Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2006. In der SZ geißelt Lawrence Lessig die Fundamentalisten des Copyrights als Sowjets aus dem Jahr 1988. Die FAZ würdigt Hans Haackes Auseinandersetzung mit der Rolle Hermann Josef Abs' bei der "Arisierung" von Vermögen in der Nazizeit. Die taz freut sich über die gute Hanfernte in diesem Jahr. Die FR verirrt sich mit Steve McQueen . Die NZZ befasst sich mit der schwierigen Lage der Muslime in Thrazien.

SZ, 22.12.2006

In einem sehr interessanten ganzseitigen Interview über das Urheberrecht im digitalen Zeitalter erklärt der amerikanische Jurist Lawrence Lessig, dass ihn die "Befürworter eines strengen Copyrights an die "alten Sowjets 1988" erinnern, die mit allen Mitteln versuchen, kreatives Potential zu vernichten. "Ich möchte, dass mein Kind in einer Welt aufwachsen kann, in der das, was es mit Kultur macht, sich radikal von dem unterscheidet, was ich mit Kultur gemacht habe. Das Kreativste, was ich als Kind angestellt habe, war, eine Mixkassette aufzunehmen und einer Freundin zu schenken. Unglaublicher Einfallsreichtum! Aber sehen Sie sich an, was die Kids heute anstellen: Sie nehmen einen Song, zerlegen ihn in einzelne Spuren, mischen die mit vier anderen Songs. Sie nehmen sich Material aus der Werbung, lösen es aus ihrem Kontext und schaffen daraus etwas Neues. Sie sind genauso kreativ, wie sich das ein Dozent im kreativen Schreiben vom Umgang mit Texten erhofft. Das ist ein guter Vergleich: Wir sollten mit allen Medien dieselben Freiheiten haben wie mit Texten. Wenn ich ein Buch schreibe, zitiere ich andere Leute - und da käme es mir doch auch nicht in den Sinn, bei denen anzurufen und um Erlaubnis zu fragen."

Weitere Artikel: Jens Bisky fordert einen Masterplan für den Berliner Schlossplatz, damit es endlich ein Ende hat mit "der spezifischen Unbestimmtheit" von Senat und Bund und dem "Schneckengang der Verwaltungen". Paul Philipp Hanske denkt über den Bedeutungsverlust der Spex nach und kommt zu dem Schluss, es liegt am Pop. Seit Hiphop gibt's nichts neues mehr, was soll man da schlau denken? Alex Rühle hat sich durch die FBI-Akten von John Lennon geklickt und fand die Lektüre überhaupt nicht cool: Die Dokumente "erinnern in ihrem engstirnigen Duktus an die graumäusigen Skribenten, die (Reiner) Kunze ausgehorcht haben". Stefan Ulrich meldet, dass Neros römische Palastbauten ab Ende Januar wieder besichtigt werden können.

Empfohlen sei außerdem noch Klaus Brills Porträt des Milliardärs und Philantropen George Soros auf der Seite 3: "Bedenkt man, dass er auf die Frage nach einem Vorbild den Russen Andrej Sacharow nennt, und zwar wegen dessen unwiderstehlichen Strebens nach Wahrheit, dann wird man analog George Soros wohl als bekanntesten Dissidenten des kapitalistischen Systems betrachten dürfen. Obwohl er gleichzeitig einer seiner größten Profiteure ist."

Besprochen werden die Ausstellung "1001 Nacht - Wege ins Paradies" im Überseemuseum Bremen und Bücher, darunter Haruki Murakamis Erzählband "Blinde Weide, schlafende Frau" und Peter Weiss' "Das Kopenhagener Journal" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 22.12.2006

Barbara Spengler-Axiopoulos macht auf die prekäre Situation der türkischen Muslime in Thrakien aufmerksam, die erst seit dem Beitritt Griechenlands zur EU als Staatsbürger anerkannt werden. "Erst seit wenigen Jahren dürfen die griechischen Muslime Kredite aufnehmen, Land kaufen, sie erhalten Baugenehmigungen und können den Führerschein machen. Vielleicht war das eindrücklichste Symbol für diese jahrelange Zurücksetzung die Situation in den thrakischen Dörfern. Die eine Hälfte, die Christen bewohnten, war asphaltiert und gepflegt und die andere Hälfte, dort, wo Muslime lebten, nur auf Sandwegen zugänglich."

Weiteres: Thomas Fischer erinnert an den Zürcher Architekten Ernst Korrodi, der in der Schweiz unbekannt ist, in Portugal aber über 400 Mal gebaut hat. Thomas Wagner würdigt den vor hundert Jahren geborenen Musikwissenschafter Georg Knepler.

Für die Verbesserung von Google-Earth hat Google die Schweizer Geodaten-Firma Endoxon übernommen, berichtet set. im Medienteil. Knut Henkel besucht die einzige unzensierte deutsche Gefängniszeitung Lichtblick in der Justizvollzugsanstalt Berlin Tegel. Uwe Bork sinniert über Weihnachten im Internetzeitalter. S.B. bewirbt die neue Generation von Legos Roboterreihe "Mindstorms".

Besprochen werden die Ausstellung "Glitter and Doom: German Portraits from the 1920s" mit Bildern des deutschen Verismus im New Yorker Metropolitan Museum sowie Dieter Dorns Inszenierung von Feydeaus Eifersuchtsfarce "Floh im Ohr" am Bayerischen Staatsschauspiel in München, die Silvia Stammen ob ihrer "kreuzbraven Amüsierlust" aber nur zum Gähnen animiert. Auf der Filmseite geht's um Tony Scotts Film "Deja Vu", Sofia Coppolas Film "Marie Antoinette" und Isabelle Mergaults Film "Je vous trouve tres beau" mit Michel Blanc.

Welt, 22.12.2006

Zum anstehenden EU-Beitritts Bulgariens und Rumäniens wirft Berthold Seewald einen Blick auf die Geschichte der beiden Länder, in denen er nicht das ominöse "Vorland des muslimischen Orients" oder das "gruselige Transsylvanien" sieht, sondern die Wurzeln Europas: "Kein anderes Gebiet Europas hat die Wurzeln, die in römischer Zeit entstanden, derart über die Zeiten gerettet... Im Balkan gliederte sich die Gesellschaft von unten nach oben, nicht von innen nach außen. Auch dieses Erbteil sollte über Rom, Byzanz, die Türken bis in die Gegenwart weitergereicht werden. Vielleicht sollte sich Europa darauf verstehen, im Balkan so etwas wie einen Hort seiner ältesten Wurzeln zu sehen und nicht ein zufälliges Grenzgebiet seiner expandierenden Gegenwart."

Weiteres: Im Gespräch mit Hanns-Georg Rodek plaudert Regisseur Aki Kaurismäki über berechnende Blondinen, Europas härteste Schädel und glückliche Momente. Thomas Lindemann stellt den Jenaer Rapper Doppel-U vor, der mit Schiller und Goethe rappt: "Im Schatten sah ich / ein Blümlein stehn." Uwe Schmitt versucht die Vertracktheiten der Affäre um die 73-jährige Yoko Ono und ihren 50-jährigen Chauffeur zu enträtseln. Sie wirft ihm Erpressung vor, er ihr sexuelle Belästung. Manuel Brug erzählt die inzwischen siebzigjährige Geschichte des Israel Philharmonic Orchestras. Thomas Macho erklärt die Entstehung weihnachtlicher Gebräuche. Und Peter Dittmar hat sich die Schach-Ausstellung "Zug um Zug" im Bonner Haus der Geschichte angesehen.

TAZ, 22.12.2006

In der zweiten taz und rechtzeitig vor Weihnachten fordert Matthias Bröckers noch einmal die Freigabe von Marihuana und verweist auf die potenziellen Steuereinnahmen allein in den USA. "Die Marihuana-Ernte betrug 2005 etwa 10.000 Kubiktonnen oder 10 Millionen Kilo; bei Produktionskosten von etwa 3.500 US-Dollar kommt das Kilo im Großhandel für Preise zwischen 6.000 bis 8.000 Dollar auf den Markt. Von der Gesamternte im Wert von über 35 Milliarden Dollar - die jährliche Maisernte repräsentiert einen Wert von 23,3, die von Sojabohnen 17,7 Milliarden Dollar - wird über ein Drittel in Kalifornien eingebracht, gefolgt von den Bundesstaaten Tennessee, Kentucky, Hawaii und Washington. Etwa ein Fünftel der Jahresproduktion wird Indoor unter Kunstlicht gezogen, der Rest wächst im Freien; nicht einmal zehn Prozent der geschätzten Jahresproduktion werden von der Polizei entdeckt und beschlagnahmt." Was die Prohibition mit dem Boom von privaten Gefängnissen zu tun hat, muss man selbst nachlesen.

Die Redaktion der Musikzeitschrift Spex zieht von Köln nach Berlin, Ralf Niemczyk skizziert den Weg bis zur Entscheidung. Stefan Reinecke verteidigt den Soziologen Wilhelm Heitmeyer gegen Kritik an seiner Studie, in der er eine wachsende Feindlichkeit gegenüber Muslimen feststellt. Eine ganze Reihe von CDs gibt es als Feiertagstipps. Besprochen wird der Band "Nur was nicht ist ist möglich" zur Geschichte der Einstürzenden Neubauten.

Und hier noch Tom.

Tagesspiegel, 22.12.2006

Diedrich Diederichsen zerbricht sich den Kopf darüber, wie die Popmusik in Würde altern kann. "Der einschlägige Popmusiker muss vor allem einen Zusammenhang zwischen seiner Tätigkeit als Regisseur seiner Auftritte, seiner Persona, seiner Musik und den Auftritten selbst, der Repräsentation all dieser Einfälle herstellen. Denn das wollen die Leute von ihm. Wie er damit im Lauf der Zeit umgeht, das ist die Frage. Plausibel soll nach dem klassischen Modell nicht nur der Song sein, sondern auch ein bestimmtes biografisches Verhältnis zu ihm. Dieses Verhältnis kann in der gern fetischisierten Authentizität liegen oder auch in einer wohl eingespielten Nichtübereinstimmung - die dann ihrerseits wieder zu einem authentischen Markenzeichen wird wie bei David Bowie und Frank Zappa. In jedem Fall ist die Arbeit an der Biografie nicht unwichtig. Noch wichtiger aber ist es, einen Darstellungsmodus zu finden, der weder in die Falle einer schwachsinnigen Identität mit der offiziellen Biografie tapst, wie das so viele heutige Stars tun, noch sich in der auf die Dauer ebenso öden Sicherheit eines 'Spiels mit Identitäten' gemütlich einrichtet - wie etwa die späte Madonna."

FR, 22.12.2006

Luxemburg, Belgien, das französische Lothringen, Rheinland-Pfalz und das Saarland sind europäische Kulturhauptstadt 2007. Sandra Danicke hat die Eröffnungausstellungen in Saarbrücken, im Casino Luxemburg und im französischen Metz besucht. Dort ist sie in eine Rauminstallation von Steve McQueen geraten, "die das Orientierungsvermögen dermaßen auf den Kopf stellt, dass sensible Gemüter mit mittelschweren Panikattacken konfrontiert werden könnten. Man betritt einen dunklen Gang und findet sich in einem finsteren, von Lichtflecken und diffusen Geräuschen erfüllten gigantischen Labyrinth wieder, das sich - nachdem man verschämt einen Wärter mit Taschenlampe zu Hilfe gerufen hat - als blamabel winziges Spiegelkabinett entpuppt. Man sei aber nicht die einzige gewesen, die die Fassung verloren habe, tröstet der Mann mit der Taschenlampe und verweist auf ein demoliertes Wandstück."

Weiteres: K. Erik Franzen begrüßt, dass sich die Stadt München und Bayern endlich auf die Finanzierung eines überfälligen NS-Dokumentationszentrums geeinigt haben (eine Seite gibt es schon). Elke Buhr nutzt eine Times mager, um ihre Leser mit feiertäglichen Tipps gegen Läuse zu versorgen. Die Besprechung widmet sich der Fortsetzung von Dieter Dorns Komödienserie am Bayerischen Staatsschauspiel, diesmal mit George Bernard Shaws "Androklus und der Löwe".

FAZ, 22.12.2006

In seiner Kritik der Retrospektive Hans Haackes in Berlin greift Niklas Maak auch ein kritisches Kunstwerk auf, das sich mit dem Wirken des einst mit dieser Zeitung so verbundenen Bankiers Hermann Josef Abs befasst. Dieser hatte 1968 dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum einen Manet geschenkt: "Als sechs Jahre später der vom gleichen Museum zu einer Ausstellung über 'Kunst am Anfang der siebziger Jahre' eingeladene Künstler Hans Haacke vorschlug, die Geschichte des Bildes und seiner Besitzer zu ermitteln und diese Recherche als Kunstwerk im Museum auszustellen, lehnte der Museumsdirektor es ab, dieses Werk zu zeigen: 'Ein dankbares Museum', so das Argument, müsse 'Initiativen so außerordentlichen Charakters vor jeder späteren, noch so leicht verschattenden Interpretation' bewahren. Der Schatten, den Haacke in seiner Arbeit nicht verschweigen wollte, war die Rolle, die Abs im Dritten Reich bei der 'Arisierung' jüdischen Vermögens gespielt hatte und wegen der ihm bis zu seinem Tod 1994 die Einreise in die Vereinigten Staaten verweigert wurde."

Weitere Artikel: Christian Geyer berichtet im Aufmacher, dass die katholische Kirche den Begriff des Seelenheils wieder stärker hervorkehren möchte, der ein aktives Bekenntnis zu Christus fordert und eine Aufnahme in den Himmel aus bloß allgemeinmenschlichen Rücksichten versperrt. Andreas Rosenfelder spaziert zu Weihnachten durch die Parallelwelt von Second Life und stößt auf viele Sonderangebote in harten Lindendollars. Oliver Jungen meldet zugleich, dass Bild.T-Online in Second Life eine Zeitung namens AvaStar herausgibt, die ebenfalls für harte Lindendollars zu erwerben ist. In der Glosse berichtet Hubert Spiegel, dass Ulla Unseld-Berkewicz eine juristische Drohung wahrmacht und die neuen Gesellschafter aus dem Suhrkamp Verlag herausklagen will - Spiegel sieht einen komplizierten Rechtsstreit voraus. Der Frankfurter Planungsdezernent Edwin Schwarz antwortet auf eine Polemik des Architekten Christoph Mäckler zum Neubau der Europäischen Zentralbank in der zerhauenen Karkasse der Frankfurter Großmarkthalle durch die Architekten Coop Himmelb(l)au. Jürgen Kesting gratuliert der Sopranistin Edita Gruberova zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite stellt Michael Hanfeld die dänische Künstlergruppe Surrend vor, die in der regimetreuen Tehran Times eine scheinbar Ahmadindeschad-freundliche Anzeige schaltete, deren Zeilenanfänge allerdings das Wort "Swine" ergeben. Und Alexander Grau verfolgte eine Berliner Diskussion über den Tod in den Medien.

Auf der letzten Seite unterhält sich Christian Schwägerl mit Reinhold Leinfelder, Generaldirektor des Museums für Naturkunde in Berlin, der eine neue Ausstellung über die Evolution vorbereitet und erklärt, warum er den Kreationismus für Humbug, den Atheismus darum aber nicht für die einzig natürliche Religion von Naturwissenschaftlern hält. Andreas Kilb verfolgte eine Verhandlung über den weiteren Betrieb am Flughafen Tempelhof, dessen Ende nun endgültig absehbar scheint. Und Niklas Bender porträtiert den französischen Fernsehstar Pascal Sevran, der durch rassistische Äußerungen von sich reden machte.

Besprochen werden ein Auftritt des Kabarettisten Heinz Strunk in Heidelberg, ein von Edgar Reitz kompilierter Film mit nicht veröffentlichten Szenen aus seiner Heimat-Trilogie, eine "Arabella" in Wien und eine "Ariadne auf Naxos" in Zürch und Sachbücher, darunter eine dreibändige Geschichte Dresdens (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).