Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2003. Die taz macht sich Sorgen: Selbst die Techno-Szene altert. In der FR wirft die amerikanische Politologin Iris M. Young Habermas einen Rückfall in nationalistische Denkmuster vor. Die NZZ besucht Shakespeares neues Geburtshaus. In der SZ fragt der Archäologe Luca Giuliani, wie gegen das Phänomen der Raubgräberei vorzugehen sei.

TAZ, 22.07.2003

Die Techno-Veteranen werden alt ("DJs mit Bierbauch und Glatze"). Aber gibt es überhaupt Nachwuchs und wo ist der? Tilman Baumgärtel erklärt, warum der Generationswechsel auch hier nicht mal eben so vonstatten geht. "Jüngere Discjockeys müssen sich in der Tat bei großen Partys nach wie vor mit den hinteren Plätzen zufrieden geben, während die Namen der Altvorderen, die einst die Infrastruktur der Techno-Szene mit aufgebaut haben, noch immer als Headliner auf den Plakaten stehen. Den Nachgeborenen bleibt nur, mit neuen Clubs und Partys eine eigene Szene zu schaffen oder sich in einer der Subkulturen innerhalb der sich immer weiter verästelnden und spezialisierenden Techno-Szene zu etablieren. So lange, wie es kein wirklich 'großes neues Ding' gibt, das Techno ablöst, wird sich auch wenig daran ändern, dass die Techno-Veteranen sich in ihrer Positition ziemlich sicher fühlen: 'Red wieder mit mir, wenn du 30 bist', scherzte John Aquaviva, selbst ein Techno-Oldie aus Kanada, kürzlich mit einem jungen Fan in Berlin."

Susanne Messmer begrüßt die Verjüngung des Hörspielsektors durch Bemühungen von "Deutschlands angenehmster Musik-TV-Moderatorin", Charlotte Roche, Dirk von Lowtzow von Tocotronic und Bela B. von den Ärzten - und bezweifelt gleichzeitig auch deren Erfolg. Auf der Medienseite kommentiert Steffen Grimberg den Vertrauensverlust der BBC in den englischen Medien.

Besprochen werden heute nur Bücher, darunter der neue Roman von Siegfried Lenz, "Fundbüro", eine Autobiografie von Antonio Negri, eine Studie zur Geschichte des Anti-Kommunismus in der BRD und ein Fotoband mit anonymen Porträts von Taliban (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier Tom.

FR, 22.07.2003

In einem Beitrag zur Europa-Debatte setzt sich die Chicagoer Politikwissenschaftlerin Iris M. Young kritisch mit Habermas' Thesen auseinander. So konzediert sie zwar, dass die europäischen "Wohlfahrtsstaaten" ihre sozialen Standards "trotz starken Drucks durch die wirtschaftliche Globalisierung" bewahrt hätten und mit der Bildung der Europäischen Union "auf dem Weg vorangekommen" seien, "die Gefahren des aggressiven Nationalismus hinter sich zu lassen". Doch, so fragt sie sich: "Ist die europäische Identität umfassend genug, die Millionen asiatischer und afrikanischer Kinder einzuschließen, deren Eltern und Großeltern in die Metropolen immigrierten? Wie viele Amerikaner haben viele Europäer auf die jüngsten globalen Konflikte reagiert, indem sie sich von all jenen distanzierten, in denen sie Fremde erkennen. Unzweifelhaft hemmt die Beschwörung einer europäischen Identität die Toleranz im Innern und die Solidarität mit denen, die weit weg sind. Hier, fürchte ich, ist Habermas drauf und dran, Europa aufs neue die Logik des Nationalstaats einzuschreiben, statt sie zu überwinden."

In einer Glosse denkt der österreichische Schriftsteller Franzobel (mehr hier) Teufel, Tour und treue Fans zusammen, von einem Waldameisenhaufen ganz zu schweigen. Am besten, Sie lesen selber. Und Hilal Szegin erzählt in einem als "kulturvergleichende Notizen" apostrophierten Text die Geschichte einer jungen türkischen Frau.

Silke Hohmann erklärt das Comeback von Heavy-Metal-Bands mit dem "Härterwerden" von Hörgewohnheiten. Helmut Ploebst resümiert das diesjährige Tanz- und Performance-Festival "Sommerszene Salzburg", auf dem amerikanisches Experimentaltheater "die Würze" gewesen sei. In der Kolumne Times mager fordert Jürgen Roth eine humane Stadt qua Beschilderung, und in seinen Kindheitserinnerungen aus der Zone erzählt Michael Tetzlaff, wie er sich beim Wurstmachen einmal eklig fürs eklige Blutrührenmüssen rächte.

Besprochen werden die Ausstellung "Lieber zu viel als zu wenig" in der Berliner NGBK, die belegen soll, "was der Punk für die Kunst getan hat" und eine Inszenierung der Händel-Oper "Rodelinda" bei den Münchner Opernfestspielen und Bücher: Amos Elons Porträt der deutsch-jüdischen Epoche "Zu einer anderen Zeit" und zwei Studien zur Bildungsmisere (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 22.07.2003

Der Münchner Archäologe Luca Giuliani plädiert für einen zumindest auf den ersten Blick recht einleuchtenden Mechanismus, um das Unwesen der Raubgräberei einzudämmen: einen "immer transparenteren Markt", der sich um die Herkunftsangaben der dort gehandelten Kunstgegenstände kümmert. "Aus archäologischer Perspektive liegt die eigentliche Brisanz in der systematischen Vernichtung der Fundkontexte. Raubgräber gehorchen ökonomischen Gesichtspunkten: sie werden all das mit Fürsorge behandeln, was transportierbar und verkaufbar ist. Alles andere wird meist absichtlich zerstört, um die Spuren zu verwischen. In den Katalogen der Auktionshäuser wird bei archäologischen Gegenständen nur selten die Provenienz angegeben, denn diese Angabe würde zu einem strafbaren Tatbestand im Ursprungsland zurückführen und zu Restitutionsansprüchen Anlass geben. Die Folge ist eine planmäßig betriebene und niemals wieder rückgängig zu machende Zerstörung archäologischer Information."

Fritz Göttler beschwört des Ende der Kino-Megaspektakel, zumindest für diesen Sommer. In der Kolumne Zwischenzeit benörgelt Claus Heinrich Meyer Schröderschen "Kokolores" und in der Serie "Heimatkunde" beklagt Volker Breidecker nach einem Besuch von Rüdesheim den Tod der Rheinromantik ("die Marionette 'Esmeralda' ist für 17,95 statt 24,95 zu haben"). Arno Orzessek besuchte ein Kolloquium anlässlich der Bestattung von Herbert Marcuses Asche auf dem Berliner Dorotheenstädtischen Friedhof. Volker Breidecker gratuliert dem Schriftsteller Theodor Weissenborn zum siebzigsten Geburtstag. "G.K" berichtet schließlich über Querelen um Raffaels "Nelkenmadonna", die (noch) in der Londoner National Gallery hängt.

Auf der Medienseite erklärt Hans Leyendecker, wie die BBC mit der Preisgabe einer Quelle im Fall des britischen Wissenschaftlers David Kelly ein journalistisches Sakrileg beging. Und Julia Bonstein berichtet über eine Studie, die - surprise! surprise! - die Verdrängung des Autorenfilms durch Alltags-Soaps belegt.

Besprochen werden eine Inszenierung von Verdis "La Traviata" mit Anna Netrebko bei den Münchner Opernfestspielen, eine Puschkin-Collage von Anatolij Wassiljew beim Tschechow-Festival, zwei Musiktheaterinszenierungen von Aischylos' "Die Perser" in Aachen und Bielefeld und zwei Ausstellungen: eine Schau über "Kunst und Krieg in den Zeiten der Medien" in der Kunsthalle Wien und eine Ausstellung zu Kunst und New Wave in Berlin um 1980 in der NGBK.

Und Bücher, darunter das bisher nur auf Amerikanisch erschienene "Lob des Nepotismus" von Adam Bellow , Sohn des Literaturnobelpreisträgers Saul Bellow, neue Romane von Dieter Bachmann (hier) und Heiner Link (hier), ein Band über die Zukunft der Kulturlandschaft Alpen, die letzte Veröffentlichung von W.G. Sebald, eine Studie über die Zukunft des Sozialstaats und eine Klage des israelischen Historikers Moshe Zuckermann über sein Land (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 22.07.2003

An einem Sommertag vor rund dreißig Jahren steht ein junger Schweizer im wenige Meilen nördlich von Stratford gelegenen Dorf Wilmcote vor Mary Arden's House. Dieses Haus, sagt er zu seiner Mutter, sei für ihn unter den fünf sogenannten Shakespeare-Orten der echteste - hier könne er "Shakespeare fühlen". Dieser Schweizer heißt Georges Waser und teilt den Lesern der NZZ heute eine bittere Erkenntnis mit: Shakespeares Mutter hat dort nie gewohnt. Erst vor kurzem stellte man mittels einer Analyse der Jahresringe des verwendeten Holzes fest, dass das sogenannte "Mary Arden's House" erst 1569 gebaut wurde, also nach Marys Wegzug nach Stratford, und sogar nach der Geburt ihres Sohnes William Shakespeare (1564-1616). Heute weiß man, dass die Mutter der Dichters in der benachbarten Glebe Farm aufwuchs, auf die der prestigeträchtige Titel übertragen wurde (mehr hier). Auch Shakespeares Geburtshaus in Stratford-upon-Avon hat dank jüngster Erkenntnisse sein Gesicht verändert. Nun weiß man, wie der Vater John Shakespeare, ein Handschuhmacher, sein Haus eingerichtet hatte: einfache Möbel und farbenfroh Tücher an den Wänden statt dunkle Tragbalken und weiß getünchte Mauern (mehr hier).

Ekkehard Kraft nennt viele gute Gründe, warum "Orchideenfächer" wie zum Beispiel die Byzantinistik unbedingt erhalten werden müssen, es geht ihm um die Pflege des gesamteuropäischen kulturellen Erbes. In Bezug auf die Weitsichtigkeit der Entscheidungstragenden hat Kraft begründete Zweifel: "Angesichts dessen, dass viele Politiker die Hochschulen am liebsten in reine Ausbildungsstätten umfunktionieren würden, durch die in möglichst kurzer Frist möglichst viele Studenten geschleust werden können, sieht es für kleine Fächer nicht gut aus."

Weitere Artikel: Besprochen werden die Ilja Repin-Ausstellung "Auf der Suche nach Russland" im Saarland-Museum und einige Bücher, darunter die algerische Odyssee "Der Hund des Odysseus" von Salim Bachi (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 22.07.2003

Joachim Müller-Jung meditiert anlässlich neuester Regelungen der Gesundheitspolitik über Zahnersatz in Geschichte und Gegenwart. Rudolf Schieffer schreibt zum Tod des Mediävisten Werner Goez. Jürgen Richter freut sich, dass die vom Bauhaus-Schüler Thilo Schoders entworfene Lessner-Villa in Weimar gerettet wird. Edo Reents gratuliert de Sänger Tony Joe White zum Sechzigsten.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite stellt Felix Philipp Ingold neuere und ältere Bücher über Sankt Petersburg vor. Und Felicitas von Lovenberg lässt die Kritiken des fünften Harry-Potter-Bandes Revue passieren. Auf der letzten Seite schildert Jordan Mejias Deborah Warners Kunstaktion "The Angel Project" in New York - sie schickt einzelne Kunstfreunde mit einer Roadmap auf eine Reise durch die Stadt, wo sie Engeln begegnen. Dietmar Dath erinnert an den Westernschriftsteller Zane Grey. Dietmar Polaczek informiert uns, dass Michelangelos David zum fünfhundertsten Geburtstag einer Nassreinigung unterzogen wird. Auf der Medienseite stellt Anne Schneppen in der Reihe über die öffentlich-rechtlichen Sender der Welt den Tokyoter Sender Nippon Hoso Kyokai vor.

Besprochen werden eine Ausstellung über Tizian und seine Bewunderer Velazquez und Rubens im Prado, eine Ausstellung über die Architektin Zaha Hadid in Wien, eine Ausstellung über Kriegsgegfangene auf historischen Fotografien in Berlin-Karlshorst und eine Ausstellung über Musikinstrumente der antiken Griechen in Berlin.