Bahnhof für "American Gangster", den neuen Film von Ridley Scott mit Denzel Washington als schwarzem Drogenbaron Frank Lucas. Unter besonderer Berücksichtigung der Filmmusik des Rappers Jay Z wertet Andrian Kreye den Film als "Meilenstein schwarzer Kulturgeschichte". "Im Kontext der nihilistischen Hip-Hop-Kultur formuliert 'American Gangster' Befreiung allerdings als erzkonservativen Anspruch auf ein bürgerliches Leben, das von Moral und Familiensinn bestimmt ist. Aber genau da hat der Europäer Scott den Kern der Hip-Hop-Kultur verstanden wie kein anderer." Fritz Göttler lobt den Film in seiner Besprechung als einen, der "das Paradox deutlich macht, nach dem die amerikanische Gesellschaft bis heute funktioniert". Und Jonathan Fischer schildert das Gemisch aus Glücksspiel, Jazz und intellektueller Elite, das die "schwarze Welthauptstadt" Harlem ebenso prägte wie die konkurrierenden Drogenbarone Frank Lucas und Nicky Barnes.

Die Literaturseite feiert den 100. Geburtstag von Astrid Lindgren: Roswitha Budeus-Budde erinnert sich an einen Besuch bei der Autorin. Lektüreerinnerungen steuern Peter Härtling, Alexa Hennig von Lange, Burkhard Spinnen und Paul Maar bei. Alexander Menden schwärmt vom Londoner St. Pancras, einem der "prachtvollsten Bahnhöfe der Welt". Alex Rühle erklärt, warum der Sonntag nicht verkaufsoffen werden darf. Christian Jostmann berichtet von einer hochkarätigen Tagung zum Thema internationale Solidarität. Dorion Weickmann resümiert ein männerdominiertes Berliner Symposium zum Thema Glück. Jörg Königsdorf informiert über die Sanierungspläne der Berliner Staatsoper. Zu lesen ist außerdem ein kurzer Nachruf auf die Kunsthistorikerin Evelyn Weiss.

Besprochen werden die Ausstellung Arnulf Rainer/Dieter Roth, Misch- und Trennkunst in den Hamburger Deichtorhallen und in einer Kurzkritik Glucks "Orfeo ed Euridice" am Theater Augsburg.

FAZ, 14.11.2007

Michael Hanfeld liefert Hintergründe zu den iranischen Sufis, die am letzten Wochenende im Iran mutmaßliche Opfer einer Attacke des Regimes wurden: "Die mystische Bewegung der Sufis stellt gerade wegen ihrer erklärten Friedensliebe und religiösen Toleranz eine innenpolitische Gefahr für das iranische Regime dar. Nach ihrem Verständnis gebietet der Koran Toleranz, Respekt vor anderen Religionen und den Schutz von Minderheiten. Sie bestreiten, dass sich aus dem Koran die Aufforderung zum 'Dschihad', dem 'Heiligen Krieg', ableiten lasse, den Muslime gegen die 'Ungläubigen' zu führen hätten (...) Der Grundgedanke der Sufis ist der freie Mensch, womit sie sich von vornherein zu Gegnern totalitärer Regime machen, zumal solcher, die ihre Macht religiös begründen."

Weitere Artikel: Jordan Mejias nimmt nicht gerade wohlwollend zur Kenntnis, dass das amerikanische Kinopublikum offenkundig kein Interesse an politischen Filmen wie Robert Redfords "Von Löwen und Lämmern" hat. In der Leitglosse von Lorenz Jäger geht es um Gunter Sachs, das Tierkreiszeichen des Skorpions und Astrologie überhaupt. Dieter Bartetzko gratuliert dem Schauspieler Carl Schell zum Achtzigsten. Von den Plänen fürs größte Medienfestival der Welt in Shanghai berichtet Mark Siemons. Jürg Altwegg porträtiert den Reporter und Sachbuchautor Jean Hatzfeld, der in Paris für sein Buch über den Völkermord in Ruanda gerade den "Prix Medicis" erhalten hat.

Auf der DVD-Seite empfiehlt der Regisseur Dominik Graf Erich-Maria-Remarque-Verfilmungen. Michael Althen schreibt zum bevorstehenden 100. Geburtstag von Henri-Georges Clouzot und empfiehlt die DVD-Kolumne des US-Kritikers Jonathan Rosenbaum beim Filmmagazin Cinemascope.

Besprochen werden Ridley Scotts Film "American Gangster", die erst in New York, jetzt in Mannheim gezeigte Neo-Rauch-Ausstellung, eine Ausstellung zum Zeichner William Steig im New Yorker Jewish Museum, die Uraufführung von Beat Furrers neuem Klavierkonzert beim Festival "Musik der Zeit", ein Berliner Konzert von Jose Gonzales, eine Madrider Aufführung von Vicente Martin y Solers Oper "Il burbero di buon core" und Bücher, darunter Christof Hamanns Roman "Usambara" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).