Heute in den Feuilletons

Die vervielfältigte Stimme des Heiligen Geistes

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.05.2013. Heute vor 200 Jahren kam in Leipzig ein klitzekleiner Richard Wagner zur Welt. Die Zeitungen  bringt er bis heute in große Form. Im Tagesspiegel zählt Norbert Miller all jene Autoren auf, denen wir es verdanken, dass wir ihn noch ertragen. Eleonore Büning stockt der Atem bei einem unbekannten Frühwerk Wagners, das wir in ganzer Länge als Video einbinden. Die Berliner Zeitung empfiehlt die französische Wagner-Rezeption gegen die festgefahrene deutsche Debatte. Außerdem: Ai Weiwei hat ein Heavy Metal-Video gemacht, in dem er seine Inhaftierung nachspielt. Der Guardian berichtet, wir binden es ein.

Tagesspiegel, 22.05.2013

Der große Norbert Miller zählt im Tagesspiegel die Autoren auf, denen es zu verdanken ist, dass wir Wagner heute noch ertragen: "Theodor W. Adorno und Hans Mayer, Peter Wapnewski und Carl Dahlhaus, John Deathridge und Egon Voss schufen die Grundlagen für einen kritischen Umgang mit dem dramatischen Schaffen, der Bühnenverwirklichung, dem Verhältnis von Ideologie und Kunstautonomie. Erst so lässt sich Wagners Kosmos ganz in seinen Tiefendimensionen ausloten."

Weitere Medien, 22.05.2013

Mit Unbehagen betrachtet Peter Uehling in der Berliner Zeitung die aktuelle deutsche Wagner-Rezeption: Man sollte Wagner weder einfach nur als politischen Verführer und Antisemiten hinstellen wie Burkhard C. Kosminski in seiner umstrittenen "Tannhäuser"-Inszenierung, noch diesen Hintergrund ganz ignorieren wie Christian Thielemann, der erklärt hat, einen C-Dur-Akkord könne man nicht antisemitisch spielen. Vielleicht sollte man sich ein Beispiel an den Franzosen nehmen, meint Uehling: "Die 'Tristan'-Harmonik, Wagners folgenreichster Beitrag zur Musikgeschichte, wurde von Komponisten wie Ernest Chausson bis Claude Debussy bereits weiterentwickelt, als man in Deutschland lediglich die monumentale Geste und die mythischen Inhalte kopierte. Der französische 'Wagnérisme' ist, bis hin zu den Aufsätzen und Interpretationen von Pierre Boulez, ein Beispiel für den kreativen Umgang mit einer einzigartigen, grandiosen Kunstleistung."

Hier dirigiert Pierre Boulez 1981 in Bayreuth die Todesverkündung aus der "Walküre":



Die Diskussion über "pädosexuelle" Tendenzen bei den Grünen in ihrer Frühphase geht weiter. Alexander Kissler zitiert auf cicero.de aus einem Papier der grünen Bundestagsfraktion von 1985: "Die 'sexuelle Selbstbestimmung' von Knaben, 'die sich ihrer homosexuellen Orientierung bereits gewiss sind', dürfe nicht durch Strafandrohung eingeschränkt werden. Auch minderjährige Mädchen hätten ein Recht auf 'sexuelle Interaktionen'. Wer es anders sehe, sei in 'älteren Vorstellungen von 'Marktwert' und 'Heiratschancen' des Mädchens' gefangen. Selbst Antje Vollmer, die Theologin und spätere Vorsitzende des Runden Tischs für misshandelte Heimkinder, unterzeichnete den Antrag."

NZZ, 22.05.2013

Einsamer Höhepunkt der Wiener Festwochen war für Peter Hagmann Christoph Marthalers Projekt "Letzte Tage. Ein Vorabend". Erstaunlich fand er vor allem "die Nähe zwischen dem Antisemitismus von damals und dem Fremdenhass von heute": "Ausgangspunkt der von Stephanie Carp erstellten Textcollage bildet das bedenkliche ideologische Gemisch, das sich in der Gründerzeit zusammenbraute. Zu den Ausschnitten aus Reden, Parlamentsdebatten und Zeitungsartikeln (sowie einigen wenigen Vokalstücken) trat Instrumentalmusik österreichischer Komponisten, die vertrieben oder deportiert wurden - allesamt durch den Kontrabassisten Uli Fussenegger eingerichtet für eine Art Lager-Ensemble mit zwei Geigen und Klarinette, mit Kontrabass, Akkordeon und Harmonium oder Klavier."

Weiteres: Susanne Ostwald zieht positive Zwischenbilanz der Filmfestspiele in Cannes. Besprochen werden zwei Ausstellungen zeitgenössischer chinesischer Kunst in Peking, eine Ausstellung der Refaya, einer Handschriftensammlung aus Damaskus, in der Leipziger Universitätsbibliothek und Bücher, darunter Gerd Althoffs Buch über gewaltbereite Päpste: "Selig sind, die Verfolgung ausüben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 22.05.2013

"So Jazz" fühlte sich Ronny Kraak vom Kraftfuttermischwerk gestern und begab sich deshalb auf Perlensuche in die Tiefen des Internet. Seine Beute präsentiert er in seinem Blog: Tolle, von DJ Boycutter für Mixcloud zusammengestellte Sets unter anderem mit Miles Davis, Curtis Mayfield und Marvin Gaye. Genau die richtige Musik für einen hoffentlich entspannten Vormittag.

Und pünktlich zum Wagnerjubiläum kredenzt uns das Blog des Goethe-Instituts einen skurrilen "Surf der Walküre":

Welt, 22.05.2013

In der Welt am Sonntag wirbt Thomas Schmid in einem sehr persönlichen Text um Verständnis für Daniel Cohn-Bendits Aufschneidereien aus den wilden Siebzigern: "Die Alten hatten viele Tabus errichtet. In der berechtigten Kritik daran glaubten wir, Tabus seien grundsätzlich dazu da, gebrochen zu werden. Wir glaubten das, verhielten uns aber - Ängstlichkeit, vielleicht auch Realismus lag uns in der DNA - nicht danach. Es dauerte, bis wir Tabus als zivilisatorische Errungenschaften würdigen konnten."

Die Welt von heute war online leider nicht aufzutreiben.
Stichwörter: Cohn-Bendit, Daniel

Aus den Blogs, 22.05.2013

Ai Weiwei spielt in einem Heavy-Metal-Video seine Inhaftierung nach:



Der Guardian berichtet über das Video: "He told the Guardian his country was one of 'crazy menace and inhuman conditions' and the video shows an 'inch-accurate' recreation of the cell where he was held - down to its wallpaper. He had nothing to do while he was there but memorise every detail, he said."

FAZ, 22.05.2013

Großer Wagner-Tag auch in der FAZ. Eleonore Büning war beim Gedenktag in Dresden. Christian Thielemann dirigierte federleicht ein unbekanntes Frühwerk Wagners für gigantischen Männerchor, das "Liebesmahl der Apostel": "Als die Jünger Jesu, diese verzweifelte, bedrohte, verschworene Gemeinschaft, eben verzagen wollten; als sich mit einem Male in langen weichen Legato-Bögen die vervielfältigte Stimme des Heiligen Geistes aus der Höhe der Kuppel herabsenkte, um ihnen Mut und Hilfe zuzusichern, als dann auch noch die Dresdner Staatskapelle, die bis dahin die über weite Strecken unisono geführten Männerstimmen alleine hatte kämpfen lassen, dazutrat und zuerst mit einem feinen Trommelwirbel, dann mit der vollen romantischen Orchestermachtfülle und tausend Flammen einsetzte: Da stockte allen der Atem!" (Büning ist blattübergreifend zuständig. Hier ihr großer Wagner-Artikel aus der FAZ am Sonntag.)

Und hier das "Liebesmahl", zwar nicht unter Christian Thielemann, aber immerhin mit dem Ambrosian Male Voice Chorus und der Symphonica of London unter Wyn Morris.



Auch sonst gibt's noch 'ne Menge Wagner: Hans-Jürgen Syberberg erklärt im Interview mit Irene Bazinger, wie er Wagner inszenieren würde, wenn er ihn inszenieren würde. Die beiden großen Alten der Musikwissenschaft, Martin Geck und Constatin Floros (denn Carl Dahlhaus ist ja leider tot), schreiben über "Wagners Wunschmaschine" und Wagner als Vegetarier. Gezeigt werden Bilder der Ausstellung "Wagneriana in Eisenach". Dietmar Dath denkt über "Wagners Kino" nach und der Dirigent Thomas Hengelbrock spricht mit Christian Wildhagen über historische Aufführungspraxis bei Wagner. Der Rest des Feuilletons ist auf eine Seite verbannt: Unter anderem schreibt Edo Reents zum Tod Ray Manzareks.

Auf der Medienseite empört sich Matthias Rüb über Obamas heimliche Kriege (um wie viel mehr hätten sie Aufsehen erregt, wenn sie Bushs heimliche Kriege gewesen wären), den Krieg mit Drohnen, vor allem aber die Bespitzelung von Journalisten durch das Justizministerium: "Es sind Angriffe auf die Pressefreiheit und Rachefeldzüge gegen Reporter, die sich nicht an die von Obamas Leuten im Weißen Haus gewünschte Agenda und 'Storyline' halten." Außerdem empfiehlt Regina Mönch eine Ausstellung über Zeitungen in der Nazizeit in der Berliner Topografie des Terrors.

SZ, 22.05.2013

Vor allem Musikfremdes sei in letzter Zeit über Richard Wagner zu lesen gewesen, bemängelt Reinhard J. Brembeck, der dann ausführlich Wagners Musik und dramaturgisches Kompositionskonzept würdigt. Leicht skeptisch ist er allerdings gegenüber der Auffassung, Wagner bündle alle Künste, bilde doch gerade die Tanzkunst einen blinden Fleck in Wagners Schaffen: "Jener Mann, der in Beethovens Siebter Sinfonie die Apotheose des Tanzes feierte, aber sich nur unter Schmerzen zu einer recht eigenwilligen Balletteinlage für die Pariser Aufführung des 'Tannhäuser' hergab, hat dem Tanz keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dem Tanz wie auch dem Rhythmus, der bei allen Romantikern, selbst noch bei Mahler und Berg, keine große Rolle spielt. Vielleicht, weil beides keine Innenschau der Seele zulässt, sondern auf Veräußerlichung drängt - was dem 19. Jahrhundert so gar nicht ins ästhetische Kalkül gepasst hat."

Musikfremdes auch bei arte: Dort in der Mediathek finden wir eine Dokumentation über "Wagner und die Juden". Dagegen deutlich der Musik verbunden: Stephen Frys tolle Erkundung des Tristan-Akkords.

Außerdem dokumentiert die SZ eine Laudatio auf Wagner von Bundestagspräsident Norbert Lammert, die beim Bayreuther Festakt zu Wagners 200. Geburtstag mangels Zeit dann doch nicht gehalten werden konnte. Lammert unterstreicht unter anderem Wagners "kaum zu überschätzende Bedeutung für die Musikgeschichte, die sich mit der Auflösung der seit Jahrhunderten vertrauten Tonalität ohne ihn kaum so entwickelt hätte." Passend dazu: Ein zweiteiliger Essay aus dem Podcast des Deutschlandfunk über Wagner und Verdi, die beide im selben Jahr geboren wurden: Die MP3-Dateien finden sich hier und hier.

Weitere Artikel: Der Autor Ralph Hammerthaler schickt Notizen aus Pristina, wo er den Mai als "Writer in Residence" verbringt. Volker Breidecker besucht in Estland die Frühjahrstagung der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. Susan Vahabzadeh sieht in Cannes neue Filme von Steven Soderbergh, Paolo Sorrentino und Valeria Bruni Tedeschi (Pressespiegel hier, hier und hier). Jens-Christian Rabe trauert um den Doors-Organisten Ray Manzarek.

Besprochen werden neue Pop-CDs, Benjamin Geisslers Installation "Die Bilderkammer des Bruno Schulz" beim Martin-Gropius-Bau in Berlin und Jean-Pierre Baudets Buch "Opfern ohne Ende" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Weitere Medien, 22.05.2013

Dagegen Schröder: