Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2005. In der Zeit schillert der 200 Jahre tote Schiller besonders aktuell. In der FAZ schildert Hussain Al-Mozany, wie die arabischen Regimes die Wahlen im Irak torpedieren. Die NZZ eröffnet eine Reihe über Europa und den Islam mit einem Interview des deutschen Autors Zafer Senocak.

Zeit, 05.01.2005

Die Zeit läutet das Schiller-Jahr ein und verehrt auf zwölf Seiten den großen Mann, der rein zufällig zweihundert Jahre nach seinem Tod so aktuell ist wie nie zuvor.

Der Dichter Robert Gernhardt beneidet Schiller zum Beispiel um die "präzis anvisierten und eiskalt platzierten" Pointen, mit denen "der coole Friedrich" sein Publikum inkommodierte: "Genius oder Gespenst - das meint: Poesie, die wirken will, hat extrem zu sein. Bye bye Harmonie, Reinheit, Ideal und Klassik, hello Reiz, Kick, Mischung und Moderne. In seiner berühmten Marburger Rede über Probleme der Lyrik wird Gottfried Benn dem Kollegen vorbehaltlos zustimmen: 'Lyrik muss entweder exorbitant sein oder gar nicht.'".

Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu, der sich stets gesträubt hat, mit Schiller "freideutsch und wenigtürkisch und etwas mehr als beides zusammen" zu werden, meint: "Ich muss nicht Schiller-Verse aufsagen können, ich muss nicht alles wundervoll finden, was er schrieb. Seine "Briefe zur ästhetischen Erziehung" aber seien allen anempfohlen, die verständig sind, dem Arschgesicht Vernunft keinen Respekt zu zollen."

Die Regisseurin Andrea Breth erklärt, warum sie "einfach nicht lassen" kann "von diesem Burschen" und im nächsten Jahr sogar den unspielbaren "Wallenstein" auf die Bühne bringen will: "Den Wallenstein können Sie im Grunde genommen nur noch an so einem Haus machen wie dem Burgtheater. Die anderen Häuser haben gar nicht mehr die Quantität der Schauspieler - abgesehen von der Qualität." Jens Jessen schätzt an Schiller die "Schlaumeierei", mit der dieser Willensfreiheit gegen die Natur und die "Mode" verteidigte. Thomas Assheuer spürt dem Gewaltmoment im Freiheitswillen nach. Iris Radisch verzeiht ihm "den Starrkrampf seiner Verse, das Gipserne seines Schönheitsideals, das Schachfigurenartige seiner Charaktere", denn "Ruhm gebürt ihm, die Kunst dahin gestellt zu haben, wo sie hingehört: auf den Königsthron der Gesellschaft".

Und weiter: Der Dramatiker Rolf Hochhuth fragt sich, warum sich die Deutschen eigentlich immer noch an Hitlers Verbot halten, das Widerstandsdrama "Wilhelm Tell" zu spielen. Rolf-Bernhard Essig bewundert den Dichter als Komiker. Hannelore Schlaffer erzählt, wie sie mit Schiller zum Manne reifte. Achatz von Müller erzählt von Schillers Beststeller, dem Schauerroman "Der Geisterseher". Peter Kümmel betrachtet das Fleischliche in Schillers Dramen und den Menschen, dieses "unseligen Mittelding zwischen Vieh und Engel". Petra Kipphoff erzählt von Schillers Liebeshass zu Goethe, Elisabeth von Thadden widmet sich seiner Abneigung gegen die Natur. Und Claudia Herstatt berichtet von Schiller-Devotionalien auf dem Kunstmarkt.

Nur Thomas E. Schmidt ist genervt: von all den wichtigen Mienen und staatsragenden Reden über Freiheit, Bildung und Menschheit! "Was als Programm zur ästhetischen Erziehung formuliert wurde, kann man im Rückblick auch als Aufruf zur kleinen Lösung verstehen: Ihr müsst es euch nicht so schwer machen, das Gute liegt im Ich, und da liegt es gut. Ein Talent zur Politik beförderte die ästhetische Erziehung in Deutschland jedenfalls nicht, eher die Revolutionsunlust. Eine schöne Seele kann manches ertragen."

Im Leben beschwört der Soziologe Heinz Bude eine Wiederkehr des Politischen unter den stilbildenden Gruppen in Deutschland: "Es gibt wieder eine soziale Frage und den Ernst des Lebens." Für das Dossier reist Richard Chaim Schneider den israelischen Grenzzaun entlang.

FR, 05.01.2005

Stephan Hilpold porträtiert die Kunstmäzenin Francesca von Habsburg, die im vergangenen April in der Wiener Himmelpfortgasse 13 ihre Stiftung T-B A21 eröffnet hat: "Nicht Ausstellungen stehen im Mittelpunkt von T-B A21, sondern die Ausrichtung von Projekten. Auf der Art Basel in Miami Beach zum Beispiel hat die Stiftung ein Projekt des Konzeptkünstlers Dan Graham koproduziert, eine 'Perfomance-Puppentheater-Rockoper', wie sich 'Don't trust anyone over thirty' offiziell nennt. Tony Oursler, Rodney Graham und Paul McCarthy machten mit, sowie die Gründer von Sonic Youth. Ein Projekt zwischen allen Genres und jenes, über das in Miami am meisten gesprochen wurde, wie von Habsburg sagt."

Besprochen werden Wenzel Storchs "nicht ganz jugendfreier" Märchenfilm "Die Reise ins Glück" ("Gern würde man dieses Schiff der Träume und den barocken Filmstil des Hildesheimer Filmemachers Wenzel Storch mit Fellini vergleichen. Genau besehen ähnelt sein Schauplatz jedoch eher jener rosaroten Riesenschnecke, auf der sich einst Rex Harrison aus der Musicalversion des Doctor Doolittle davonstahl", schreibt Daniel Kothenschulte), eine Ausstellung über die funktionalistische Moderne der mährischen Stadt Zlin im U-Bahnhof am Potsdamer Platz und Bücher, darunter Claudia Otts Neuübersetzung von "Tausendundeine Nacht" und ein Band mit Porträtfotografien von Hellen van Meene (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 05.01.2005

Zahlreiche Kräfte versuchen die Wahlen im Irak zu behindern, schreibt der irakische Autor Hussain Al-Mozany, nicht nur die Islamisten, sondern auch die autoritären Regimes der umliegenden Länder, die sich durch eine Demokratie gefährdet fïühlten: "Geradezu heimtückisch ist der Beitrag zur Terrorbekämpfung der durch die amerikanischen Umgestaltungspläne verunsicherten arabischen Alleinherrscher: Sie lassen die Hassprediger in den Moscheen gewähren, die die Gl�ubigen gegen die amerikanische Besatzungspolitik im Irak mobilisieren. Wenn sie gegen diese Predigten vorgingen, würden sie der Komplizenschaft mit Amerika bezichtigt. Zugleich ermöglichen sie den Todeskandidaten für die Sache Allahs freies Geleit in den Irak. Sie sollen ihre Untaten gefälligst so weit entfernt wie möglich verüben."

Weitere Artikel: Wolfgang Schuller beklagt im Aufmacher den Streit zwischen verschiedenen Opferorganisationen in den Neuen Ländern, die sich nicht auf eine gemeinsame Gestaltung von Gedenkstätten einigen können und fürchtet einen "tragischen Bankrott" der nach der Wende entwickelten Konzepte. Marta Kijowska erinnert an die innige Beziehung Susan Sontags zur polnischen Kultur - ihr Roman "In Amerika" erzählt die Geschichte einer polnischen Schauspielerin - und an die Gegenliebe der Polen, die sich in zahlreichen Nachrufen artikuliert. Der Autor Guillaume Paoli, vormals als "glücklicher Arbeitsloser" bekannt, begab sich nach Dessau, wo man nach Antworten auf die Frage sucht, ob man Walter Gropius' Direktorenhaus im Bauhaus-Ensemble wieder aufbauen soll oder nicht - und er ruft eine Epoche der "Rekonstruktion" aus, die der Epoche der Dekonstruktion folgen soll.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass Pro 7 Sat 1 weltweit auf Pay TV setze.

Auf der letzen Seite schildert Martin Kuhna in einer lesenswerten Reportage den "bittersüßen Triumph", den man in den letzten Kokereien in Bottrop angesichts des Stahlbooms empfindet, der die Preise für ihren Koks vervielfacht hat. Katja Gelinsky berichtet, dass sich in den USA immer mehr offizielle Internetseiten mit Daten �ber Wohnorte und Aussehen von Sexualstraftätern ausbreiten. Sandra Kegel erinnert an den ehemaligen preußischen Staatsanwalt Robert W. Kempner, der als Ankläger im Nürnberger Prozess aus dem Exil zurückkehrte und dessen Nachlass gerade versteigert wird.

Besprechungen gelten dem Film "Ray" über Ray Charles ("ein großes Kunstwerk" nach Edo Reents), eine Ausstellung mit norwegischer Malerei in der Kunsthalle Emden, eine Ausstellung der amerikanischen Malers Franz Kline in Turin und eine Ausstellung über den Autor und Zeichner Bruno Schulz in Paris.

Online zu lesen sind jetzt auch Michael Lentz' zehn Thesen zur Lage der Poesie in Deutschland, die er am Montag in der FAZ lancierte.

NZZ, 05.01.2005

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Zafer Senocak eröffnet eine neue Reihe über den Islam und Europa. Senocak fürchtet keine Islamisierung der Türkei: "Was vielmehr passiert, ist ein Umdenken der Muslime. Ein Reinigungsprozess, der innerhalb der Eliten eingetreten ist. Großstädtische Eliten, die aber in der islamischen Kultur beheimatet sind, gab es früher ja gar nicht. Früher waren die türkischen Eliten rein säkular, rein westlich, hatten mit dem Islam überhaupt nichts zu tun - und waren eigentlich dem Land sehr fremd. Heute hat man, ohne dass die alten gänzlich verschwunden wären, neue Eliten: Intellektuelle, Schriftsteller, Kommentatoren, Fernsehleute, die versuchen, eine kritische Selbstreflexion anzustoßen. Das sind sehr wichtige Anfänge. Eine neue intellektuelle Schicht, die in der Lage ist, Demokratisierung mit Modernisierung zu verbinden. Die nicht immer nach dem Militär ruft, sondern eigene Kräfte hat, um das Land vor Radikalisierung zu schützen."

Besprochen werden ein Gemeinschaftsprojekt dreier Museen in Chur über die "Weiße Wunderware Schnee" (im Bündner Kunstmuseum, im Rätischen Museum und im Bündner Naturmuseum in Chur), Oliver Stones Filmepos "Alexander", mehrere Bücher über Alexander und Juli Zehs Roman "Spieltrieb" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 05.01.2005

Ausschließlich Besprechungen in der taz. Es geht um die Ausstellung "Schanghai Modern" in der Münchner Villa Stuck, Taylor Hackfords Film "Ray" und Heinz Strunks Roman "Fleisch ist mein Gemüse" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Verlinken können wir nicht, die taz präsentiert im Netz noch ihre Ausgabe von gestern.
Stichwörter: Strunk, Heinz, TAZ, Villa Stuck

SZ, 05.01.2005

"Können eigentlich Karrieren in diesem Land auch aufgrund erwiesener Unfähigkeit enden? Oder ist es allein nachgewiesener Eigennutz, der einer erregungsbereiten Öffentlichkeit nicht mehr zu vermitteln ist", fragt Jens Bisky nach den jüngsten Affären um Nebeneinkünfte. Er selbst hält nicht viel von diesem moralischen Reinheitsgebot: "Der Wunsch nach Politikern ohne Eigennutz und Eigeninteresse aber schwächt Demokratie, so wie Bestechung ihr schadet. Da wird von Politikern erwartet, was von Staatsdienern, Beamten und Verwaltungsangestellten, mit Recht gefordert werden kann: Neutralität und Reinheit. Politik ist doch aber mehr als Recht und Ordnung. Parteienkämpfe und Streit dürften zu besseren Gesetzen führen als Harmonie und geregelter Geschäftsgang."

Weiteres: Holger Liebs führt durch die auf Notbetrieb umgestellten deutschen Museen. Jörg Häntzschel stellt das für Hongkong geplante gigantische Kulturzentrum "West Kowloon Cultural District" vor, um dessen Bestückung unter anderen das Centre Pompidou und das Guggenheim konkurrieren. Alexander Kissler bescheidet denen, deren Gottvertrauen durch die Flut ins Wanken geraten ist: "Weniger Theodizee, mehr Klage, weniger Interpretation und mehr Hilfe wagen, lautet das Motto der Stunde." Eva-Elisabeth Fischer begrüßt den Tanzplan der Bundeskulturstiftung und erhofft sich dadurch einen Aufbruch in der orientierungslos gewordenen Kunstsparte Tanz, "deren Protagonisten bis dato vornehmlich in den Disziplinen Selbstverleugnung und Selbstausbeutung brillierten". Sonja Zekri berichtet von dem Ärger, den der ägyptische Schriftsteller Ali Selim bekam, weil er es wagte, Israel zu besuchen. Jenny Hoch meldet, dass von der Flut in Südasien auch Kulturdenkmäler betroffen sind, darunter die Festungsstadt von Galle in Sri Lanka, die Denkmäler von Mahabalipuram und der Sonnentempel von Koranak in Indien.

Besprochen werden Christine Jeffs Plath-Porträt "Silvia" mit Gwyneth Paltrow, Taylor Hackfords Biopic "Ray", Dani Levys deutsch-deutsch-jüdische Komödie "Alles auf Zucker" und Bücher, darunter Maurice Blanchots Erzählungen "Im gewollten Augenblick" und eine Biografie des Kunsthistorikers Georg Dehios (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).