Heute in den Feuilletons

Inflation an Rechtsgutachten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.12.2008. Die NZZ beschreibt die immer stärkeren Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. In der FR versichert Oliver Sacks: Musik hilft bei Demenz. Die Achse des Guten weiß, warum der Spiegel in seiner Schmidt-Geschichte ohne Schmidt-Zitat auskommen musste. Recht lau sind die Reaktionen auf Tom Cruises Stauffenberg-Film "Operation Walküre"und Heinrich Breloers "Buddenbrooks"-Verfilmung.

NZZ, 16.12.2008

Mona Naggar beschreibt die innerislamischen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, die durch den Bürgerkrieg im Irak, aber auch durch die Politik des Irans kräftig angeheizt wurden. "Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei den interkonfessionellen Verstimmungen spielt auch die Krise, die das sunnitische Denken zurzeit erlebt. Deren sichtbarste Zeichen sind die Stärke und Verbreitung radikaler salafitischer Gruppen, das angeschlagene Ansehen und der schwindende Einfluss der führenden klassischen sunnitischen Institutionen wie der Al-Azhar-Universität oder die Inflation an Rechtsgutachten, teilweise mit wirren und zweifelhaften Inhalten und unprofessioneller Methodik."

Weiteres: Alexandra Stäheli schreibt zum Siebzigsten der Schauspielerin und Bergman-Muse Liv Ullmann. Besprochen werden eine große Schau in der Antwerpener Maison Martin Margiela, Christoph Meckels Erzählungen "Nachtsaison", Filip Florians Roman "Kleine Finger", Franco Supinos Roman "Das andere Leben" sowie Gedichte von John Montague und Iain Crichton Smith (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 16.12.2008

Der Neurologe Oliver Sacks erzählt, welch positive Auswirkungen die Musik auf das menschliche Gehirn allgemein und seine Patienten im Besonderen hat und warum er jetzt wieder anfangen will, Klavierunterricht zu nehmen: "Die Auswirkungen von Musik - Verbesserung der Stimmung, des Verhaltens und sogar der Wahrnehmung - können bei Demenz-Patienten manchmal Stunden, ja Tage vorhalten. Die Forschung beginnt erst jetzt, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Durch Patienten wie Woody wissen wir nun, dass Musik eine wirksame Therapie für fast alle neurologischen Störungen ist. Musik ist weitaus mehr als eine schöne Zerstreuung. In ihr kommt auf elementare Weise unser Selbst zum Ausdruck - und oft ist sie unsere beste Medizin."

Weiteres: Peter Michalzik hat Heinrich Breloers Mann-Verfilmung der "Buddenbrooks" gern gesehen, aber vor allem als "luzides Ausstattungskino". Robert Kaltenbrunner schildert, wie unterschiedlich sich die Schrumpfung der Städte in Ost und Wet vollzieht. Auf der Medienseite berichtet Rudolf Walther von der sich formierenden Opposition in Frankreich gegen Sarkozys Pläne, das öffentlich-rechtliche Fernsehen werbefrei zu machen. In Times mager widmet sich Harry Nutt präsidialer Sicherheit in Bagdad und bei den "Water Rats" Sydney.

Besprochen werden eine Schau libanesischer Künstler im Heidelberger Kunstverein und eine Ausstellung zu der armenischen Künstlerfamilie Sevrugian im Frankfurter Museum der Weltkulturen.

Welt, 16.12.2008

Ganz in Ordnung, der Stauffenberg-Film "Operation Walküre", findet Hanns-Georg Rodek. Schade nur, dass der Hauptdarsteller so wenig Charisma hat: "Cruise ist am besten als Aufsteiger, der mit Aggressivität und Energie den Respekt seiner Umgebung erkämpft, ein amerikanischer Held eben. Stauffenberg aber war ein deutscher Held, von aristokratischem Gebaren, und das ist eine Dimension, die Cruise völlig abgeht. Die vielen Briten, mit denen Cruise in 'Walküre' umgeben ist (von Branagh als Tresckow über Bill Nighy als Olbricht bis zu dem wunderbaren Tim Wilkinson als Fromm) strahlen diesen Anflug militärisch-adeliger Grandezza aus, Cruise nicht."

Weiteres: Udo Kittelmann, neuer Direktor der Berliner Nationalgalerie möchte die Sammlung stärker in den Mittelpunkt rücken, erklärt er im Interview. Berthold Seewald berichtet über ein neu entdecktes römisches Schlachtfeld im Harz. Krei. schreibt zum Siebzigsten von Liv Ullmann. Peter Zander erklärt, warum es so schwer ist, Thomas Mann zu verfilmen. Marcel Hartges, bislang Verlagschef bei Dumont, geht zu Piper, meldet Wieland Freund. Dankwart Guratzsch kritisiert die Stadtentwicklungspolitik Schwerins, die denkmalgeschützte Häuser öden Einkaufszentren opfert. Wenig Freude hat Julian Mieth an dem neuen Album von Take That.

Auf der Forumsseite beklagt Freya Klier die DDR-Verherrlichung in den Schulen.

Tagesspiegel, 16.12.2008

Auch Jan Schulz-Ojala findet die "Operation Walküre" soweit ok, wünscht sich aber, Tom Cruise hätte ein paar mehr Ausdrucksmöglichkeiten, als bei Daily Plastic skizziert (siehe links). Und noch was ärgert ihn: "Weniger plausibel erscheint nun - nach den grundsätzlichen Einwänden gegen Dreh-Rummel in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand -, warum die Produktion überhaupt auf diesem Originalschauplatz bestand. Die Locations am heutigen Finanzministerium, vor dem Messegelände an der Masurenallee und im Neuköllner Ganghoferbad mögen noch angehen, weil sie die eine oder andere Draufsicht-Totale erbringen - die Erschießungsszenen allerdings, meist halbnah oder in Großaufnahme gedreht, hätten sonstwo nachgestellt werden können. Der Sieg der Produzenten nach dem erbitterten Berliner Streit im vergangenen Jahr: Nun taugt er tatsächlich bloß für das, was viele befürchtet hatten - als Trophäe im Abspann."
(Zur Erinnerung: Die "grundsätzlichen Einwände", die auch eine Kritik an FAZ-Feuilletonchef Frank Schirrmacher einschlossen, machte damals der Historiker Peter Steinbach im Tagesspiegel und wurde dafür von der FAZ niederkartätscht.)

TAZ, 16.12.2008

Dirk Knipphals hat Heinrich Breloers "Buddenbrooks"-Verfilmung schon gesehen und ist nicht gerade begeistert: "Seine Docufiction 'Die Manns' stellte die Familie Mann in den Mittelpunkt und zeigte, wie interessant und durcheinander, modern und neurotisch dies Familienleben war. Seine 'Buddenbrooks'-Verfilmung aber ist eine breit getretene Klassikerverwurstung."

Weitere Artikel: Jürgen Gottschlich resümiert einen neuen Forschungsbericht über Troja. Wolfgang Ullrich macht kapitalismuskritische Anmerkungen zum Treiben auf den Weihnachtsmärkten ("Auf den Weihnachtsmärkten begegnet uns dieselbe Überfülle und Reizüberflutung wie in Kaufhäusern; vieles Angebotene ist außerdem zynisch nutzlos und lediglich dazu da, irgendwie Geld einzubringen"). Philipp Gessler berichtet in tazzwei über einen Prozess vor dem Landgericht Berlin, wo die Frage geklärt wird, ob der Berliner Autor Volker Kühn seine in einem Radiofeature gemachte Aussage widerrufen muss, Johannes Heesters habe vor KZ-Wächtern in Dachau gesungen - das Urteil wird heute erwartet.

Besprochen werdem Antonio Muntadas Ausstellung "Räume, Orte und Situationen" in der Fundacion Botin in Santander und ein Spektakel der Regiegruppe "Schöne Gegend" über Alexander von Humboldt in der Hamburger Kampnagel-Fabrik

Schließlich Tom.

Aus den Blogs, 16.12.2008

Ein bisschen Medienklatsch über die Schmidt-Shows in Spiegel und Zeit kolportiert Wolfgang Röhl in der Achse des Guten: "Die Spiegel-Titelgeschichte zu Schmidts 90. Geburtstag am 23. Dezember enthielt, ziemlich unüblich, keine wörtlichen Zitate aus dem Interview. Da das Magazin mit seinem Geburtstags-Stück 'Über Schmidt' schon am 8. Dezember vorgeprescht war, hatte die Zeit, über deren Büros der Spiegel sein Interview mit dem Zeit-Herausgeber Schmidt autorisieren lassen musste, die Chose so lange verzögert, bis die Spiegel-Ausgabe 50/08 in Druck ging. Denn die Zeit-Redakteure hatten selber umfangreiche Schmidt-Hommagen in der Pipeline..."

Paul Krugman erklärt, warum die deutsche Obstuktionspolitik gegen die Krisenpläne der EU so fatal ist:

"dY = (1-m)dG + (1-m)(1-t)c dY

or dY/dG = (1-m)/[1 - (1-m)(1-t)c]"
Stichwörter: Der Spiegel, Krugman, Paul

FAZ, 16.12.2008

Bernard Andreae ist sich ganz sicher, dass der Satyr von Mazara del Vallo ein Praxiteles-Original ist: "Nicht nur ich halte den Satyr für rein praxitelisch. Hier wird es immer verschiedene Meinungen geben. Aber gerade ein Detail, nämlich die Formung des männlichen Gliedes, die bei diesem Meister besonders charakteristisch ist, spricht dafür, dass wir es wirklich mit dem hochberühmten Satyr des Praxiteles zu tun haben."

Weiteres: In Moskau wurde die russische "Miss Verfassung" gekürt - Kerstin Holm war vor Ort. Tobias Rüther war in Boston, wo er an der Universität Harvard erst die Wahlkampfberater von Obama und McCain auf den Wahlkampf zurückblicken sah, und am nächsten Abend Juristen, Literaturwissenschaftler und andere Experten über Menschenrechte diskutieren hörte. Günter Kowa hat sich das restaurierte Wohnhaus des Pietisten August Hermann Francke in Halle angesehen. Pia Reinacher weiß von gleich zwei im Entstehen begriffenen Robert-Walser-Werkausgaben. Dieter Bartetzko erklärt, warum es dank Finanzkrise vielleicht doch nicht zum Teilabriss des Stuttgarter Hauptbahnhofs kommt. Knapp kommentiert wird die überraschende Ablösung des Piper-Verlegers Wolfgang Ferchl durch den Dumont-Mann Marcel Hartges. Dem Scrabble-Spiel gratuliert Gina Thomas zum sechzigsten Geburtstag. Online gibt es Glückwünsche von Andreas Kilb für Liv Ullmann zum Siebzigsten. Andreas Rossmann meldet, dass der so unangenehm betitelte Krimipreis Ripper Award an Henning Mankell geht. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite spürt Heinz-Elmar Tenorth bisher gar nicht recht deutlich gewordene Kompetenzmängel im Pisa-Bericht auf. Auf der Medienseite porträtiert Constanze Benecke den schuhwerfenden Journalisten Muntaser el Saidi. Michael Hanfeld hat den Nachruf auf Horst Tappert geschrieben.

Besprochen werden ein Kölner Konzert des HipHoppers Thomas D, die Pariser Ausstellung "Bonaparte et l'Egypte", die Potsdamer Ausstellung "Ich bin kein Romantiker" über den Pianisten Wilhelm Kempff, Einspielungen des Liedwerks von Sergej Rachmaninow und Heinrich Steinfests Roman "Mariaschwarz" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 16.12.2008

Filmkritiker Tobias Kniebe ist von der SZ zur Weltpremiere von Tom Cruises Stauffenberg-Film "Operation Walküre" in New York geschickt worden und seufzt erleichtert auf: Der Film sei kein Meisterwerk, aber doch ein komplexer und ehrlicher historischer Thriller: "Weder wird hier das Ansehen der deutschen Widerstandskämpfer in irgendeiner Weise in den Schmutz gezogen, noch ist nun ernsthaft mit globaler Stauffenberg-Euphorie zu rechnen; weder wird Tom Cruises Karriere nach diesem Film zu Ende sein, noch steht seine Heiligsprechung unmittelbar bevor." (Kniebe hatte im letzten Jahr schon als erster das Drehbuch zum Film lesen dürfen und schrieb damals: "Es könnte ein großer Film sein. Vielleicht sogar ein Meisterwerk", unser Resümee.)

Weitere Artikel: Fabian Soethof schreibt einen Abgesang auf den in Harvard einst berühmten Zeitungskiosk "Out Of Town News", der nun krisenbedingt schließen muss. Tobias Kniebe gratuliert Liv Ullmann zum Siebzigsten. Holger Liebs spricht mit dem Sammler Udo Brandhorst, der aus Köln nach München kam, sowie Armin Zweite, dem Leiter des Museums Brandhorst, über ihre Pläne - das Museum Brandhorst soll demnächst eröffnen. In einem zweiten Interview befragt Liebs außerdem den bayerischen Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch nach seinen Plänen für die ihm unterstehenden Museen in München. Jörg Häntzschel berichtet aus New Orleans über Debatten um den Wiederaufbau der immer noch von Catrina gezeichneten Stadt. Harald Eggebrecht berichtet über sensationell zu nennende archäologische Funde eins Scharmützels zwischen Römern und Germanen im Harz 200 Jahre nach der Varus-Schlacht. Und auf Seite 3 steht Willi Winklers Nachruf auf Horst Tappert.

Besprochen werden ein Konzert des türkischen Pianisten Fazil Say in München und Bücher, darunter Ulrich Holbeins "Narratorium".

Auf der Medienseite wird über den maroden ORF (hier) und über den ebenso maroden britischen Staatssender Channel 4 (hier) berichtet.