Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2007. Wer die Muslime integrieren will, sollte nicht allzusehr auf den Werten der Aufklärung beharren, meint Ian Buruma in der Welt: "Durch die dogmatische Verteidigung der Werte der Aufklärung werden es die Europäer sein, die genau diese Werte aushöhlen." Die taz fürchtet um den urbanen Charme des boomenden New York. Der Spiegel fürchtet um die möglicherweise nicht so schillernde Zukunft der New York Times in ihrem schillernden neuen Hochhaus von Renzo Piano. In der NZZ meditiert Sibylle Tönnies über das "Problem der humanitären Intervention". Die FAZ kritisiert Günter Oettinger.

Welt, 16.04.2007

Auf den Forumsseiten hofft der niederländisch-britische Schriftsteller Ian Buruma, dass Europa nach dem Ende (oftmals nahezu rassistischer) Multikulturalismus-Vorstellungen endlich anfangen kann, seine Muslime in eine Kultur der Aufklärung zu integrieren. "Ob es den Europäern passt oder nicht: Die Muslime sind ein Teil Europas. Es werden sich nicht allzu viele von ihrer Religion abwenden, und deshalb müssen die Europäer lernen, mit ihnen und dem Islam zu leben. Das wird natürlich leichter, wenn die Muslime erkennen, dass das System auch zu ihrem Vorteil arbeitet. Die liberale Demokratie ist mit dem Islam vereinbar. Selbst wenn alle europäischen Muslime Islamisten wären - was bei Weitem nicht der Fall ist -, könnten sie die Souveränität des Kontinents so wenig gefährden wie seine Gesetze und die Werte der Aufklärung... Angst vor dem Islam und den Immigranten könnte zu einer restriktiven Gesetzgebung führen. Durch die dogmatische Verteidigung der Werte der Aufklärung werden es die Europäer sein, die genau diese Werte aushöhlen." Hier unsere ausführliche Debatte zum Thema).

Im Feuilleton stellt Ulrich Baron nach einem Parforce-Ritt durch die Science-Fiction-Literatur fest, dass diese immer die Energie für unendlich gehalten hat. Im Zweifel lösten Ignoranz oder Atomkraft das Problem, die Raumschiffe anzutreiben. Tilman Krause glossiert in der Randspalte den Berliner Streit um die Treitschke-Straße, die die SPD nun nach dem Theologen Kurt Scharf benennen möchte. Leider stellte sich heraus, dass der ebenfalls in antisemitischen Kreisen verkehrte. Manuel Brug kann die Idee, Ägypten ein Museum of European Art zu schenken, nur unterstützen. Schon um dem Ägyptischen Museum ein Vorbild für ordentliche Konservierung und Besucherführung anheimzustellen. Im Interview mit Hanns-Georg Rodek spricht Wolfgang Petersen über den Director's Cut von "Troja". Matthias Heine berichtet, dass Barbara Frey 2009 Intendantin des Schauspielhaus Zürich wird.

Besprochen werden Roland Schimmelpfennigs in Bochum uraufgeführtes Stück "Besuch bei dem Vater", Armin Petras' Dramatisierung von Peter Hoegs "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" und die gemeinsame Tournee von Pat Metheny und Brad Mehldau.

TAZ, 16.04.2007

Im Feuilleton fürchtet Johannes Novy um den Charme des wieder einmal boomenden New York, in dem Investoren mithilfe berühmter Architekten letzte Inseln urbanen Lebens schleifen: "So soll im Zentrum Brooklyns zum Beispiel in den nächsten Jahren ein Komplex aus 16 bis zu 200 Meter hohen Wohn- und Bürohochhäusern und einer Basketballarena entstehen. Nicht unbedingt zur Freude der Anwohner. Das von Stararchitekt Frank Gehry im Auftrag des einflussreichen Bauherrn Bruce Ratner erarbeitete Projekt Atlantic Yards ignoriere die Qualitäten angrenzender Nachbarschaften und sei ohne angemessene Beteiligung der Anwohner durchgesetzt worden, klagt etwa Daniel Goldstein, der Sprecher der Bürgerinitiative 'Develop, don't destroy Brooklyn', die zu den entschiedensten Gegnern des größten Bauprojekts in der Geschichte New Yorks zählt." Novy empfiehlt auch ein Buch zum Thema.

Besprechungen widmen sich der Ausstellung "Gehirnschaukel mit Werken von Uwe Lausen in der Akademie der bildenden Künste Wien und Armin Petras' Inszenierung von "Fräulein Smilas Gespür für Schnee" am Hamburger Thalia Theater.

Die erste Seite der taz, die sich natürlich über Günther Oettinger mokiert, ist einen Lacher wert. Im Meinungsteil fordert der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen Volker Beck die Regierung auf, die Bildung eines muslimischen Dachverbands zu unterstützen. In der zweiten taz rühmt Philipp Gessler den Soziologen und Gründer des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Wilhelm Heitmeyer, als zukunftssicheren Vorzeigewissenschaftler.

Und dann Tom.

Spiegel Online, 16.04.2007

Die New York Times zieht morgen in ihren neuen Renzo-Piano-Tower (Bilder) um. Mark Pritzke berichtet aus New York: "Der Sprung vom stuckbestückten Redaktionspalazzo von 1913, in dessen Keller früher die Druckerpressen rumpelten, hinüber zu Pianos gleißendem Glasturm ist mehr als ein logistischer Kraftakt. Nur Tage vor der Times-Hauptversammlung - bei der dem Familienclan der Sulzbergers, der die Verlagsmehrheit hält, ein Shareholder-Aufstand droht - ist dies ein symbolischer Schritt in eine ungewisse Zukunft. Der 850 Millionen Dollar teure, total vernetzte 'Times Tower', ein realisiertes Pixel-Design, steht für den zwiespältigen Aufbruch in eine Ära, in der die Grenze zwischen Print und Internet verwischt und viele Zeitungen um ihre Existenz fürchten."

NZZ, 16.04.2007

Die Soziologin Sibylle Tönnies schreibt über das "Problem der humanitären Intervention" nach den Balkankriegen und dem Krieg im Irak. Das Völkerrecht sieht nach wie vor keine internationale Intervention zur Verhindeurng von Genoziden vor, aber es wurde für Bosnien, den Kosovo und später durch die Amerikaner für den Irak gebrochen: "Auf mittelbare Weise ... sind die Kriege des jetzigen Jahrhunderts (Afghanistan, Irak, Libanon) Weiterungen der humanitären Intervention auf dem Balkan. Durch einen moralisch begründeten Angriffskrieg wurde die Weltöffentlichkeit geistig auf die Auflösung des Völkerrechts vorbereitet." Angesichts anderer Völkermorde schildert Tönies die aktuelle Alternative der Weltgemeinschaft so: "rechtmäßig wegschauen oder rechtswidrig eine gefährliche Eskalation riskieren."

Max Nyffeler sichtet auf einer ganzen Seite neue Klassik-DVDs und bekämpft ein Vorurteil gegen das Genre: "Die bei der DVD oft beklagte 'visuelle Ablenkung' vom Hören, den Aspekt des Entertainments, gab es ... schon immer. Erst die im 19. Jahrhundert entstandene Ideologie des autonomen Kunstwerks, die in den abstrakten Lautsprecherkonzerten der Nachkriegsavantgarde ihre letzte Zuspitzung fand, hat das Musikhören radikal vom Sehen getrennt."

Besprochen werden eine Retrospektive des Malers Ernest Pignon-Ernest in Evian, Dimitre Dinevs Stück "Das Haus des Richters" am Wiener Akademietheater und Richard Strauss' "Ariadne auf Naxos" im Genfer Grand Theatre.

FR, 16.04.2007

Johann Kresnik ist so radikal wie eh und je, frohlockt Frauke Hartmann, nachdem sie Kresniks Bearbeitung des Kafka-Romans "Amerika" am Bremer Güterbahnhof besichtigt hat. "Natürlich kracht am Ende die Freiheitsstatue aus Ölfässern polternd zusammen. Aber beunruhigender sind die Nackten in den alten Wärterhäuschen am Bahnsteigrand, die von innen die Glaskästen mit bräunlich roter Farbe zuschmieren."

Weiteres: Christian Schlüter gratuliert dem Papst zum Achtzigsten. Ina Hartwig veranlasst dieser Festtag, die Tagebücher Brechts noch einmal zu lesen, der zur Kirche schon recht früh feststellte: "Gott ist sichtlich über dem Unternehmen."

Eine Besprechung pulverisiert Elmar Goerdens vor allem durch "Halbherzigkeit" glänzende Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs neuem Stück "Besuch bei dem Vater" in Bochum.

SZ, 16.04.2007

Der Stauffenberg-Biograf Peter Hoffmann hat in Moskau Henning von Tresckows Umsturzpläne gegen Hitler aus dem Jahr 1943 entdeckt und in den aktuellen Vierteljahresheften für Zeitgeschichte veröffentlicht. Christian Jostmann liest sie so gespannt, als wäre das Attentat morgen geplant. "Unter der unverfänglichen Überschrift 'Kalender. Massnahmen' hatte Tresckow die Machtübernahme bis ins Detail geplant. Zum Zeitpunkt 'X-24', also 24 Stunden vor dem Putsch, sollte es losgehen. Im Wehrkreis I (Ostpreußen) sollte eine Übung eingeleitet werden, um Truppen für die Sicherung von 'Mauerwald' und der Nazi-Hauptquartiere zu mobilisieren. Zudem war die Besetzung der Radiosender vorzubereiten. Im Original liest sich das etwa so: 'X-9 Orientierung des Ia für Führungsstab z. b. V. über Lage und Auftrag (Gen.Stabs.Offz.)'."

Der Rechtshistoriker Uwe Wesel rechnet sich für die wegen Inzest angeklagten Geschwister aus Sachsen gute Chancen vor dem Verfassungsgericht aus. "Hier konnte eine Familie nicht mehr beschädigt werden, steht also als Grundrecht das allgemeine Freiheitsrecht der Geschwister, zu dem auch die sexuelle Selbstbestimmung gehört, gegen den hier überflüssigen Schutz der Familie. Das dürfte für die beiden den Ausschlag geben, so dass ihre Verurteilung verfassungswidrig sein würde. Was sich auch dadurch nicht ändert, dass von den vier Kindern zwei behindert sind, selbst wenn es genetisch durch den Inzest verursacht sein sollte. Denn es ist nicht strafbar, wenn jemand zur Zeugung schreitet und damit rechnen muss, dass ein behindertes Kind zur Welt kommt."

Weitere Artikel: Christian Kortmann staunt über die viralen Marketingkünste der Band Nine Inch Nails, die für ihr Album "Year Zero" monatelang Spuren im Internet gelegt haben. Die Musiker des Teatro San Carlo in Neapel haben sich bei der Oper "Elegy for Young Lovers" von Hans Werner Henze zwei Pausen erkämpft, weiß Henning Klüver zu berichten. Klaus Brill hofft, dass die Renovierung der Villa Tugendhat in Brünn nach der Einigung zwischen der Familie Mies van der Rohes und der Stadt nun endlich beginnen kann. Josef Reichholf, Leiter der Abteilung Wirbeltiere an der Zoologischen Staatssammlung in München, freut sich über den Artenreichtum in den Städten.

Auf der Medienseite erfährt Christopher Schader aus dem Blog des Journalisten Fred Vogelstein, dass Microsoft eine Akte über ihn erstellte, die per Zufall in seinem Postfach landete

Besprochen werden die Uraufführungen von Roland Schimmelpfennigs Stück "Besuch bei dem Vater" und Christoph Nußbaumeders "Offene Türen", die erstmalige Aufführung von Felix Mendelssohn Bartholdys Oper "Der Onkel aus Boston" ("Ein Jugendwerk reift auch nach 200 Jahren nicht von selber", schimpft Helmut Mauro), Andrew Shapters und Joel Rasmussens Klage über den Untergang der Popmusik "Before Music Dies", Filme von Otto Preminger und Gottfried Reinhardt auf DVD und Bücher, darunter der Band "In einem stillen Land" mit Fotografien von Roger Melis sowie Christina Viraghs Roman (Leseprobe hier) "Im April" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 16.04.2007

Scharf kritisiert Frank Schirrmacher die Trauerrede des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günter Oettinger auf Hans Filbinger: "Das Neue und Berechnende an Oettingers Vorstoß - und in nichts zu vergleichen mit dem missverstandenen Jenninger - ist, dass er nun die Semantik des Leidens in die Funktionsträger des Verbrecherregimes verlagert - ein Verfahren, das ausgiebig von diesen selber angewandt wurde, noch niemals aber von einem Repräsentanten des Staates bei einem Staatsakt. (...) Das Einzige, was den wirklichen Gegnern des NS-Regimes blieb, war die Hoffnung, von der Nachwelt nicht mit den anderen verwechselt zu werden. Allein deshalb haben die Brüder Stauffenberg eine aussichtslose Tat unternommen. Zu zeigen, dass es auch anders ging - dafür sind sie über die Grenze gegangen. Oettinger hat alles getan, diese Grenze zu verwischen."

Weitere Artikel: In der Glosse informiert Wolfgang Sandner über die bei Benedikts XVI. achtzigstem Geburtstag gespielte Musik. Peter Stubbe, Leiter der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB), erläutert Prinzipien des sinnvollen Stadtumbaus. Andreas Kilb berichtet von einer Berliner Diskussion über Andres Veiels Stück/Film/Buch "Der Kick". Thomas Wagner gratuliert dem Bildhauer John Chamberlain, Patrick Bahners dem Staatsrechtler Claus Arndt zum achtzigsten Geburtstag. Auf der letzten Seite porträtiert Beate Tröger den Lyriker Steffen Popp. Mark Siemons hat die erfolgreiche Pekinger Punkband Joyside getroffen. Kerstin Holm informiert über russische Vorschläge zur Regelung von Beutekunstfragen.

Besprochen werden die von Elmar Goerden inszenierte Bochumer Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs neuem Stück "Besuch bei dem Vater", Armin Petras' Uraufführung einer Theaterversion von Peter Hoegs "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" am Hamburger Thalia-Theater, die im Vitra Design Museum in Weil am Rhein gezeigte Ausstellung "Zerstörung der Gemütlichkeit?" über Einrichtungs-Visionen des 20. Jahrhunderts, Leipziger Shakespeare-Choreografien von Bailey, Chaix und Goecke und Bücher, darunter Giles Fodens Roman "Die letzte Stadt von Afrika" und Mike Davis' aufrüttelnder Darstellung "Planet der Slums" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).