Heute in den Feuilletons

Selbstgerechte Lust am Ersterben

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2010. In der taz fürchtet der britische Diplomat Hugh Mortimer, dass die jüngsten Wikileaks der Transparenz eher schaden als nützen. Im Perlentaucher problematisiert Matthias Küntzel die weiche Linie der Regierung und des Bundestags gegenüber dem Iran - besonders im Fall der Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch. Die NZZ ist verstört: Die Brücke-Künstler haben Kinderakte gemalt. Und das Sprengel-Museum stellt sie aus. Die SZ macht sich Sorgen um die künftige Architektur der letzten Baulücken in Berlin: Ist und bleibt die Stadt eine begehbare Grabplatte?

NZZ, 06.12.2010

Eine Ausstellung mit Kinder-Akten der Brücke-Künstler im Sprengel Museum in Hannover behagt Christian Saehrendt gar nicht. Auch wenn er zugeben muss, dass sie keine voyeuristische Bedürfnisse bedient, schreibt er säuerlich: "Die 'Brücke'-Künstler, allen voran Ernst Ludwig Kirchner, sind zu Säulenheiligen der deutschen Kunstgeschichtsschreibung geworden. Ihr Kampf für die künstlerische Freiheit und gegen den verknöcherten Wilhelminismus, ihr Leiden unter der Nazi-Verfolgung haben sie dazu gemacht. Nun heißt es, sie wieder vom Sockel herunterzuholen, wenngleich dies nicht allen passt. Händler und Sammler sind gegen Kritik allergisch, die die Marken 'Brücke' oder 'Kirchner' beschädigen könnte. Gerade im Blick auf die umworbene internationale Kundschaft stoßen beispielsweise Kirchners verbaler Nationalismus und seine antijüdischen Tiraden sauer auf."

Weiteres: Joachim Güntner zeigt am Beispiel Hamburg, was passiert, wenn das Stadtmarketing die Kulturpolitik ersetzt. Marion Löhndorf begutatchtet das umgebaute Royal Shakespeare Theatre in Stratford. Besprochen werden eine Ausstellung zu Irene Nemirovsky im Memorial de la Shoah in Paris.

Aus den Blogs, 06.12.2010

Ulrike Langer hat für ihre Linktipps in diese Woche vor allem Links zur Wikileaks-Debatte gesammelt. Und Irights.info bringt einen Wochenrückblick, unter anderem mit Links zur Perlentaucher-Entscheidung des BGH.

Das spanische Parlament soll diesen Monat über ein neues Copyright-Gesetz abstimmen. Jüngste Wikileaks zeigen laut El Pais, dass dieses Gesetz erheblich von den USA beeinflusst wurde: "The first 35 of the 115 cables have been released, and they confirm the widespread suspicion: the Spanish government and the opposition party were led around by the nose by the US representatives who are the real legislative authority in Spain. So here's the new question: when the Spanish Congress votes on America's copyright law this month, will they vote for their sovereignty, or act like a US puppet state?", fragt Cory Doctorow in BoingBoing.

Der Venture-Kapitalist Mark Suster erzählt in einem dreiteiligen Artikel auf TechCrunch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des sozialen Netzes: "Right now our social graph (whom we are connected to and their key information like email addresses) is mostly held captive by Facebook. There is growing pressure on Facebook to make this portable and they have made some progress on this front. Ultimately I don't believe users or society as a whole will accept a single company 'locking in' our vital information."

Im großen Streit um den Faust-Theaterpreis schreibt in der Nachtkritik heute Frank-Patrick Streckel grundsätzlich über das Theater und seine Rolle in der Gesellschaft. Und zum geschundenen Begriff der Kultur: "Ein Theater ist ein Kulturphänomen, aber ein Bordell ist es auch. Ein Museum ist ein Kulturphänomen, aber eine Abwässerkläranlage und ein Gefängnis sind es auch. Ein Symphonieorchester ist ein Kulturphänomen, aber die Müllabfuhr und die Börse und ein Altersheim sind es auch. Die Verteilung von Reichtum und Armut ist in erster Linie eine kulturelle Frage. Die Phrase von der 'Kulturnation" - als einem Etikett einer Nation gehobener Ansprüche - ist, vor allem hierzulande, dumpfer Unfug."

Perlentaucher, 06.12.2010

Am Freitag debattierte der Bundestag ohne allzugroßes öffentliches Interesse über die Menschenrechtslage im Iran. Nur vier der sieben Redner erwähnten die Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch, nur einer, Ruprecht Polenz nannte sie beim Namen. Bestärkt die weiche Linie das Regime des Iran nicht eher, die beiden Geiseln festzuhalten?, fragt Matthias Küntzel im Perlentaucher: "Das Regime in Teheran gehört ohne Frage zu den brutalsten dieser Welt. Mit den beiden deutschen Journalisten hält es zwei wertvolle Geiseln in seiner Hand. Damit kann man eine Bundesregierung, die innerhalb des Westens bei der Durchsetzung internationaler Sanktionen ohnehin als unsicherer Kantonist gilt, wundervoll erpressen. Warum sollte es diesen Faustpfand umgehend wieder aus der Hand geben?"
Stichwörter: Iran, Küntzel, Matthias

TAZ, 06.12.2010

Der britische Diplomat Hugh Mortimer fürchtet in einer ersten groben Schadensbilanz nach Wikileaks um die Offenheit der Politik: "Diplomatie ist eine alte Profession, vielleicht die zweitälteste der Welt. Sie wird diese Krise überleben, und deutliche Worte werden weiter in die Heimatländer gekabelt werden - allerdings unter strengeren Sicherheitsvorkehrungen als bisher. Genau hierin liegt die Ironie der ganzen traurigen Angelegenheit: Größere Transparenz weltweit, dieses Ziel, dem angeblich auch Herr Assange verpflichtet ist, wird durch sein Handeln nicht verstärkt, sondern eher auf der Strecke bleiben. Und weil Informationen immer auch Macht bedeuten, werden sie nun um so eifersüchtiger bewacht."

In der Kultur: Silvia Hallensleben berichtet von einem Kölner Symposium, das alternative Konzepte der Filmförderung vorstellte. Jörg Sundermeier berichtet von einer Berliner Diskussion zwischen Dan Diner und Raphael Gross über Moral im Nationalsozialismus.

Besprochen werden eine Ausstellung zu "Alberto Giacometti" im Kunstmuseum Wolfsburg und Leila Marouanes Roman "Das Sexleben eines Islamisten in Paris" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 06.12.2010

Nach Amazon und EveryDNS.net (mehr hier) hat jetzt auch PayPal die Verbindung zu Wikileaks gekappt, meldet John F. Burns in der NYT: "PayPal, one of the most widely used online payment services, severed ties to WikiLeaks, following similar moves by the e-commerce Web site Amazon and the domain name company EveryDNS.net. In a statement dated Friday, PayPal said that it had 'permanently restricted the account used by WikiLeaks.' It added that the action had been taken 'due to a violation of the PayPal Acceptable Use Policy, which states that our payment service cannot be used for any activities that encourage, promote, facilitate or instruct others to engage in illegal activity,' and said that 'the account holder' had been notified."

Hier noch ein Link zu den Adressen, unter denen Wikileaks derzeit erreichbar ist.
Stichwörter: Amazon, Paypal

FR, 06.12.2010

Buchstäblich "nichts" spürte Peter Michalzik in Günter Krämers Frankfurter Inszenierung von Shakespeares "König Lear": "Dieser 'Lear' ist eine geschlossene Veranstaltung unter Ausschluss des Publikums, er genügt seinem eigenen Schematismus und der selbstgerechten Lust am Ersterben."

Außerdem: K. Erik Franzen erlebte einen kurzweiligen Abend mit Andreas Kriegenburgs Theaterprojekt "Alles nur der Liebe wegen" an den Münchner Kammerspielen. Karl Grobe erzählt die Geschichte des Kyros-Zylinders, der gerade in Teheran ausgestellt ist.

Welt, 06.12.2010

Hanns-Georg Rodek meldet, dass Roman Polanski, dessen Film "The Ghostwriter" gerade mit sechs Europäischen Filmpreisen ausgezeichnet wurde, auch seinen neuen Film gern in Babelsberg gedreht hätte: "Doch das Land, das nun den 'Ghostwriter' freudig als Qualitätsprodukt des Filmstandortes Deutschland für sich reklamiert, sah sich außerstande, Polanski sicheres Geleit zuzusichern. Polanski, so das Justizministerium, sei zwar nicht offiziell zur Fahndung ausgeschrieben, aber die USA könnten die Bundesrepublik jederzeit um Rechtshilfe bitten..."

Weiteres: Heimo Schwilk erinnert sich an die Künstlerszene am Prenzlauer Berg Ende der Achtziger. Der 47-jährige DJ Fatboyslim plaudert im Interview über seine Karriere. Manuel Brug würdigt die Aufführung aller Beethoven-Symphonien mit Christian Thielemann und den Wiener Philharmonikern in Berlin.

SZ, 06.12.2010

Berlin verscherbelt zur Zeit eine Menge Grundstücke. Laura Weißmüller macht sich Sorgen, dass die nach dem Mauerfall aufgrund städtischer Vorgaben hochgezogenen Plattenbauten weiterhin das Bild bestimmen werden: "Die Berliner Baupolitik verhindert noch immer jegliche Form von anspruchsvoller zeitgenössischer Architektur; für die letzten innerstädtischen Grundstücke, die es noch zu bebauen gibt, besteht das Postulat der Steinfassade wie eh und je. Wenn sich das nicht schleunigst ändert, wird aus der Stadt endgültig eine begehbare Grabsteinplatte." Jens Bisky verfolgte außerdem eine Berliner Debatte über den höchst blamablen Vorplatz des neuen Hauptbahnhofs.

Weitere Artikel: In den "Nachrichten aus dem Netz" stellt Michael Morrstedt ein Projekt des schwedischen Internetaktivisten Peter Sunde Kolmisoppi vor, der das "Domain Name System" (DNS) von der Internetbehörde ICANN abkoppeln will (mehr bei Techcrunch und bei Wired). Der Kulturwissenschaftler Thomas Wagner ist sehr erbost darüber, dasss Peter Sloterdijk in der jüngsten ausgabe der Zeit unter dem Titel "Warum ich doch recht habe" an seinen Thesen zum deutschen Steuersystem festhält. Rainer Gansera verfolgte die Verleihung der Europäischen Filmpreise.

Besprochen werden neue DVDs, Andreas Kriegenburgs improvisatorisches Projekt "Alles nur der Liebe wegen" an den Münchner Kammerspielen, Sergej Prokofjews "Liebe zu den drei Orangen" in Hannover und Bücher, darunter Judith Butlers Essay "Raster des Krieges - Warum wir nicht jedes Leid beklagen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Die ganze Medienseite ist dem Unfall bei "Wetten dass..." gewidmet: "Europas größte TV-Show 'Wetten, dass..?' erlebt ein Desaster - und das ZDF macht vor, wie man damit umgeht", schreibt Hans Hoff begeistert in seiner Reportage. Außerdem wird Gottschalk selbst interviewt: "Wenn bei uns der Eindruck entstanden wäre, er hätte sich mit seinem Wett-Angebot übernommen, hätten wir ihn vor sich selbst geschützt."

FAZ, 06.12.2010

Anlässlich einer Feierstunde zum 75. Geburtstag des BUND-Gründers Hubert Weinzierl würdigt Alard von Kittlitz den "Komplex Natur-Schöpfung-Christentum-Konservativismus". Deutlich zu spät kam zur Feier, erfahren wir auch, Umweltminister Norbert Röttgen und wurde deshalb von Enoch zu Guttenberg heftig getadelt. Richtig gehandelt haben, findet Michael Hanfeld, mit dem Abbruch von "Wetten dass" nach einem schweren Unfall Moderator Thomas Gottschalk und das ZDF. In der Glosse weiß Paul Ingendaay, wem im weiteren Umfeld des spanischen Fluglotsenstreiks so alles die Hand nicht gezittert hat. Wiebke Porombka war dabei, als im Berghain Literaten auf DJs trafen. Rolf Dobelle macht in seiner "Klarer Denken"-Kolumne auf den "Rückschau-Fehler" bzw. das "Ich hab's immer schon gewusst"-Problem aufmerksam und empfiehlt Tagebuchschreiben und -Wiederlesen als Gegengift.

Besprochen werden ein Kölner Konzert von Ex-Hüsker-Dü Grant Hart, die späte Uraufführung von Emil Nikolaus von Rezniceks musicalartiger Oper "Benzin" in Chemnitz, Mahir Günsirays Bochumer "Faust"-Inszenierung (beide Teile in drei Stunden, Andreas Rossmann ist trotzdem recht angetan), ein Frankfurter "King Lear" (Gerhard Stadelmaier greift zur Höchststrafe und verweigert die Nennung des Regisseursnamens - Günter Krämer war's), die Ausstellung "Chaos and Classicism: Art in France, Italy, and Germany, 1918-1936" im New Yorker Guggenheim Museum, Heidi Specognas Film "Das Schiff des Torjägers" (mehr) und Bücher, darunter ein Text+Kritik-Sonderband zu "Comics, Mangas, Graphic Novels" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).