Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.08.2004. "Ungeheuerlich, unerhört, pervers": In der FAZ kritisiert Werner Spies das Fehlen europäischer Künstler in der Berliner Moma-Ausstellung. Außerdem bedauert die FAZ, dass sich die Schweizer immer häufiger auf Englisch verständigen müssen. Die Welt setzt die von Jörg Friedrich lancierte Debatte über einen möglichen deutschen Sieg im Ersten Weltkrieg fort. Auch der New Yorker zieht Lehren aus dem Ersten Weltkrieg. Die SZ liest E-Mails von Al Qaida. In der FR hört Wolfgang Templin die Signale der neuen Montagsdemonstrationen.

FAZ, 17.08.2004

"Unerhört", "absolut ungeheuerlich", "perverse Wirkung": Der Kunsthistoriker Werner Spies scheut in seinem späten Gang durch die Berliner Moma-Ausstellung die starken Worte nicht, um seiner Empörung Luft zu machen. Im zweiten Teil der Ausstellung über die Nachkriegszeit fehlen die europäischen Künstler ganz, nicht nur die späten Picasso oder Matisse, sondern auch: "Nam June Paik, Tinguely, Fontana, Klein, Bacon, Hockney, Beuys, Boltanski, Baselitz, Kiefer, Polke, Becher oder Ruff." "Diese Entscheidung wirkt geradezu kolonialistisch. Sie propagiert ein Geschichtsbild, von dem man sich nicht leicht befreien kann", schreibt Spies ganzseitig auf der Aufmacherseite, und weiter: "Die Besucher können die Abwesenheit der Europäer in einer so prestigiösen Ausstellung nur als abschlägiges Urteil deuten. Europa akzeptiert dies, ohne zu murren, und flüchtet sich noch ein wenig mehr in seine selbstauferlegte Servilität."

Jürg Altwegg schreibt über Sprachprobleme in der Schweiz, nicht nur über die Reaktion auf die medialen Coups der deutschen Rechtschreiber, sondern auch über interne Verwerfungen: Die Deutschschweizer sprechen kaum mehr Hochdeutsch - und darum lernen die romanischen Schweizer immer weniger deutsch: "'The End of Switzerland' titelte die Westschweizer Zeitung Le Temps, als Zürich in den Schulen Englisch als erste Fremdsprache zuließ. Zehn Jahre danach ist dieser Kampf entschieden: Englisch hat sich als fünfte Landessprache und Idiom der nationalen Verständigung etabliert. Es ist längst die führende Zweitsprache der Schweizer."

Weitere Artikel: Christian Geyer mokiert sich in der Leitglosse über den Plan, die Tantiemen von Erinnerungsbüchern, die von Verbrechern geschrieben werden, auf die Konten von Opfervereinen zu überweisen. Wulf Segebrecht erklärt "Des Knaben Wunderhorn" zu seinem Lieblingsbuch. Lorenz Jäger gratuliert dem Historiker Jörg Friedrich zum Sechzigsten. Ingeborg Harms gratuliert dem Autor Charles Simmons zum Achtzigsten. Marta Kijowska erzählt, wie die Polen von Czeslaw Milosz Abschied nehmen. Thomas Wagner resümiert ein Bildhauersymposion in Heidenheim.

Auf der Medienseite stellt Eva-Maria Magel die Initiative Freie Presse vor, die Demokratie und Meinungsvielfalt in Krisenregionen tragen will und zur Zeit in Afghanistan Journalisten ausbildet. Monika Osberghaus besucht die neue Website von Joanne K. Rowling. Und Michael Hanfeld unterhält sich mit dem ehemaligen Sat 1-Chef Martin Hoffmann, der jetzt unter die Produzenten geht.

Auf der letzten Seite versucht Martin Kuhna das Verhältnis der Kanadier zum Kanu zu klären. Jürg Altwegg schildert Schweizer Streitigkeiten um die Ausrichtung der staatlichen Filmförderung. Und Gina Thomas porträtiert den Londoner Musiker und Manager Clive Gillinson, der jetzt die Leitung der New Yorker Carnegie Hall übernehmen wird.

Besprochen werden Erich Korngolds Oper "Tote Stadt" in Salzburg, der Film "Catwoman" mit Halle Berry und ein Auftritt der Gruppe Divine Comedy in Hamburg.

TAZ, 17.08.2004

In tazzwei denkt Martin Reichert über die Retro-Bewegung nach, die in der Zwischenzeit bei den Neunzigern angekommen ist. Allein: die seien noch gar nicht zu Ende, sondern ein "gemeinsames in der Warteschleife sitzen und auf das Neue warten". Warten auf das Ende der Ära Kohl, warten auf das Millennium, warten, dass etwas passiert. Neunziger-Retro ist, wenn die Katze sich in den eigenen Schwanz beißt und so verharrt."

Auf den Kulturseiten setzt Kolja Mensing seinen Bericht aus dem Ghetto Grohner Düne in Nord-Bremen fort; der Komplex, über den er einen interaktiven Dokumentarfilm dreht, "gilt spätestens seit den frühen Achtzigern als sozialer Brennpunkt. Selbst wenn es in den letzten Jahren durch konsequente Videoüberwachung der Fahrstühle, der Hauseingänge und des Innenhofs deutlich ruhiger geworden ist, halten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Bild der unbefriedeten Neighborhood sorgsam aufrecht." (erste Videos)

Madeleine Prahs porträtiert die russischen Underground-Band Leningrad, deren "bläsergestützter Ska-Punk" in St. Petersburg ein Hit ist, und Cornelius Tittel berichtet vom zwangsnüchternen Öya-Open-Air-Festival in Oslo. Besprochen werden der Film "Catwoman" mit Halle Berry und Sharon Stone ("ein Kampf der Weiblichkeitsmodelle - leider nur in der Whiskasvariante") und eine Neuübersetzung von Victor Hugos Roman "Die Arbeiter des Meeres" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.)

Und hier Tom.

FR, 17.08.2004

Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin kommentiert die neuen Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV und fragt sich, wie viel "Entsolidarisierung" wir uns eigentlich noch leisten wollen. In seiner Analyse der Proteste macht er ein Motiv aus, das "für nahezu alle Politiker und den größten Teil der Medien völlig undenkbar zu sein scheint. Die Möglichkeit nämlich, dass die Demonstranten nicht nur auf die entscheidende Herausforderung für den sozialen Frieden in Deutschland reagieren, sondern auch die Beharrungskraft und Disziplin haben könnten, die friedlichen Proteste durchzuhalten und mit inhaltlichen Alternativen zu verbinden. Längst steht nicht mehr das 'Ob' sondern das 'Wie' einschneidender und für viele Betroffene mit harten Zumutungen verbundener Reformen zur Entscheidung an."

Als "Quatsch vom Feinsten" würdigt Hans-Klaus Jungheinrich eine Inszenierung von Erich Korngolds Oper "Tote Stadt" bei den Salzburger Festspielen; in Times mager räsoniert derselbe Autor über Nachfolgefragen in der Leitung derselben. Stephan Hilpold bescheinigt der Neuauflage von Eugene O'Neills Stück "Eines langen Tages Reise in die Nacht" durch Elmar Goerden am Salzburger Landestheater, dass es - ebenso wie die Musik - so schön sei, "wie das Unglück eben sein kann". "Ungewohnt experimentell" findet Thomas Medicus schließlich die Ausstellung "American Portraits" mit Arbeiten von Rainer Leist am Deutschen Historischen Museum in Berlin. Besprochen wird außerdem Jean-Christophe "Pitof" Comars Film "Catwoman".

NZZ, 17.08.2004

Ausschließlich Besprechungen heute in der NZZ: Marianne Zelger-Vogt besuchte das Rossini-Festival in Pesaro und bekam "Appetit auf mehr". Barbara Villiger Heilig begeistert sich für Elmar Goerdens Inszenierung von Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" bei den Salzburger Festspielen: Goerdens "tiefenscharfes Familienbildnis", so versichert sie, wird sich auf der "Netzhaut unserer Seele" einprägen. Hubertus Adam begutachtet das just fertiggestellte "brave und banale" Museum der Moderne auf dem Salzburger Mönchsberg.

Ansonsten widmet man sich Büchern, unter anderem Monique Truongs Roman "Das Buch vom Salz" und der Studie "Zwischen Eros und Krieg", die den Männerbund in der Moderne untersucht (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 17.08.2004

Gestern war der New Yorker für unsere Magazinrundschau zu spät im Netz, heute finden wir aber einen interessanten und gewohnt ausführlichen Text von Adam Gopnik zum Ersten Weltkrieg: "Das letzte Jahrhundert mit seinen gewaltigen Kataklysmen bietet zwei klare, aber leider widersprüchliche Lektionen. Der Erste Weltkrieg lehrt, dass territoriale Kompromisse besser sind als Kriege in großem Maßstab, dass die ehrenhafte Loyalität großer Mächte gegenüber kleinen Nationen ein Rezept für Massenmord ist und dass es verrückt ist, die blinden Mechanismen der Armeen und Allianzen über den gesunden Menschenverstand triumphieren zu lassen. Der Zweite Weltkrieg lehrt, dass der Versuch, Zugeständnisse an die Tyrannei zu machen, indem man kleinere Nationen ausliefert, nur den Tyrannen ermutigt, dass die Scheu, jetzt zu kämpfen, später nur zu einem schlimmeren Kampf führt und dass nur die standhafte Ablehnung von Kompromissen die natürliche Tendenz aufhalten kann, einen schlechten Frieden mit noch schlechteren Menschen zu schließen. Der Erste Weltkrieg lehrt uns, niemals voreilig in den Krieg zu ziehen, der Zweite, niemals gegenüber einem Tyrannen kleinbeizugeben."

Welt, 17.08.2004

Rainer Rother, Kurator der Ausstellung über den Ersten Weltkrieg im Deutschen Historischen Museum, antwortet polemisch auf einen Beitrag Jörg Friedrichs (der uns seinerzeit leider entgangen ist) über den Ersten Weltkrieg und den verpassten deutschen Sieg im Jahr 1917. Friedrich "konstruiert .. eine Lage, in der von deutscher Seite alles getan worden sei, um zum Verständigungsfrieden zu kommen - bloß die Alliierten wollten gar nicht. Sie wollten nicht, in der Tat, und sie waren damit nicht allein. Denn Ludendorffs 'Verzichtbereitschaft' ging nicht so weit, auf einen eindeutigen Sieg zu verzichten. Den strebte er an, den wollten die Alliierten verhindern."

SZ, 17.08.2004

Unter der Überschrift "Ratsch und Tratsch aus der Terrorbuchhaltung" zitiert Petra Steinberger einige aufschlussreiche E-Mails, die Alan Cullison, ein Journalist des Wall Street Journal auf zwei Computern von Al-Qaida in Kabul gefunden hat. Kostprobe: "4. Warum betragen die Pensionskosten 1573 Dollar, wenn doch nur Yunis dort ist, und kann er nicht so untergebracht werden, dass man gar keine Pension braucht?" (Also das hätte auch Hans Eichel schreiben können. Einen Link zum vollständigen Artikel von Cullison aus Atlantic Monthly finden Sie hier.)

Der französische Journalist Danny Leder beschreibt, wie sich in Frankreich die Juden von den Moslems bedroht und die Moslems von den Franzosen schikaniert fühlen: "Die antijüdischen Attacken wecken bei Juden aus Nordafrika Erinnerungen an ihre einstige Gängelung in den arabisch-moslemischen Gesellschaften, jungen Franko-Arabern dagegen scheint die Erörterung der moslemischen Judenfeindschaft wie eine weitere Demütigung durch eine Gesellschaft, die ihre Eltern vielfach ausgrenzte und ihnen noch immer Chancengleichheit verwehrt. Juden wollen nicht mehr damit abfinden, dass sie als Sündenböcke für soziale Missstände herhalten müssen, während junge Moslems, die sich stets aufs neue an gesellschaftlichen Barrieren stoßen, in aggressive Indifferenz gegenüber Gewaltopfern geraten. In Frankreich kollidieren zwei Leidensgeschichten, deren Träger Seite an Seite leben - eine gefährliche Nachbarschaft."

Weitere Artikel: Andrian Kreye erklärt, warum so viele Amerikaner gegen ihre eigenen Interesse wahrscheinlich doch George W. Bush wählen werden. Oliver Herwig informiert über das ungebremste Wachsen von Disneys Bilderbuchsiedlung "Celebration". Fritz Göttler informiert über das ungewöhnliche Theaterprojekt "Off the Wall", das entlang dem Hadrianswall zur Aufführung kommt. Und in der Zwischenzeit denkt Joachim Kaiser über die Textgattung Nachruf nach.

Besprochen werden der "Wiederbelebungsversuch" von Erich Korngolds Oper "Tote Stadt" bei den Salzburger Festspielen, eine Ausstellung des Duisburger Lehmbruck-Museums mit Arbeiten des Künstlerduos Korpys/Löffler sowie eine Ausstellung mit Bildern von Maria Marc, der Frau des Expressionisten Franz Marc, im Schlossmuseum Murnau, Pitoks Film "Catwoman" und ein Konzert der Pianisten Alexei Zouev, Denys Proshchajev und Nicolai Tokarev. Außerdem Bücher, darunter ein Band mit frühen Schriften von Siegfried Kracauer, eine Neuauflage von "Acid", Rolf Dieter Brinkmanns Anthologie neuer amerikanischer Literatur, der Briefwechsel zwischen Hans Christian Andersen und Lina von Eisendecher und ein nur auf polnisch erschienener Band mit Erwiderungen von Jan T. Gross auf die Angriffe und Polemiken gegen sein Buch "Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne" (siehe dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr).