Heute in den Feuilletons

Das Düstere, Romantik, Größenwahn

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2011. Die NZZ stellt klar: In der Wolke liegt die Zukunft der Musik. Dort hält auch Paul Kalkbrenner den Kopf schräg, wenn er seinen Schallereignissen hinterherlauscht - so die Welt. In diese Wolke stellt man nun auch seine Rücktrittsmeldungen, wie das Basketballgenie Shaquille O'Neil in einem Dienst namens Tout, meldet Netzwertig. Die SZ ist recht unglücklich über die Auszeichnung des Schlingensief-Pavillons in Venedig: schon wieder dieses parsifaleske Deutschlandbild! Aber alle Zeitungen sind zufrieden mit dem Börne-Preis für Joachim Gauck.

Aus den Blogs, 06.06.2011

Nach Twitter kommt Tout. Martin Weigert erzählt in Netzwertig, wie das Basketballgenie Shaquille O'Neil den neuen Dienst Tout für seine Rücktrittsmeldung nutzte - und dadurch bekannt machte: "O'Neil, der zu den 50 besten Spielern der US-Basketballliga NBA jemals gehört, gab diese Neuigkeit natürlich zünftig über Twitter bekannt, wo ihm knapp vier Millionen Menschen folgen. Das ist allerdings schon längst nichts Besonders mehr. Der 39-jährige wählte aber nicht etwa die Textform für seine (wohl nicht ganz überraschende) Rücktrittsmeldung, sondern nahm dafür ein kurzes Video auf, das er bei dem brandneuen Videoservice Tout hochlud und via Twitter verlinkte." Tout ist eine Art Videotwitter und erlaubt die Publikation von 15-sekündigen Kurzvideos.

Ray Fishmann stellt in Slate eine Studie zweier deutscher Forscher vor, die Folgendes herausbekamen: "Communities that murdered their Jewish populations during the 14th-century Black Death pogroms were more likely to demonstrate a violent hatred of Jews nearly 600 years later. A culture of intolerance can be very persistent indeed."

(via Marica Pally) Angenommen, Sie werden nächste Woche zusammen mit einer Gruppe auserwählter zu Ihrem Schöpfer gerufen, um ihm beratend zur Seite zu stehen. Was tun Sie mit Ihrem geliebten Pudel? Wer soll sich um das arme Tier kümmmern? Atheisten, selbstverständlich! Die gehören nämlich garantiert nicht zu den Auserwählten, verspricht After the Rapture Pet Care. Hier kann man seinen Atheisten buchen. Und bitte: "There are sarcastic joke sites on the Internet about many 'after the Rapture' functions, as well as services run by atheists for a profit, but we are a real service."

(via Gawker) Sehr unbeliebt gemacht hat sich laut Guardian V.S. Naipaul mit einem Interview, in dem er erklärte, warum ihm keine einzige - lebende oder tote - Schriftstellerin das Wasser reichen kann: "The author, who was born in Trinidad, said this was because of women's 'sentimentality, the narrow view of the world'. 'And inevitably for a woman, she is not a complete master of a house, so that comes over in her writing too,' he said."

Welt, 06.06.2011

Michael Pilz porträtiert Paul Kalkbrenner, der den Techno made in Berlin plötzlich wieder weltberühmt macht, und seine neue Platte in Berlin vor 17.000 tanzenden Zuhörern vorstellte: "Schwungvoll dreht Kalkbrenner an den Knöpfen, wie ein Dirigent beherrscht er seine Regler. Wenn es leiser wird, und wenn der Beat aussetzt, legt er zufrieden seinen Kopf schräg, um den Klängen hinterher zu lauschen. Und weil er sich freut auf den zurück kehrenden Beat und auf die Glücksschreie der Gäste. Alle Schallereignisse werden begrüßt wie alte Freunde."

Hier stellt er seine neue CD selber vor:



Weitere Artikel: Kai Luehrs-Kaiser schreibt zum Tod des Boulevard-Virtuosen Curth Flatow. Manuel Brug konstatiert, dass Christian Thielemann nach den Revirements bei den Salzburger Osterfestspielen, die er nun dominieren wird, endgültig als Maestro teutonicus dasteht. Tim Ackermann unterhält sich mit der Kuratorin des Schlingensief-Pavillons in Venedig, Susanne Gaensheimer. Etienne Francois analysiert die Werte einer Umfrage über das Deutschland-Bild der Franzosen.

NZZ, 06.06.2011

Max Nyffeler beschreibt, wie die Musikindustrie mit Cloud-Computing wieder auf Touren zu kommen hofft und dabei auch ganz neue Töne anschlägt: "Dem Publikum unseren Willen aufzwingen - das geht nicht mehr", zitiert Nyffeler einen Funktionär. "Wie sich das alles am Ende beim viel umworbenen Musikkonsumenten auswirkt, wird sich noch zeigen. Sichtbar ist aber bereits jetzt der Mentalitätswandel in den Chefetagen der Musikkonzerne - das Damoklesschwert der Piraterie ist eine treffliche Lernhilfe. Inzwischen hat man sich an das illegale Kopieren auch schon etwas gewöhnt. Es wird als unvermeidlicher Kollateralschaden in Kauf genommen und als normale Abschreibung verbucht. Auch die aufgeregten Pirateriedebatten scheinen nur noch unter der Rubrik 'romantische Kapitalismuskritik' wahrgenommen zu werden."

Weiteres: Peter Hagmann hat sich die Janacek-Inszenierung "Aus einem Totenhaus" von Peter Konwitschny und Ingo Metzmacher in Zürich angesehen. Marianne Burki liest die gerade auf Englisch erschienene Printversion von Ai Weiweis Blog, kann sich aber auch nach Gesprächen mit dem Zürcher Kurator Li Zhenhua kein Urteil über ihn als Künstler und Dissidenten bilden. Bettina Spoerri berichtet vom neuen Filmfest "Bildrausch" in Basel.

FR, 06.06.2011

Christian Thomas berichtet über die Verleihung des Börne-Preises an Joachim Gauck und zeigt sich sowohl von Michael Naumanns Laudatio als auch von Gaucks Dankresrede beeindruckt. Tobi Müller freut sich über den Goldenen Löwen für Schlingensiefs Biennale-Pavillon.

Besprochen werden eine Ausstellung der Fotografien der Sammlung Goetz in München, Janaceks "Aus dem Totenhaus" unter Konwitschny und Metzmacher in Zürich, eine Neuedition von Jean Cayrols Roman "Im Bereich einer Nacht" in der Übersetzung von Paul Celan und Erzählungen von Kathrin Schmidt.

TAZ, 06.06.2011

Eine sehr interessante Kritik zu William Gibsons neuem Roman "System Neustart" hat Ulrich Gutmaier geschrieben. Es geht, sehr grob gesagt, um einen Unternehmer, der sich um einen Auftrag für Militärkleidung bewerben will. Diese ist nämlich eine der wenigen Dinge, die nachprüfbaren Qualitätskriterien unterliegt und nicht einem blöden Image, was sie für Anarchisten so anziehend macht wie für Konservative. "Dieses ultrakonservative Begehren nach Qualität geht mit einer Form von Exklusivität einher, die nicht an Geld, sondern an Wissen gekoppelt ist. 'Ihre Sachen sind wunderbar gearbeitet', lobt ein Fan die Erfinderin und Designerin von Gabriel Hounds. Spießiger geht's nicht. Und doch ist genau das die Haltung, die zu Beginn der zehner Jahre den Popmainstream herausfordert."

Klaus Irler berichtet vom Live Art Festival auf Kampnagel in Hamburg. Rudolf Walther kündigt die heute beginnende Frankfurter Adorno-Vorlesungsreihe von Robert B. Pippin an. "Voll in Ordnung" findet Ingo Arend die Auszeichnung des deutschen Pavillons in Venedig. Robert Iwanetz spielt "Minecraft".

Besprochen werden Jorge Michel Graus "virtuoser" Kannibalenfilm "Wir sind was wir sind" und das Album "Gloss Drop" der Band Battles.

Und Tom.

SZ, 06.06.2011

"Preiswürdig ist, was auf den ersten Blick deutsch ist", stöhnt Catrin Lorch, die ziemlich unglücklich ist über die Auszeichnung des deutschen Pavillons bei der Biennale in Venedig. Würde Schlingensief noch leben, dann hätte man "es verziehen, dass da schon wieder ein Deutscher ausgezeichnet wird, in der Kunst, der den ganzen Ballast im Gepäck hat: Parsifal, das Düstere, Romantik, Größenwahn. Oder Rudolf Steiner, Nietzsche, runenschwarze Slogans, Schwarz-Weiß-Filme. Hätte er aber gar nicht rausgeholt, aus dem lodengrünen Rucksack." Die internationale Kunstkritik feiere jetzt nur einmal mehr ihr angestaubtes Deutschlandbild.

Weitere Artikel: Almuth Spiegler berichtet über eine Reihe von Skandalen in der österreichischen Kunstwelt deren jeder einzelne eine schöne lange Reportage oder ein Jelinek-Stück wert wäre. Martin Krumbholz singt ein Loblied auf das Theaterprojekt Familie Flöz. In den Nachrichten aus dem Netz berichtet Niklas Hofmann über den Versuch, Wikipedia zum Weltkulturerbe adeln zu lassen. Christine Dössel schreibt zum Tod des Boulevardtheaterautors Curth Flatow. Klaus Englert begeistert sich für die Pilze, die der Berliner Architekt Jürgen Mayer H. in der Altstadt von Sevilla aufstellte und die den Demonstranten jetzt eine schattige Agora bieten, wie man hier sehen kann:



Besprochen werden Wagners "Tristan und Isolde" in Lyon ("ohne Vergleich und in jedem Moment überraschend", jubelt Reinhard Brembeck über Kirill Petrenkos Interpretation), eine Lyonel-Feininger-Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne, Kristian Smeds Inszenierung des "Kirschgarten" auf einer Wiese neben einer Flüchtlingssiedlung bei den Wiener Festwochen ("man bekommt ein Gefühl dafür, dass es egal ist, ob einer viel oder wenig zu verlieren hat. Es ist immer das Ganze", lobt Helmut Schödel), John Turturros Film "Passione" und Bücher, darunter David Mitchells Roman "Number 9 Dream" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 06.06.2011

 In der Frankfurter Paulskirche erhielt Joachim Gauck den Börne-Preis: Gute Gelegenheit für Christian Geyer, mal wieder des besseren Mannes Eignung fürs höchste Staatsamt zu erwähnen. Und auch Gaucks bedingungsloses Eintreten für die Freiheit hat ihn wieder beeindruckt: "Gauck, ein unpolitischer Strahlemann? Er kenne, so hatte Gauck unter dem Titel 'Winter im Sommer - Frühling im Herbst' in seinen Erinnerungen geschrieben, 'den mitleidigen Blick jener, die meine beständige Freude an der westlichen Freiheit für naiv hielten, irgendwie rührend. Hundertmal hatte ich diesen Kultur-trifft-Natur-Blick von Ethnologen oder Feuilleton-Artisten aushalten müssen, die mich anschauten, als wäre ich gerade aus einer primitiven Kultur zugewandert'."

Außerdem: Gekürzt abgedruckt wird überdies die Laudatio des Preisträgerwählers Michael Naumann. Die Preise bei der Venedig-Biennale - vor allem den für den Schlingensief-Pavillon - nennt und kommentiert ein offenbar nicht unzufriedener Niklas Maak. Den Plan für eine aus Verzweiflung über den Niedergang des Hochschulsystems zu gründende britische geisteswissenschaftliche Privatuniversität meldet Gina Thomas. Sehr schwärmt Klaus Englert für das Bauprojekt "8 House" in Orestad (mehr hier) und für das dafür verantwortliche, gerade weltweit erfolgreiche Architekturbüro BIG. Als Glosse hat Gerhard Stadelmaier einen nicht unbizarren Text über "Herrn Internetzer" verfasst. Rolf Dobelli erklärt, dass wir sehr schlecht darin sind, "alternative Pfade" in den Blick zu bekommen. Wie des erfolgreichen RTL-Chefs Gerhard Zeilers Bewerbung als ORF-Intendant am SPÖ-Filz scheitern musste, weiß Michael Hanfeld.

Besprochen werden Peter Konwitschnys und Ingo Metzmachers Züricher Version der Janacek-Oper "Aus einem Totenhaus", Frank Hofmanns Inszenierung von George Taboris frühem Stück "Demonstration" bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen und Bücher, darunter Jean Cayrols wiederaufgelegter Roman "Nacht" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).