Heute in den Feuilletons

Heizwärme aus dem Parlamentsgebäude

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.04.2012. In der FAZ fordert Necla Kelek die deutschen Islamfunktionäre auf, eine klare Position zu den Salafisten einzunehmen. In der FR erklärt die Kunstkritikerin Jennifer Allen von der Zeitschrift frieze, warum brasilianische Künstler in Berlin besser Deutsch sprechen als italienische oder britische. Das nepalesische Magazin Himal würdigt die Rolle von Sufi-Dichterinnen. Die NZZ schildert die Schwierigkeiten bosnischer Kultureinrichtungen. Außerdem 50 rätselhafte Schwarzweißfotos. Und Nicolas Cage spielt John Cage.

NZZ, 18.04.2012

Bosniens Kultureinrichtungen verfallen, berichten Martin Sander und Ksenija Cvetkovic, die dafür nicht nur einen Mangel an Geld verantwortlich machen, sondern auch fehlende Großmut. Für das Landesmuseum Bosnien-Herzegowina etwa fühlt sich die bosnische Politik nicht mehr zuständig: "Die Schäden aus dem letzten Krieg wurden nicht behoben, für eine Sanierung des Gebäudes fehlt das Geld. Zwar darf man Heizwärme aus dem Parlamentsgebäude nebenan abzweigen, aber Mahnungen für unbezahlten Strom und andere Kosten häufen sich, und seit neun Monaten werden keine Gehälter mehr gezahlt."

Weiteres: Zumindest Klaus Florian Vogt als Lohengrin konnte Georg Friedrich Kühn für die Inzsenierung an der Deutschen Oper in Berlin begeistern: "Mit seinem lichten, klaren, makellos-präsenten Tenor überstrahlt er diese Neuproduktion der Deutschen Oper Berlin grandios."

Besprochen werden eine Ausstellung zu neuer Architektur in Südtirol im Kunsthaus Meran, die Konzerte der Musica Viva in München, Jörg Baberowskis Stalin-Studie "Verbrannte Erde", Walter Boehlichs Schriften "Die Antwort ist das Unglück der Frage" und Terry Eagletons Essay "Warum Marx recht hat" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR/Berliner, 18.04.2012

Sebastian Preuss spricht mit der kanadischen Chefredakteurin Jennifer Allen von der Zeitschrift frieze d/e über die internationale Berliner Künstlerszene und ihre Angwohnheit, sich fast nur noch auf Englisch zu verständigen - mit interessanten Nuancen: "Heute haben wir ja eine Spaltung unter den ausländischen Künstlern in Berlin. Die aus der EU können sich ganz einfach hier niederlassen. Die Künstler aus Nicht-EU-Ländern dagegen müssen den Integrationskurs und Deutschunterricht absolvieren. So sprechen Künstler aus Brasilien oder China oft viel besser Deutsch als Italiener oder Briten." Auch auf der Website von frieze gibt es übrigens einen Essay über Englisch als Lingua Franca in der Kunst.

Weiteres: Wolfgang Kraushaar erinnert überdies in einem längeren Essay daran, dass sich der einstige FR-Herausgeber Karl Gerold für hungerstreikende Oppositionelle des Schahregimes im Iran einsetzte. Auf der Medienseite betont Sebastian Moll, das erstmal auch die Huffington Post einen Pulitzer-Preis gewonnen hat - für eine Reportageserie von David Wood, der Kriegsheimkehrer aus Irak und Aufgahnistan bei ihrer Rückkehr in den Alltag begleitete. Bereits gestern entwickelte Götz Aly einen originellen Blick auf den Nahostkonfikt - der von beiden Seiten recht vernünftig gehandhabt werde. Nur online porträtiert heute Rudolf Novotny den Amazon-Literaturkritiker Thorsten Wiedau.

Weitere Medien, 18.04.2012

(via 3 quarks daily) Im nepalesischen Magazin Himal erzählt Ahmad Salim in einem ausführlichen Artikel, dass es in West- und Südasien bereits im Mittelalter Pionierinnen der Frauenbewegung gab: "Weibliche Sufi-Dichter waren Teil einer weit verbreiteten Emanzipationsbewegung auf dem indischen Subkontinent und in Westasien, die vor mehr als tausend Jahren begann und bis ins 19. Jahrhundert dauerte. Interessanterweise kämpften diese Dichterinnen für Frauenrechte in einer Zeit als dieses Konzept noch gar nicht formuliert war. Diese Bewegung sah ein Aufkommen von weiblichen Heiligen in nie dagewesener Anzahl, sie war das bedeutendste Charakteristikum des Mittelalters in West- und Südasien. Mystische Dichterinnen untergruben konventionelle Vorstellungen von Benehmen, sie halfen Frauen, Stereotypen zu unterlaufen und brachen die Ketten der Tradition und Orthodoxie, mit der ihre Sexualität kontrolliert werden sollte. In der spirituellen Sphäre des Sufismus wurde der physische Unterschied zwischen Männern und Frauen oft vollkommen ignoriert ..."

Welt, 18.04.2012

Auf der Meinungsseite warnt der Auschwitzüberlebende Samuel Pisar davor zu glauben, die Zeit der Massenmorde sei vorbei und plädiert für eine Gedenk- und Erziehungspolitik, die die Menschen daran erinnert, dass "unsere Leiden nicht nur für uns grausame Wirklichkeit waren, sondern auch für sie eine existenzielle Warnung vor möglichen Schrecken darstellten".

Im Feuilleton überlegt Wieland Freund, warum in diesem Jahr kein Pulitzerpreis für Fiction vergeben wurde. Andreas Rosenfelder überlegt, warum mehr Hefte von Landlust verkauft werden als vom Spiegel. Julia Smirnova sah Julian Assanges erste Fernsehshow mit Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah.

Besprochen werden Simon Curtis' Film "My Week With Marilyn", eine Tintoretto-Ausstellung in den Scuderien des Quirinals in Rom und René Polleschs Münchner Theaterabend "Eure ganz großen Themen sind weg".

TAZ, 18.04.2012

"Mann muss sich nur wehren", singt Jenni Zylka aus Solidarität mit dem Grips Theater, das vor der Pleite steht. Elise Graton berichtet von einem Treffen New Yorker, Pariser und Berliner HipHopper. Besprochen werden Michael Thalheimers "Medea"-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt und Colin Clarks Film "My Week with Marilyn" (der bei Barbara Schweizerhof gleich mehrfaches Unwohlsein ausgelöst hat).

Und Tom.

Aus den Blogs, 18.04.2012

Das geistert gerade durch die sozialen Medien: Nicolas Cage spielt 4'33, das legendäre Avantgarde-Stück von John Cage. Neben dem bereits berühmt-berüchtigten Nervenzusammenbruch-Supercut des Schauspielers dessen zweites instant classic Netzvideo:



Einfach unglaublich, wie cool diesem Knaben die Zigarette an der hängenden Unterlippe klebt. Blinzeln tut er auch nicht. Ein professioneller Auftritt. Aber was macht das Huhn neben ihm? Frisurenvergleich? Dies und 49 weitere unerklärliche schwarz-weiß-Fotos bei Buzzfeeds.

FAZ, 18.04.2012

Auf Seite 1 der Zeitung steht die Meldung, dass sich die am Donnerstag versammelnde Deutsche Islamkonferenz nicht mit dem Phänomen der Salafisten auseinandersetzen mag. Necla Kelek appelliert an die deutschen Islamfunktionäre, sich von den Salafisten, die ihre Religion kapern, zu distanzieren: "Die Muslime selbst müssen in das von Fundamentalisten und Terroristen besetzte Herz der Finsternis ihrer Religion blicken und sich als wehrhafte Demokraten positionieren. Sie könnten zum Beispiel mit einer Erklärung auf der Islamkonferenz in dieser Woche zeigen, dass sie die salafistische Auffassung ablehnen, dass die Scharia nicht als Straf- und Familiengesetz gelten darf und dass die Gefahr des Fundamentalismus in den eigenen Reihen lauert."

Weitere Artikel: Christian Geyer macht sich anlässlich der Debatte um das Betreuungsgeld für das Modell Heim und Herd stark. Oliver Jungen berichtet, dass sich die Stadt Köln mutig mit der in der Stadt herumstehenden Kunst am Bau auseinandersetzen und einzelne Stücke in Frage stellen will. Astrid Kaminski informiert über den Stand der afro-amerikanischen Lyrik in den USA, die der Organisation Cave Canem viel zu verdanken hat.

Auf der Medienseite kommentiert Kerstin Holm Julian Assanges Interviewsendung im russischen Fernsehen, die mit dem Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah einen recht fragwürdigen Gast hatte. Michael Hanfeld schreibt über die Abermillionen Euro, die die öffentlich-rechtlichen Sender wieder für Fußball ausgeben. Und Jordan Mejias sichtet die Pulitzerpreise dieses Jahres (mehr hier).

Besprochen werden der Film "My Week with Marilyn", Falk Richters und Anouk van Dijks Choreografie "Rausch" in Düsseldorf, Lynn Nottages Stück "Ruiniert" in Konstanz und Bücher, darunter zwei Neuerscheinungen über Armut in Deutschland (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 18.04.2012

Jens Bisky hat sich in Berlin einen "fulminanten Vortrag" des Soziologen Wolfgang Streeck über Verschwörer hinter der Finanzindustrie angehört. Anne Philippi erliegt beim Podiumsgespräch zur baldigen Eröffnung von James Francos erster Ausstellung im Museum of Contemporary Art in Los Angeles dem Charme des Grenzgängers zwischen Hollywoodkarriere und bildender Kunst. Mit der neuen Dauerausstellung im Grassi Museum in Leipzig ist Andreas Kühne zwar nicht rundum zufrieden, allein der ausgestellte Schmuck sei aber "eine Reise nach Leipzig wert". Johan Schloemann berichtet knapp über den Stand der Dinge bei der Überarbeitung der Lutherbibel, die 2017 in dann adäquater Übersetzung erscheinen soll. Anke Sterneborg spricht mit Michelle Williams über ihre Rolle als Marilyn Monroe im neuen Kinofilm "My Week with Marilyn", den Susan Vahabzadeh bespricht. Alexander Menden berichtet von Protesten gegen die Einladung Chinas als Partnerland der Londoner Buchmesse. Lothar Müller gratuliert dem Übersetzer Hanns Grössel zum achtzigsten Geburtstag. Helmut Mauró schwärmt von den Fähigkeiten und Einsichten des erst siebzehnjährigen Pianisten Jan Lisiecki, der derzeit durch Deutschland tourt - hier spielt er Chopin:



Besprochen werden neue Popalben, Robert Lehnigers Inszenierung von Christian Krachts Roman "Faserland" am Schauspiel Hannover und Georges-Arthur Goldschmidts Erzählung "Ein Wiederkommen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).