Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.03.2007. Die NZZ erklärt, unter welchen Umständen es 14.352 Euro kostet, wenn man eine Pissoirschüssel mit dem Hammer traktiert. In der Welt sieht Viktor Jerofejew das heutige Russland als so frei an, dass es schon surrealistisch ist. Die taz entschlüsselt die Dialektik der Macht in Tschetschenien. Die FR möchte das schwarze Quadrat in der Kunst nicht ernst nehmen. Die FAZ konstatiert: Es ist nach wie vor ziemlich schwer, schwul zu sein. Die Berliner Zeitung erzählt, wie Klaus Wowereit gute Miene zu Wolf Biermann machte.

TAZ, 27.03.2007

Für die zweite taz ist Klaus-Helge Donath nach Tschetschenien gereist und berichtet über die verwickelten Machtverhältnisse um den von Russland gestützten Herrscher Ramsan Kadyrow: "Der Illusion, ein tschetschenischer Überläufer wie Ramsan mutiere zu einem russischen Patrioten, der das Hohelied der Zentralmacht anstimmt, gibt sich selbst der Kreml nicht hin. Der Tschetschene spielt mit, solange es für ihn und seinen Clan von Vorteil ist. Die rigorose Sippenpolitik, die von den Futtertrögen fernhält, wer nicht zum Clan gehört, wirft neue Gräben auf. Kadyrow amnestierte ehemalige Separatisten und nahm sie in die eigenen Sicherheitsstrukturen auf. Jene Tschetschenen, die traditionell zu Moskau hielten, gerieten unterdessen ins Abseits. Heute stehen sie in Opposition zum herrschenden Clan und damit ungewollt auch zum Kreml, der ihn stützt."

Die Entlassung Brigitte Mohnhaupts katapultiert Detlef Kuhlbrodt zurück ins Jahr 1983. Von der Diagonale, dem Festival des österreichischen Films, berichtet Dominik Kamalzadeh. Christian Broecking informiert über das Symposion "Unforeseen" für improvisierte Musik.

In der zweiten taz wundert sich Jan Feddersen über den plötzlich gar nicht mehr so öffentlichkeitsscheuen Joachim Sauer, First Gentleman des Landes. In seiner Lauf-Kolumne schreibt Dieter Baumann über die Notwendigkeit einer "körperlichen Grundausbildung". "MRE" freut sich über Potsdams Wettbewerbsfähigkeit.

Besprochen werden in einem Aufwasch die neuen elektronischen Alben von Gudrun Gut, MIA und Kate Wax, außerdem Martin Wuttkes Inszenierung von Rolf Dieter Brinkmanns Nachlass-Texten "Erkundungen des Gefühls...".

Und hier noch Tom.

Welt, 27.03.2007

Der Schriftsteller Viktor Jerofejew wehrt sich dagegen, dass der Westen Russland nur als ein "großes ungeputztes Zimmer mit schmutzigen Fenstern und Kakerlaken im gemeinsamen Haus Europa" betrachtet: "Was immer der Westen über den Zustand russischer Freiheiten sagt, Russland ist in den letzten fünfzehn Jahren trotz aller inneren Schwankungen bei weitem freier geworden als es zu jedem anderen Zeitpunkt seiner Geschichte gewesen ist. Die Freiheit vor allem im Privatleben hat nie gekannte Ausmaße erreicht und ist kaum wieder zurückzunehmen. Konsumgesellschaft und Philosophie des Genusses sind ebenso Realität geworden, auch für diejenigen, die beides ablehnen. Das Bewusstsein des heutigen Russen wird immer zerrissener, surrealistischer. Im Grunde ist das genau das Bild des realen und nicht des imaginären Russland. Doch aus dem widersprüchlichen Bild unseres Landes pickt sich der Westen in der Hauptsache das heraus, was ihm als skandalös und wild erscheint."

Weiteres: Matthias Heine erinnert zum heutigen Welttheatertag an andere wenig beachtete Gedenktermine. Am vorigen Freitag wurde etwa der Tag des Systemadministrators ignoriert. Ulrich Weinzierl berichtet von den Rauriser Literaturtagen. Klaus Geitel schreibt zum Achtzigsten des großen Cellisten Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch.

Besprochen werden Simone Youngs Aufführung von Benjamin Brittens "Billy Budd" an der Hamburger Staatsoper, Konzerte von Nine Inch Nails, das neue Album des Pariser Duo Air "Pocket Symphony".

NZZ, 27.03.2007

Uwe Justus Wenzel liest Amartya Sens Essay "Die Identitätsfalle - Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt" (Leseprobe) und paraphrasiert sein Argument gegen einen gutgemeinten "Dialog der Religionen": "Es geht nach des Autors Ansicht .. nicht an, in den Imamen oder Mullahs - und seien es vernünftige Imame oder milde Mullahs - die natürlichen Repräsentanten der in westlichen Ländern lebenden Menschen mit muslimischem Hintergrund zu sehen. Die fatale Konsequenz einer Politik, die dies dennoch tue, sei, dass religiöse Autoritäten über Gebühr gestärkt, dass deren Äußerungen 'aufgebauscht' und dass nichtreligiöse - potenziell demokratische oder liberale - Institutionen der 'anderen Kultur' geschwächt würden."

Marc Zitzmann geht auf mehrere Pariser Gerichtsverhandlungen ein, bei denen zentrale Fragen der Kunst berührt wurden, unter anderem auf eine Aktion des Postdadaisten Pierre Pinoncely, der eine der bekannten Urinschüsseln Duchamps mit einem Hammer traktierte und meinte, damit Duchamps Werk erst vollendet zu haben: "Die Argumentation tönt leicht delirant, zeitigte aber eine Debatte, die wie ein byzantinischer Disput über die Transsubstantiation anmutete. Was, so lautete die Frage, war genau Duchamps 'Werk': die Pissoirschüssel in ihrer materiellen Gestalt oder bloß die Idee, ein Industrieprodukt als 'Kunst' zu präsentieren? In ersterem Fall hätte Pinoncelli das 'Werk' tatsächlich beschädigt, in letzterem nicht." Pinoncely wurde in letzter Instanz zur Zahlung der Restaurationskosten in Höhe von 14.352 Euro verurteilt.

Besprochen werden die Ausstellung des Kupferstechers und Malers William Hogarth in London, Mozart-Konzerte mit Nikolaus Harnoncourt beim Lucerne Festival, Rossinis "Italiana in Algeri" im Theater Basel und Bücher, darunter Pierre Bayards bisher nur auf franzöischer erschienener Essay "Comment parler des livres que l'on n'a pas lus?" (mehr hier).

FR, 27.03.2007

Das Schwarze Quadrat ist wohl mehr Logo als Revolution, berichtet Elke Buhr, nachdem sie die Hommage an Malewitsch in der Hamburger Kunsthalle besichtigt hat. "So verschieden das Quadrat als Form und Idee hier jeweils interpretiert wird: Zum Erbe Malewitschs gehört offensichtlich ein gewisses Pathos. Ob Beckett oder die deutschen Künstler der Gruppe Zero, ob Ad Reinhardt oder Donald Judd: Die - übrigens überwiegend männliche - Avantgarde nimmt sich ernst, gelegentlich bis zur Lächerlichkeit. Diesen Punkt traf die Künstlergruppe Art & Language 1967/68, als sie ironisch auf ein schwarzes Gemälde schrieb, der Inhalt dieses Gemäldes sei unsichtbar und einzig dem Künstler bekannt. Und natürlich schlagen auch Sigmar Polke mit seinem wunderen Bild 'Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!' und Rosemarie Trockel mit einem gestrickten, bestrickenden 'Cogito Ergo Sum' über schwarzem Quadrat in diese Kerbe."

Weiteres: Judith von Sternburg enthüllt in einer Times mager, dass die BBC Weihnachts- wie Ostergottesdienst offenbar am gleichen Tag und schon im November aufgenommen hat. Mirja Rosenau kann sich den Vorwürfen Heiner Bastians an den Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, Peter-Klaus Schuster, größtenteils anschließen.

Eine Besprechung widmet sich der Uraufführung von Martin Heckmanns' Stück "Kommt ein Mann zur Welt" in der Regie von Rafael Sanchez am Düsseldorfer Schauspielhaus.

FAZ, 27.03.2007

Wie weit ist es her mit der Freiheit der Schwulen in den westlichen Gesellschaften, fragt Dieter Bartetzko. Einerseits gibt es allerorten Schwule im Fernsehen, in der Kunst. Andererseits: "Wer kann garantieren, dass... beim Outing eines Spielers der Fußballnationalelf für den Betroffenen das Sommermärchen nicht zum Alptraum würde?... Der Mörtel aller institutionellen Eckpfeiler unserer Gesellschaft ist die Heterosexualität - und die derzeitige große Freiheit für Schwule ist wie gewohnt überwiegend auf die Bereiche der Kunst und der Intellektualität beschränkt."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus staunt nicht schlecht, dass der Basketball-Star Dirk Nowitzki von einem Gericht wegen eines Werbefilms als Künstler betrachtet wird - und die werbetreibende Bank darum Abgaben an die Künstlersozialkasse zahlen muss. Matthias Hannemann war dabei, als Jacques Santer in Bonn zu Historikern sprach. Eleonore Büning gratuliert dem Cellisten Mstislaw Rostropowitsch zum achtzigsten Geburtstag. Zum Tod des Historikers Richard Trexler schreibt Klaus Schreiner. Auf der letzten Seite stellt Gina Thomas Albert Speers jüngst aufgefundene Briefe an Helene Jeanty Raven vor. Timo Frasch porträtiert den Liedermacher Hannes Wader. Im "Update" beschwert sich Alexandra Kemmerer nach einem Berliner Vespergottesdienst, dass Bischof Wolfgang Huber Paulus' Worte im Korintherbrief theologisch sorglos metaphorisiert und säkularisiert hat.

Besprochen werden eine große Beckett-Ausstellung im Centre Pompidou, Dions neues Album "Bronx in Blue", die Fortsetzung von Simone Youngs Britten-Zyklus an der Hamburger Staatsoper mit "Billy Budd", eine Ausstellung der chinesischen "Schätze der Liao" im Ostasiatischen Museum in Köln und ein Buch, Dagmar Leupolds Roman "Grüner Engel, blaues Land" (dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 27.03.2007

Jan Thomsen beschreibt recht anschaulich, wie sich Klaus Wowereit, der zunächst strikt gegen die Berliner Ehrenbürgerwürde für Wolf Biermann war, bei der gestrigen Verleihung aus der Affäre zog und gegen Biermanns Vorwurf, die Koalition der SPD mit der PDS sei verbrecherisch, verwahrte. Und er schildert Biermanns Replik: "Biermann lässt es nicht zu friedlich werden. 'Ich finde es verbrecherisch, dass Sie sich mit den Erben der DDR-Nomenklatura so tief eingelassen haben. Das tut mir weh', sagt er. Wenn er es irgendwann besser wisse, werde er sich korrigieren, sagt er noch. Und dann dankt er Wowereit und der SPD dafür, dass sie ihre Meinung über ihn und die Ehrenbürgerwürde noch geändert haben. Die PDS sei 'als Kader krampfiger Geschlossenheit' dagegen gewesen, die SPD dagegen habe eine Kursänderung bei offenem Sturm vollzogen. 'Eine Kehrtwende in den sicheren Hafen ist ein Menschenrecht', sagt Biermann und bekommt für seine Häme etwas Applaus."

SZ, 27.03.2007

Christoph Schwennicke unterhält sich im Medienteil mit Holger Lutz, Deutschlandchef von Saatchi & Saatchi, über die Pergamon-Affäre. Das Bundespresseamt musste einen Werbeauftrag an die eigens für die Ausschreibung von Scholz&Friends gegründete Agentur Pergamon zurückziehen. Die Mitbewerber hatten sich erfolgreich wegen Unregelmäßigkeiten in der Vergabe beschwert. "Das muss man sich doch mal auf der Zunge zergehen lassen: Es kann doch nicht sein, dass sich 25 Agenturen bewerben, das BPA lässt nach den eigenen Kriterien acht zu, und nur zwei Zulassungen halten hinterher dem Test vor der Vergabekammer stand. Da stimmt doch etwas nicht." Auch Saatchi&Saatchis Bewerbung wurde beanstandet.

Das Feuilleton: Eine globale "Superverfassung" ist nicht in Sicht, meint Fabian Steinhauer (mehr) zur Diskussion um die EU-Verfassung. Der juristische Trend gehe zur Zeit eher in Richtung von fachbezogenen, kleinteiligen Gesetzestexten. Die Direktorin des Altonaer Museums, Bärbel Hedinger, hat wegen der engen zeitlichen Vorgaben der gerade laufenden Hamburger Museumsreform nun gekündigt, wie Till Briegleb meldet. Christoph Koch wundert sich über die relativ stilvolle Echo-Verleihung. Hermann Unterstöger amüsiert sich in einer Zwischenzeit über Stilblüten und Neuwörter wie "Wuppen". Egbert Tholl unterhält sich mit Jossi Wieler über die RAF-Bezüge in seiner Münchner Inszenierung von Elfriede Jelineks "Ulrike Maria Stuart". Harald Eggebrecht gratuliert dem Cellisten und Dirigenten Mstislaw Rostropowitsch zum Achtigsten. Tobias Moorstedt kommentiert die erste Ausgabe der You-Tube-Oscars.

Besprochen werden Martin Wuttkes Inszenierung von Rolf Dieter Brinkmanns "Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand" unter dem Titel "Brinkmann" in der Kölner Schlosserei und Rafael Sanchez' Aufführung von Martin Heckmanns "Kommt ein Mann zur Welt" im Düsseldorfer Schauspielhaus, Joel Schumachers Thriller "Number 23", und Bücher, darunter Jonathan Franzens Reflexion "die Unruhezone", Johann Wolfgang von Goethes "Novelle" in der Hörspielfassung von Max Ophüls sowie Eric Jagers Mittelalterroman "Auf Ehre und Tod" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).