Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2006. Das taz-Feuilleton schnüffelt sich in Ausübung seiner kulturkritischen Pflicht durch den büffelhäutigen Schimmer kunstvoll getünchter Kabinette in der Frankfurter Ausstellung "I Like America". Die Berliner Zeitung will sich beim Total Music Meeting in Berlin von heilig heilender Musik zum Denken anregen lassen. Die FAZ macht anlässlich des Films "Borat" darauf aufmerksam, dass Vorurteile keine amerikanische Spezialität sind. Die NZZ resümiert französische Debatten über den Kolonialismus.

NZZ, 01.11.2006

Marc Zitzmann fasst neue Beiträge zur französischen Debatte über die koloniale Vergangenheit zusammen, die zwischen Reue und dem Verdacht politischer Ausbeutung der kolonialen Sünden schwanken. So kritisiere der Schriftsteller Pascal Bruckner, "die in Europa verbreitete Haltung, sich lieber jeder nur erdenklichen historischen Schuld zu bezichtigen, als hier und jetzt Verantwortung zu übernehmen. Dabei seien die ehemaligen Kolonialmächte den Völkern, die sie verfolgt haben, neben der Anerkennung dieser Verfolgung nur eines schuldig: die Demokratie zu fördern und die Despotie zu bekämpfen."

Weitere Artikel: Beatrice von Matt gratuliert dem Schweizer Dichter Josef Vital Kopp zum hundertsten Geburtstag. Kurz gemeldet wird eine Ausstellung von Mozart-Handschriften im Scharounbau der Berliner Staatsbibliothek. Und auf der Kinderbuchseite erläutert der Illustrator Peter Schössow seine Bebilderung zu Christian Morgensterns Gedicht "Die Mausefalle" ("Das ist alles erfummelt.").

Besprochen werden Stephen Frears filmische Auseinandersetzung mit dem englischen Könighaus ("The Queen"), ein Mozart-Konzert des Zürcher Kammerorchesters in der Tonhalle Zürich, ein neu erschienenes habsburgisches Kartenwerk über Venedig, und Kinderbücher, darunter Arnold Schönbergs "Die Prinzessin" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 01.11.2006

Online kommentiert Jörg Lau die neue Kopftuch-Debatte in Deutschland: "Der Kampf der Kulturen findet tatsächlich statt, aber zunehmend innerhalb der jeweiligen Lager. Es stehen auch im Islam immer häufiger selbstbewusste Reformer gegen Konservative. Heute sind es vor allem Frauen mit - schreckliches Wort - Migrationshintergrund, die sich den Mund nicht mehr verbieten lassen und ihre Rechte einfordern - so wie die Anwältin Seyran Ates, die Soziologin Necla Kelek, die Autorin Serap Cileli, die SPD-Abgeordente Lale Akgün und nun auch die Grüne Ekin Deligöz. Die deutschen Türken könnten eigentlich stolz sein, eine ganze Reihe solcher bemerkenswerter Frauen hervorgebracht zu haben."

TAZ, 01.11.2006

"Betörend und komplex" findet Ulf Erdmann Ziegler die Ausstellung "I like America" über das Bild der Deutschen vom Wilden Westen in der Frankfurter Schirn. "Es gehört zu den Qualitäten der Schirn-Ausstellungen unter Max Hollein, aber dieser insbesonders, dass man sich über Maßstab und Raumwirkung Gedanken gemacht hat. Unter dem büffelhäutigen Schimmer der kunstvoll getünchten Kabinette schnüffelt man sich durch die kleinteiligen Konvolute, wird durch quer gestellte Vitrinen aufgehalten, in Buchten von weitem oder schmalem Schnitt umgeleitet, um schließlich in einem festlichen Mittelsaal zu stehen, der mit den gelb und orangerot glühenden Gemälden dreier Maler illuminiert ist - Carl Wimar, Alfred Bierstadt und Thomas Moran. Wimar ist gewissermaßen der Erfinder des Westerns vor dem Kino. Bierstadt zeigt sich als Meister der Pastorale, kleine Figuren in majestätischen Landschaften."
(Siehe auch Besprechung des Katalogs von Arno Widmann in "Vom Nachttisch geräumt".)

Auf den Kulturseiten hat Anke Leweke genug von den "traurigen, verzweifelten Frauen", wie sie dieses Jahr auf den Hofer Filmtagen wieder massenhaft auf der Leinwand zu sehen waren. Unter der irgendwie entwaffnenden Seitenüberschrift "Der lange Text" analysiert die Historikerin Dagmar Herzog auf den Tagesthemenseiten, warum in den USA Sex zum Wahlkampfthema geworden und selbst bei einem Sieg der Demokraten die diesbezügliche Kulturrevolution der religiösen Rechten längst noch nicht beendet ist.

Vorgestellt wird schließlich das neue Buch "Huhn mit Pflaumen" der iranischen Comiczeichnerin Marjane Satrapi, in dem sie diesmal in die 50er Jahre im Iran zurückgeht.

Und Tom.

Welt, 01.11.2006

Sven Felix Kellerhoff und Uwe Müller berichten von der offenbar recht eilig erarbeiteten Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetz, durch die Bürgerrechtler und Politiker ein Ende der Aufarbeitung des SED-Unrechts kommen sehen. "Das Ergebnis wäre wohl eine weitgehende Amnestie für Stasi-Tätigkeit. Schon bisher schränken verschiedene Gerichte die Identifizierung ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zugunsten eines weit ausgelegten Persönlichkeitsrechts stark ein. Jüngstes Beispiel ist der Berliner Hotelier Thomas Klippstein: Er konnte einstweilige Verfügungen gegen die Berichterstattung über seine Tätigkeit als Stasi-Spitzel erwirken, bevor er Ende September einräumen musste, vor dem Mauerfall Gäste und Kollegen ausgespäht zu haben. Der Berliner Presserechtler Jan Hegemann warnt: 'Kommt es zur geplanten Novellierung, besteht die Gefahr, dass kaum noch über Stasi-Verquickungen berichtet werden kann.'"

Berthold Seewald meldet, dass im sibirischen Irkutsk der Notstand erlassen wurde: "733 Menschen wurden dort mit Alkoholvergiftungen in Krankenhäuser eingeliefert, mindestens 33 starben bereits daran. Insgesamt sollen in den letzten Tagen rund 120 Menschen in acht Regionen des Landes dem Trunk erlegen sein, fast 3.000 Krankheitsfälle wurden gemeldet. Damit dürfte in diesem Jahr die offiziell genannte Zahl von 42.000 Toten als Folge gepanschten Wodkas überschritten werden. Alle amtlichen Versuche, den Konsum durch Preiserhöhung oder Drosselung der Produktion einzuschränken, führen nur dazu, dass umso größere Mengen giftigen Industriealkohols auf den Markt kommen."

Weiteres: Im Interview mit Sven Felix Kellerhoff spricht der Leiter des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts, Gerhard Besier, über die Philosophin und ihren Versuch, eine große Meistererzählung der Freiheit zu schaffen. Reinhard Wengierek berichtet von sich ankündigenden Protesten angesichts der Pläne Thüringens, zehn Millionen Euro Kulturausgaben zu streichen. Eckhard Fuhr sinniert über die Sommerhaus-Existenzen von Schriftstellern, Günter Grass hat offenbar gerade Ärger mit seiner Behausung in Dänemark. Angesichts der Erfolge von Comedy-Reportern wie Sacha Baron Cohen, Hape Kerkeling und Jon Stewart kommt Josef Engels zu dem Schluss: "Journalisten sind die ultimativen Witzfiguren der Gegenwart." Zum achtzigsten Geburtstag ehrt Tilman Krause den Schriftsteller Günter de Bruyn als Beispiel wahren Nonkonformismus.

FR, 01.11.2006

Interessiert beäugt Mirja Rosenau die Ausstellung "Anonym" in der Frankfurter Schirn, in der auf Namensschilder und Künstlernennungen komplett verzichtet wird. "Spätestens beim Lesen des Manifests, das der anonyme Kurator an die Wand der Schirn-Rotunde schlagen ließ, wird deutlich, dass hier 'Widerstand' geleistet wird. Gegen die 'zunehmende Barbarisierung des Denkens durch Kurzschlüsse und Schnellschüsse', ein 'Denken, das nur wie ein Kniescheibenreflex funktioniert'."

Zu lesen ist ein Interview mit Katrin Klingan, künstlerische Leiterin des Ost-West-Projekts "relations", in dem Künstler, Kuratoren und Wissenschaftler aus Deutschland und Osteuropa zusammenarbeiten. Petra Kohse erzählt von einer Berliner Mutter, die erkennt, dass sie sich das Schwimmbad nicht mehr leisten kann. Und in Times mager rechnet Elke Buhr vor, wie man als 65-Jähriger rund 40 Prozent jünger sein kann.

Besprochen werden Sacha Baron Cohens Filmsatire "Borat" und Bücher, darunter eine Studie über "Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945" von Catherine Merridale und der Roman "Im April" (hier eine Leseprobe) von Christina Viragh (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 01.11.2006

Im Interview mit Christian Broecking spricht der New Yorker Bassist William Parker, der morgen beim Total Music Meeting in Berlin auftreten wird, über den schweren Stand der afroamerikanischen Improvisationsmusik in den USA: "Die Kunst zählt hier nichts, und Kunst, die die Menschen zum Denken anregt, die sie in revolutionäre Bewegung versetzt, erst recht nicht. Wenn diese Ideen zudem noch afroamerikanischer Herkunft sind - vergiss es. Rap und HipHop haben eine eigene Industrie für weißes und schwarzes Publikum, aber das ist etwas ganz anderes. Ich spielte mit The Roots, doch die HipHop-Community macht keine Konzerte mit uns zusammen. Was wir machen, ist heilige heilende Musik, und die Menschen, die sie brauchen, finden sie auch. Das geht viel tiefer als schwarz und weiß, europäisch, indianisch, afrikanisch - das ist eine universelle Sprache, nur dass in Amerika alles einen rassistischen Bezug hat. Kreative schwarze Musik wird genau darum nicht unterstützt, dafür aber europäisch orientierte klassische Musik. Würden mehr Menschen unsere Musik hören, hätten wir die Probleme nicht."

FAZ, 01.11.2006

Edo Reents denkt über "Borat" nach, das von Sacha Baron Cohen verübte Humorattentat auf die politische Korrektheit, und warnt davor, die mit versteckter Kamera entblößten Vorurteile für eine amerikanische Spezialität zu halten: "Wie würde man selber reagieren, wenn einem Borat so käme? Wer in ihm nur den Geburtshelfer der hässlich-unheimlichen Seite Amerikas sieht, der unterschlägt, dass es ein Gebot der Fairness ist, unschöne Anschauungen und Regungen, die sich unter den Bedingungen der Überrumpelung äußern, nicht ohne weiteres beim Nennwert zu nehmen."

Weitere Artikel: Christian Geyer graust es vor der offensichtlich immer stärker kursierenden Redewendung "Ich bin ganz bei Ihnen". Christian Schwägerl notiert mit Erstaunen, dass die deutsche Politik auf neue und dramatische Berichte über die Klimaerwärmung mit Diskussionen über einen neu zu bildenden parlamentarischen Unterausschuss reagiert. Heinrich Wefing wird ganz feierlich zumute angesichts des Publikums- und Medienerfolgs des Bode-Museums. Andreas Rosenfelder begab sich auf Spurensuche in Gummersbach und sprach mit einigen achtzigjährigen HJ-Kameraden von Jürgen Habermas, die alle nichts Kompromittierendes beitragen konnten. Matthias Dannemann verfolgte ein Kolloquium über die Didaktik des Geschichtsunterrichts in Braunschweig.

Auf der Medienseite stellt Nina Rehfeld einige amerikanische TV-Serien vor, die sich mit den Auswirkungen von Atombomben befassen (zum Beispiel in "Jericho"). Und Jochen Hieber hat für die Reihe "Ein Fernsehtag" einen Tag mit dem ZDF verbracht. Auf der letzten Seite befasst sich Julia Bähr mit der Lage der Cafes und Restaurants in den Literaturhäusern von Frankfurt und München. Andreas Rossmann berichtet über einen Düsseldorfer Streit um ein paar vom Bürgermeister persönlich importierte und im Stadtraum platzierte Skulpturen von Manolo Valdes und zweifelhaftem künstlerischen Wert. Und Dieter Bartetzko warnt davor, eine jüngst aufgefundene Büste für ein authentisches Porträt des Aristoteles zu halten.

Besprochen werden Christian Tschirners Inszenierung von Eduardo De Filippos Stück "Die Kunst der Komödie" in Bochum, einige Ausstellungen über Frankfurt als Stadt der Kaiserkrönungen in Frankfurt, ein Konzert des Liedermachers Bernd Begemann und Aufführungen des Festivals des zeitgenössischen Tanzes in München.

SZ, 01.11.2006

Die Münchner feiern Allerheiligen. Wir gratulieren.