Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2002. Die NZZ freut sich: Neues Leben pulst in der schönen senegalesischen Stadt Saint-Louis. Die FR blickt auf die junge russische Literaturszene. Die FAZ präsentiert einen unveröffentlichten Text von Friedo Lampe. In der SZ schreibt Jack Womack über den 25 Jahre toten Elvis.

SZ, 16.08.2002

Im zweiten Beitrag der Reihe zum Leben in der Altengesellschaft kommt uns Lothar Müller erst mit Fakten: "Deutschland ist eines der Avantgarde-Länder im weltweiten Doppeltrend zunehmender Lebenserwartung und sinkender Geburtenrate. Andernorts mag er das Bevölkerungswachstum dämpfen, bei uns sänke ohne Zuwanderungen die Bevölkerungszahl zwischen 1998 und 2050 von 82,1 auf 50,7 Millionen, bis 2100 auf 24,3 Millionen, und die unter 40-Jährigen wären darin nur noch eine Minderheit." Dann erinnert er an reaktionäre Kulturkritik von ehemals, nämlich Oswald Spenglers Polemik gegen das 'Ibsenweib': "Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe, und es kommt darauf an, ,sich gegenseitig zu verstehen?." Und eine Lösung, tja, die hat Müller auch nicht zu bieten.

Der amerikanische Schriftsteller Jack Womack (hier eine Fan-Website) klärt uns aus gegebenem Todestags-Anlass darüber auf, dass Elvis, nein, nicht gelegentlich noch bei McDonalds in Kalamazoo vorbeischaut, dass er, außerdem, ziemlich sicher auch kein Außerirdischer war. Ein recht außergewöhnlicher Irdischer dagegen schon und auch seine Zukunft scheint halbwegs gesichert: "Seine Plattenfirma RCA, ohne die in Sachen Elvis überhaupt nichts geht und die heute zu Bertelsmann gehört, ist gerüstet. Ein Vizepräsident des Labels informierte heuer im Frühjahr die geneigte Öffentlichkeit darüber, dass es darum gehe, eine Ware auf den Stand der Zeit zu bringen, herauszufinden, wie man ihn hip machen könne, kess und frech, also zu 'einem Markennamen, der auch jungen Menschen etwas sagt'. Ein Blick in die Hitparade zeigt: Operation gelungen, auch wenn Elvis nicht gerade Britney Spears ist."

Jede Menge Theater heute: Alexander Menden hat eine Theater-Version von Apuleius' spätantikem Roman "Der goldene Esel" besucht, am Londoner Globe Theater - derb ging es zu. In der Theaterbazar-Kolumne verrät uns C. Bernd Sucher nicht, wie er die neueste Schnitzler-Inszenierung von Andrea Breth fand. Werner Burkhardt begrüßt den Schauspieler Dominique Horwitz als neuen Intendanten der Hamburger Kammerspiele. Dieter Wedel, der für die neuen Nibelungen einen Ausflug ans Theater unternommen hat, redet im Interview über das für Freilufttheater ungeeignete Wetter in Worms (Website der Nibelungenfestspiele).

Außerdem: Wetterunbilden und ihre höchst bedenklichen Folgen auch in Dresden: Sammlungsdirektor Martin Roth berichtet in einem weiteren Interview, wie er die Kunstschätze der Stadt vor dem Wasser in Sicherheit gebracht hat. Willibald Sauerländer stellt eine Installation des Künstlers Klaus Pinter im Pariser Pantheon vor. Reinhard Schulz hat in Salzburg Bruckners Neunte gehört. Gemeldet wird, dass man in Bayern - und nur da - Thomas Ruffs digital verfremdete "Nudes" (hier sind ein paar) für Pornografie hält und deswegen eilig die Bilder im neuesten Heft von GQ schwärzt. Rainer Gansera hat den Dokumentarfilm "Soldatenglück und Gottes Segen" gesehen, der das Leben im Soldatencamp in Kosovo beobachtet. 75 Jahre alt wird die Kestner-Gesellschaft in Hannover, Gottfried Knapp gratuliert. Erste Eindrücke gibt es von der popkomm.

Besprochen werden unter anderem ein Buch mit Filmplakaten, Markus Wolfs Porträts von Freunden und der neue Roman von Jean Rouaud. (Siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 16.08.2002

Kosmopolitische NZZ! Thomas Veser schickt einen schönen Bericht aus der senegalesischen Stadt Saint-Louis (mehr hier) die eng mit der französischen Kolonialgeschichte verbunden ist. Nach dem sie von der Unseco zum Weltkulturerbe erklärt wurde, kehren neue Lebensgeister in die "träge Schönheit" ein: "Presslufthämmer und Betonmischmaschinen auf den ziegelsteingesäumten Trottoirs liefern neuerdings eine nervenaufreibende Geräuschkulisse, die in den Ohren vieler Bewohner allerdings wie Zukunftsmusik klingt. Überall werden vermehrt Häuser renoviert, 'den Menschen ist endlich bewusst geworden, dass auch sie an der Rettung ihrer Stadt mitwirken können', meint Amadou Cisse, Leiter des städtischen Amtes für Tourismus, zuversichtlich."

Weitere Artikel: Andrea Köhler liefert Impressionen aus der amerikanischen Konsumgesellschaft, wo nichts nur sein darf, was es ist - selbst Mineralwasser nicht, das mit künstlichen Zusätzen noch gesünder gemacht wird. Paul Jandl beschreibt das "Projekt Wien Mitte", in dem die Stadt nahe der Weltkultur-Innenstadt einige umstrittene Hochhausakzente setzen wird. Sieglinde Geisel kommentiert die Dresdner Sintflut, die all das bedroht, weshalb man nach Dresden fährt.

Besprechungen gelten Joachim Schlömers Tanzstück "The day I go to the body" in Salzburg und dem Lucerne Festival .

Auf der Filmseite erzählt Andreas Maurer eine kleine Geschichte des Atomkriegsthemas im Hollywood-Kino. Alexandra Stäehli trägt noch einige Eindrücke von Nebenschauplätzen des Filmfestivals von Locarno bei. Georges Waser fragt, wie es nach dem Ende des Filmstudios FilmFour mit dem britischen Kino weitergeht. Besprochen wird der Film "Hable con ella" von Pedro Almodovar.

Auf der Medien- und Informatikseite fragt Ulrich Saxer, ob der Gesellschaft ein "Digital Divide" droht und macht auch auf eine Dialektik der Angelegenheit aufmerksam: "Was die vielen Deutungen und Szenarien kaum thematisieren, ist der Umstand, dass auch Intellektuelle, ja deren Verfasser selber in durchaus unerwarteter Form mit dem 'digital divide' konfrontiert werden können, vielleicht gar auf der falschen Seite. Unversehens wird der Arzt von seinem Online-gewieften Patienten medizinischer Rückständigkeit überführt."

Außerdem beschreibt Tilman P. Gangloff den Einfluss der Digitalisierung im Dokumentargenre (ganze Herden von virtuellen Dinosauriern erstehen etwa in erdgeschichtlichen Dokumentationen).

FR, 16.08.2002

Juri Mamlejew lässt uns einen Blick auf die junge russische Literaturszene werfen. Auf konkrete Not scheint dort abstraktes Leiden gefolgt zu sein: "Nicht mehr die Unzufriedenheit mit dem politischen System ist das Thema, sondern Unzufriedenheit mit der Realität als solcher. Eigentlich finden fast alle, man könne in dieser Welt zwar im großen und ganzen leben, doch biete sie allzu viel Negatives: Das recht kurze Leben, der Tod, die Leiden, der groteske Charakter der Existenz - irgendetwas stimme da nicht." Der Surrealismus blüht, erfahren wir. Natalja Makejewas Erzählung "Postmortale Abenteuer", zum Beispiel, "beschreibt in symbolischer Form die Beerdigung eines kommunistischen Führers und seinen Abgang ins Nichts, über den Fluss des Vergessens. Der Leichnam, von Applaus begleitet, lebt sein verborgenes Leben weiter, und sein gesamter Weg durch den Fluss des Vergessens ist von symbolischen Darstellungen des Verlöschens des Ruhms, der komischen Hoffnungen und des grotesken Selbstmitleids begleitet, bis auch dieses Leben auf dem Grunde des Seins verschwindet."

Ole Frahm hat von einer Zürcher Ausstellung (Website) über die Beziehung zwischen dem indischen Bollywood-Kino und der Schweiz interessante Erkenntnisse mitgebracht: "Denn was als obskurer, vielleicht sinnloser Regie-Einfall erscheint, hat oftmals eine für die indischen Augen weitergehende Bedeutung. So kann eine um die Liebenden kreisende Kamera beispielsweise auf den Reigen der Gespielinnen Krishnas anspielen, zu denen auch Radha gehörte." Oder: "Jeder gute Film weckt, entsprechend der Rasa-Theorie, neun Emotionen: Eros, Komik, Kummer, Heldentum, Ekel, Zorn, Staunen, Furcht und inneren Frieden. In den drei Stunden, die der durchschnittliche Film dauert, ist genug Zeit, all diese Empfindungen zu durchleben."

Außerdem: Rita Kuczynski macht sich Gedanken über die PDS, über die SPD und ihr Verhältnis zur PDS und darüber, warum die Dinge in den anderen postkommunistischen Ländern anders stehen - aufregend Neues erfährt man nicht. Jürgen Roth berichtet in times mager vom Drumrum um ein Konzert von Manfred Mann's Earthband in der Erfurter Provinz. Fritz von Klinggräf war gleich um die Ecke in Weimar, der Freimaurer wegen, zu denen das Schiller-Museum eine Ausstellung eingerichtet hat. Alexander Reuter kann Almut Gettos Debütfilm "Fickende Fische" nur empfehlen. Ganz anders geartet ist der Spinnen-Horror in "Arrac Attack" - Jan Distelmeyer hatte jedoch nicht minder seinen Spaß. Und ob Wörlitz untergeht, bleibt abzuwarten.

TAZ, 16.08.2002

Die Popkomm öffnet Daniel Bax die Augen: "Jedem seine Popkomm: Wenn man frühmorgens auf dem Weg zur U-Bahn über campierende Teenies stolpert, die sich für Bravo-Idole wie Ben oder die Band ohne Namen auf die Lauer gelegt haben, während noch die Bühnen für das Ringfest zusammengebaut werden, wird einem die relative Marginalität des eigenen Musikgeschmacks bewusst." Die riesengroße KölnArena gefällt ihm gar nicht, offenbar jedoch findet sie allgemeinen Anklang: "In einem benachbarten Döner-Laden hängt ein Ölbild, auf dem eine riesige KölnArena die Nacht erleuchtet, im Hintergrund ist links der Kölner Dom, rechts die Blaue Moschee in Istanbul zu erkennen." Und ins Gebäude 9 kommt er zu spät: "Als man ankommt, ist der Auftritt von Mia gerade vorbei, und alle erzählen, wie gut er gewesen sei. Den Höhepunkt gerade verpasst zu haben gehört natürlich zu den obligatorischen Popkomm-Eindrücken."

Tobias Hering erklärt, warum die angekündigte Schließung des nordrhein-westfälischen Filmbüros als Bankrotterklärung der künstlerischen Filmförderung zu begreifen ist: "Wer in Deutschland einen 'ambitionierten' Film realisieren will, landet oft beim Filmbüro Nordrhein-Westfalen. Dessen exzellenter Ruf verdankt sich der Tatsache, dass sich das Anliegen 'kultureller Filmförderung' tatsächlich in der Praxis niederschlägt: Die ökonomischen Hürden für den Antragsteller sind niedrig und der künstlerische Wert eines Projekts wiegt im Zweifelsfall schwerer als der zu erwartende Standorteffekt." Nochmal Musik: Gerrit Bartels stellt, zwischen den Rillen, neue CDs von Ugly Casanova und Weird War vor. Und Jenni Zylka liefert das obligatorische Todestags-Ständchen für Elvis.

Fehlt noch Tom.

FAZ, 16.08.2002

Tilman Spreckelsen präsentiert einen kleinen Text des 1945 von der Roten Armee erschossenen Schriftstellers Friedo Lampe (mehr hier), "Neros Tod" - ein feister Nero besingt hier das Ende Ilions: "Keiner entrinnt dem Gesetz des ehernen Schicksals. Aber sie, die Seherin, sie, die doch weiß wie sinnlos die Flucht ist, seht sie dort angstgepeitscht entspringen des Priamos Haus und mit fliegendem Haar durchrennen die blutrote Straße. Kassandra, wo willst du denn hin, immer doch läufst du entgegen Dem Schicksal, und doch rast du und rast, und weißt doch dass alles umsonst ist."

Rolf-Gunther Dienst bespricht eine Retrospektive des Blaumalers Hans-Peter Reuter in der Kunsthalle Tübingen: "Das Blau entschwebt in galaktische Sphären und verschließt sich zu hermetischen Barrieren, wird erfahrbar in sich öffnenden Räumen und Architekturen mit unnahbaren Tiefen und verstellt die Flächen der Gemälde in gerasterten Wänden."

Weitere Artikel: Guillaume Paoli von den "Glücklichen Arbeitslosen" (mehr hierkritisiert die Vorschläge der Hartz-Kommission und macht einen handfesten Gegenvorschlag: "Seit langem plädieren wir für die Abschaffung der Arbeitsämter und die unbürokratische Geldüberweisung." Andreas Platthaus erzählt, wie er in achtstündiger Fahrt von Berlin nach Dresden gelangte, um in seinem Keller nach dem Rechten zu sehen ("und vor der Kreuzkirche hat die Wasserwacht Boote geparkt"). In der Reihe der Schriftstellerantworten auf Hugo von Hofmannstahls Chandos-Brief ist heute Louis Begley dran. Martin Lhotzky fand in einer Ausstellung in Gernrode unter dem Titel "SchleierHaft" (aus dem zumindest die FAZ-Online allerdings "SchleyerHaft" macht) Antwort auf die Frage, was Stiftsdamen im Mittelalter aßen und was eine Äbtissin verdiente. Joseph Croitoru liest israelische und palästinensische Zeitungen und Zeitschriften, in denen über den Fortgang des Konflikts diskutiert wird - sehr umstritten ist auch in Israel, dass die Arme die Häuser von Familienangehörigen der Selbstmordattentäter planiert. Dokumentiert wird Wolfgang Frühwalds Laudatio auf Marcel Reich-Ranicki, die er bei der nun schon einige Wochen zurückliegenden Verleihung der Ehrendoktorwürde der Münchner Universität hielt.

Auf der letzten Seite porträtiert Zhou Derong den unauffälligen, aber äußerst effizienten chinesischen Politiker Zeng Qinghong, der in den letzten Jahren die KP reformierte ("Sein Vorbild ist die SPD; er sieht sein Generalbüro als rotchinesisches Pendant des Berliner Willy-Brandt-Hauses und sich selbst als fernöstlichen Müntefering.") Und Frank Pergande meldet die Rückkehr von Heiligenbildern der Zisterzensier aus dem 12. und 13. Jahrhundert ins ehemalige Kloster Neuzelle im Südosten Brandenburgs. Auf der Medienseite porträtiert Joachim Müller-Jung den "schillernden Wetterfrosch" Jörg Kachelmann. Leider nicht als Geschichte ausgeführt, die Meldung, dass der Conde Nast Fotos von Thomas Ruff schwärzte, der für eine Bildstrecke der Zeitschrift GQ Pornofotos digital bearbeitete. Und Verena Lueken vergleicht in einem kleinen Essay die amerikanischen und die deutschen Fernsehnachrichten, wobei die letzteren in ihrer Behäbigkeit gar nicht so schlecht abschneiden.

Besprochen werden ferner Jacques Doillons Film "Ich habe dich nicht um eine Liebesgeschichte gebeten" und Opern von Rossini und Peter von Winter beim Belcanto-Festival "Rossini in Wildbad".