Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2002. In der Zeit wickelt sich Erica Jong aus der amerikanischen Flagge. In der FAZ polemisiert Hans Wollschläger gegen eine Putenfarm in Bargfeld. Die FR findet Schröder nicht so peinlich wie Kohl. In der taz beschreibt Brigitte Oleschinski ihre Jakarta-Sucht. Die SZ fragt: Was macht eigentlich der deutsche Liberalismus?

Zeit, 29.08.2002

Erica Jong, Autorin von "Angst vorm Fliegen", schickt eine etwas müde Selbstermahnung an die Amerikaner, sich ein Jahr nach dem 11. September aus der amerikanischen Flagge auszuwickeln. Denn das öffentliche Klima in den USA hat sich sehr zu seinem Nachteil verändert, schreibt sie: "Dieselben Meinungsmacher im Fernsehen, die lautstark darauf bestanden, der erste Verfassungszusatz gebe ihnen das Recht, Bill Clintons Sexualleben zu kritisieren, argumentieren heute, wir hätten die Redefreiheit der öffentlichen Sicherheit zu opfern." Jongs Rat: "Wir würden den Jahrestag des 11. September am besten begehen, indem wir unser Kritikvermögen zurückerobern."

Weitere Artikel: Thomas Assheuer stößt auch im Wahlkampf auf die Tücke aller Werbung: "In der hysterischen Erzeugung persönlicher Unterschiede gleichen sich die Kandidaten aufs Haar." Katja Nicodemus hat sich den Kollektivfilm "11 09 01" angesehen, wo Autorenfilmer den Opfern des 11. Septembers "gerade dadurch Respekt" bezeugen, dass "sie sie in eine Reihe mit anderen Verlusten" stellen. Christof Siemes sucht ganzseitig den "Stil der Kanzlers" und findet am Ende ein Reihenhaus in Hannoveraner Allerweltsstil. Hanno Rauterberg hat sich ebenfalls nach Hannover begeben und fand dort ein Haus des Architektenbüros Behnisch, das die Norddeutsche Landesbank beherbegt und recht kühne Auskragungen vorweist: "Dieses Bankhaus, so will es einem vorkommen, stellt sich selbst infrage, ist revidierbare Hochstapelei". Fritz J. Raddatz gratuliert dem Germanisten Peter Wapnewski zum Achtzigsten. Und Tobias Rapp ist in New York auf einen bizarren Berlin-Kult gestoßen - allerdings sehnt man sich in Clubs wie dem Berliniamsburg nach dem Berlin der achtziger Jahre, wo man sich zu günstigen Preisen selbst verwirklichen konnte (danach sehnt man sich in Berlin doch auch!)

Besprochen werden das Hamburger Tanztheater-Festival auf Kampnagel und der Film "Monster's Ball" (mehr hier).

Im Literaturteil ruft Ulrich Greiner die Literaturwelt zur Solidarität mit den von der Flut betroffenen Buchhandlungen auf und nennt auch ein Spendenkonto:

Sozialwerk des Deutschen Buchhandels
Frankfurter Sparkasse
Spendenkonto 35 15 55
BLZ 500 502 01
Stichwort: "Hochwasserhilfe"


Aufmacher ist Volker Ullrichs Besprechung von Peter Merseburgers Willy Brandt-Biografie. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

Im politischen Teil finden wir ein Dossier von Oliver Schröm über das El-Qaida-Netzwerk in Europa. In der Wirtschaft berichtet Götz Hamann über den Versuch der WAZ-Gruppe, groß bei Springer einzusteigen.

FAZ, 29.08.2002

Neben dem Haus Arno Schmidts in Bargfeld soll eine Putenfarm errichtet werden. Dagegen protestiert der Schriftsteller und Schmidt-Bewunderer Hans Wollschläger: "Ist eine Putenfarm ohnehin schon eine Einrichtung , die ganz allgemein - etwa im Hinblick auf das Tierschutzgesetz - stärkste Bedenken wecken muss, so muss man ihre Einordnung in eine als 'Kulturlandschaft' verstandene und bezeichnete Gegend völlig unmöglich finden, um so mehr noch, wenn sie dort einem Kulturinstitut direkten Schaden tut."

Jochen Schmidt schreibt eine Art Nachruf auf den Choreografen William Forsythe, den die Kulturpolitik der Stadt Frankfurt nun gerade vergrault hat: "Solange ihm, womöglich nach mehrfacher Umarbeitung, Stücke gelingen wie erst unlängst das grandiose 'One Flat Thing, Reproduced', bei dem das Frankfurter Ballett als barbarisch schöne menschliche Maschine mit ungeheurer Energie über Tische und Bänke tobt, bleibt Forsythe einer der drei oder vier wichtigsten Choreographen, die das klassische Ballett zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorantreiben." Die Frankfurter sollten sich schämen!

Weitere Artikel: Dirk Schümer stimmt auf das heute beginnende Filmfestival von Venedig ein. Matthias Grünzig freut sich, dass der "Teepott", ein avantgardistischer Hyperschalenbau in Rostock-Warnemünde erhalten bleiben kann. Wolfgang Schuller greift in eine Debatte ein, deren Existenz wir längst vergessen hatten: Soll ein künftiges Land Berlin-Brandenburg in "Preußen" umbenannt werden? Ja, meint er, und weist dem neuen Bundesland gleich die Mission zu den "Ständestaat neuen Typs" zu bekämpfen. Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod der Schauspielerin Jane Tilden. Damian Dombrowski freut sich, dass mit der "Pala di San Barnaba" die Restaurierung der Botticelli-Gemälde in den Uffizien abgeschlossen ist, und auch hier, so legt er da, widerspricht das restaurierte Gemälde den eingeschliffenen Deutungsmustern der Kunsthistorie. Andreas Kilb gratuliert dem Schauspieler Gottfried John zum Sechzigsten. Joseph Croitoru berichtet, dass die Südmauer des Tempelbergs in Jerusalem einzustürzen droht, nun werden rasche Maßnahmen gefordert, die allerdings politisch äußerst heikel wären. Siegfried Stadler hat Kulturminister Nida-Rümelin ins Wörlitzer Gartenreich begleitet, wo er die Flutschäden begutachtete.

Auf der letzten Seite berichtet Zhou Derong über einen Streit unter chinesischen intellektuellen um eine angebliche Äußerung Jürgen Habermas' bei seinem China-Besuch vor einem Jahr - Habermas soll damals die chinesische "Neue Linke" als parteinah kritisiert haben. Paul Ingendaay schreibt ein sehr liebevolles Porträt der Stadt Salamanca, Kulturstadt des Jahres 2002, nach dem man eigentlich gleich ein Ticket lösen möchte. Und Heinrich Wefing porträtiert den liberalen Richter Damon Keith, der neulich die Regierung Bush in einem aufsehenerregenden Prozess in die Schranken wies.

Auf der Medienseite kommentiert Michael Hanfeld die Bestrebungen des WAZ-Konzerns, den Kirch-Anteil von Springer zu kaufen: "Wenn die WAZ zum Zug und es damit zu einer politisch-publizistischen Konzernverflechtung im Zeitungswesen käme, wie sie das Land noch nicht gesehen hat, werden sie sich bei Springer die Tage mit Leo Kirch vielleicht sogar zurückwünschen."

Besprochen werden die konzertante Aufführung von Rossinis "La Donna del Lago" bei den Salzburger Festspielen, der Film "Birthday Girl" mit Nicole Kidman.

NZZ, 29.08.2002

Film, Musik und Literatur pur in der heutigen Ausgabe der NZZ: Das Filmfestival in Venedig hat begonnen, weshalb Christoph Egger die bisherigen 70 Jahre Mostra del cinema auf dem Lido Revue passieren lässt.

Es piepst und fiept und dröhnt und rauscht, dass es eine wahre Freude ist! Den Einzug des Sounds ins Museum verkündet Peter Kraut. Die Klangskulpturen und Klanglandschaften verbinden Pop und Kunst, die ja schon immer ein schwieriges Verhältnis hatten. "Trotz allen Unterschieden in Produktion, Vertrieb und Konsum können sie aber voneinander profitieren: Das Museum erschließt sich neue Fragestellungen und Publikumsschichten, und Musikerinnen und Musiker sehen ihre Werke durch die Kunstinstitutionen nobilitiert."

Ansonsten reines Rezensionsfeuilleton: Besprechungen widmen sich Barry Adamsons - seines Zeichens ehemaliger Bassist von Nick Cave - Album "The King of Nothing Hill" und Büchern, darunter Sigrid Nunez' Vietnam-Roman "Für Rouenna", Eric Newbys amüsantem "Spaziergang im Hindukusch" und Jamal Tuschicks Bohemeprosa "Kattenbeat". Hans Bernhard Schmid durchforstet schließlich eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit der Menschenwürde befassen, während Bora Cosic sich in einem kleinen Text an die Brennschere seiner Mutter erinnert.

FR, 29.08.2002

Ulrich Speck hat sich mal wieder Kanzler Schröder im Fernsehen angeschaut und kann eigentlich nichts Schlechtes an ihm finden. Das habe allerdings weniger mit Schröder zu tun, als mit Schröder-Vorgänger Kohl, gibt Speck zu: "Wenn Kohl im Fernsehen erschien, mit oder ohne Strickjacke, dann war mir das immer schrecklich peinlich. Jahr um Jahr habe ich mich geschämt. Sechzehn lange Jahre habe ich schlichtweg nicht kapiert, warum nicht ganz Deutschland augenblicklich in Scham versinkt, wenn Kohl auftrat, dieses Inbild einer dreisten Provinzialität.... der schwere Schritt, das einfältig-selbstgefällige Grinsen, das aufgesetzte Pathos und die Unfähigkeit, "sch" zu sagen. Sein Deutschland war nie mein Deutschland, konnte es nie werden." So wurde Schröder dann ohne allzu viel eigenes Zutun zu Ulrich Specks Erlösung: "ein Gesicht, eine Haltung, eine Sprache, ein Auftritt, kurz, ein Kanzler, mit dem man sich halbwegs sehen lassen konnte, selbst wenn er an Mitterand'sche Dimensionen nicht annähernd heranreichte."

Weitere Artikel: Sylvia Staude weiß vom vergraulten Frankfurter Ballettchef William Forsythe zu berichten, dass es für ihn ein Leben nach Frankfurt gibt. Marius Melle freut sich über die Verleihung des Goethepreises an Marcel Reich-Ranicki. Daniel Kothenschulte schreibt über die Eröffnung der Filmfestspiele in Venedig und freut sich nicht über ihren Interimschef Moritz de Hadeln und die Kolumne "Times Mager" befasst sich mit dem Phänomen der Trolle, wozu sie offensichtlich von auf Deichen wandelnden Politikern inspiriert wurde.

Besprochen werden: die Gangsterklamotte "Auf Herz und Nieren" mit Burt Reynolds, die Restaurierung des Ledigenheims von Ernst Neufert in Darmstadt und Bücher, darunter Chang-rae Lees Roman "Fremd im eigenen Leben" und Erzählungen von Juan Carlos Onetti (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 29.08.2002

Brigitte Oleschinski ist während einer Lesereise durch Indonesien süchtig nach Jakarta geworden und berichtet von einem Auftritt in einem Islamischen Internat: "Kein Wort über die aktuelle Weltpolitik.... Dann - auf dem Podium ... geht es um die Freiheiten der Poesie. In so allgemeinen Wendungen, dass wir alle nur lächeln und einander zustimmen: tolerance, yes, self-exploration, yes, making a better world, yes, yes. Ich kann die Konflikte hinter den Fragen spüren, in holprigem Englisch formuliert, ich versuche, von Eigensinn und Aufrichtigkeit zu sprechen, vom Mut, sich kritisch mit vorgegebenen Antworten auseinander zu setzen. Aber das eigentliche Statement bin ich selbst, mein Auftritt an diesem Ort, zu dem ein raumgreifender Schrei gehört, und die Gedichte, die Wörter wie Lust, Erbrechen, Vagina auf die Bühne bringen".

Weitere Artikel: Kolja Mensing kommentiert das Kritiker-Duell zwischen Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki und Christina Nord berichtet vom Filmfest Venedig, in das Moritz de Hadeln wieder mehr Glamour bringen möchte.

Besprochen werden: der Debütfilm des indischen Regisseurs Pan Nalin,"Samsara", Jez Butterworths Komödie "Birthday Girl" mit Nicole Kidman und Jean-Luc Godards Film "Le Mepris - Die Verachtung", der jetzt wieder in die Kinos kommt.

Schließlich Tom.

SZ, 29.08.2002

Für Teil zwei der Serie "Deutschland extrem" hat die SZ Martin Z. Schröder ins größte Gefängnis der Republik, die Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel geschickt: "Um halb sechs am Sommermorgen atmet sich's leicht. Berlin krabbelt unter einer bläulichen Decke hervor. Rote Ampeln sehen aus wie entzündete Pickel. Die Menschen sind allein unterwegs. Joachim Huntzicker geht mit langen Schritten aus dem Haus. Er ist groß und breitschultrig, sein schwarzes Haar ist von weißem durchsetzt... Huntzicker war 18 Jahre lang Schlosser beim Turbinenhersteller Borsig. Die unsichere Situation der Industrie bewog ihn vor 20 Jahren, auf eine Stellenanzeige zu antworten. Beamtenanwärter wurden gesucht. ...Huntzicker ist der Bereichsleiter Blechbau/ Bauschlosserei. Und jetzt geht er sich erst mal umziehen ­ graue Uniform..,..Um halb acht schlägt Huntzicker vor, dass wir uns das Eintreffen der Arbeiter ansehen. Hunderte Gefangene verlassen die Häuser mit den Zellen und streben in die Anstaltsbetriebe. Graue Gesichter mit Tränensäcken, schlotternde Blaujacken, tätowierte Muskelprotze."

Gustav Seibt fragt: "Was macht eigentlich der deutsche Liberalismus?" Bei der FDP findet er ihn jedenfalls nicht, eher in Wilhelm von Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen". Seibts Diagnose nach der Lektüre: "Der Fürsorgestaat in heutiger Gestalt ist genauso am Ende wie es die Staatsmaschinen der absolutistischen Zeit waren." Und Seibts Therapie: "Die Bürger unseres wohlhabenden, wohlorganisierten Landes werden sich mit den Grenzen der Wirksamkeit ihres Staates so oder so wieder vertraut machen müssen. Vom Sozialstaat ist der Kern zu retten, die Befreiung von existenzieller Not; aber Wohlstandssicherung kann sein Geschäft nicht länger sein, um den Preis der Erstickung von Zukunft."

Alex Rühle trauert um den Happy-Mac, der traditionell die Apple-User beim Anschalten ihres Rechners begrüßte. Im neuen Betriebssystem "Mac OS X Jaguar" sei er gegen ein Apple-Logo in verschiedenen Grautönen ausgetauscht worden und Rühle fragt: "Wie schlecht muss es bestellt sein um Steve Jobs? Firma, dass jetzt schon langjährige virtuelle Mitarbeiter entlassen werden? ... Doch, es müssen dunkle Zeiten sein, in denen ein Lächeln durch angegrautes und halb gegessenes Fallobst ersetzt wird."

Weitere Artikel: Der deutsche Filmregisseur Dominik Graf (mehr hier) schreibt eine Hymne auf den amerikanischen Filmmregisseur Mike Figgis, der gleichzeitig Jazz-Trompeter und Film-Komponist ist. Henning Clüver berichtet über wachsenden Widerstand gegen die Berlusconi-Regierung in Italien, der trotzdem nicht nützt. Fritz Göttler informiert über das heute beginnende Filmfest von Venedig, die "Mostra Internazionale d?Arte Cinematografica" und ihren Interimschef Moritz de Hadeln, der keine Angst vor Berlusconi hat. Frank Arnold hat mit dem Schauspieler Hugh Laurie gesprochen, der neben der computeranimierten Cartoon-Maus Stuart Little die zweite Hauprolle im neuen Stuart-Little-Film spielt, und Sonja Zekri empfiehlt das belgische Flüchtlingsheim "De Passage" als neues Ferienziel: eine "soziale Kulisse für exklusive Gewissensanimation." Und Thomas Meyer liest unveröffentlichte Briefe von Ernst Cassirer und Friedrich Gundolf.

Besprochen werden: eine konzertante Aufführung der Rossini-Oper "La Donna del Lago" im Rahmen der Salzburger Festspiele, die Ausstellung "Goethes Bildergalerie" im Schloßmuseum Weimar, Jez Butterworths Film "Birthday Girl" mit Nicole Kidman ("ein wenig verhärmt") und Bücher, darunter ein Materialband zu Christoph Schlingensiefs "Hamlet" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)..