Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2006. Im Karikaturenstreit melden sich viele beschwichtigende Stimmen zu Wort. Die NZZ fragt, welche Freiheit verlieren wir, wenn wir auf unsere Freiheit verzichten? In der taz rät der Islamwissenschaftler Michael Kiefer: "einfach schweigen." Nur Sonia Mikich ruft: "Ich bin beleidigt." In der Welt will Tariq Ramadan Vernunft und Religion in Einklang bringen. Weiteres: In der SZ versetzt uns Orhan Pamuk in Hüzün. Und George Taboris "Godot"-Inszenierung findet widersprüchliche Aufnahme.

TAZ, 06.02.2006

Im Tagesthema über den Karikaturenstreit wird vor allem der Westen kritisiert. Die Autorin Dilek Zaptcioglu schreibt: "Vorsätzlich und dummdreist wird dieser Krieg herbeigeschrieben und herbeigezeichnet. Wer sich nämlich von der dänischen Offensive am härtesten betroffen fühlt, sind die gemäßigten Muslime, die schon seit Generationen 'verwestlicht' leben und die sich an Frieden und die Ideale der Französischen Revolution halten." Auf Seite 1 möchte der Islamwissenschaftler Michael Kiefer beschwichtigen: "Mein Vorschlag: drei Schritte zurück, tief Luft holen und drei Tage nicht provozieren und eskalieren, sondern einfach schweigen." Auf der Meinungsseite gibt der Fernsehmann Friedrich Küppersbusch zu bedenken: "Der wohlfeile Gratismut mancher Nachdrucker ödet mich an." Und nebenbei rät Bahman Nirumand von Sanktionen gegen den Iran ab: "Die Chance zu einem Ausweg aus der Krise ist nur dann gegeben, wenn es gelingt, mit Hilfe von moderaten Kräften im Iran Radikale wie Ahmadinedschad zu isolieren. Das wäre die Aufgabe einer klugen Diplomatie."

Eine andere Stimme bringt nur die tazzwei. Die Fernsehmoderatorin Sonia Mikich schreibt: "Ich bin beleidigt. Fanatiker sprengen die Buddhas von Bamiyan in die Luft, großartige Kulturdenkmäler. Aber Kunst drückt für mich universelle Schönheit und Unschuld aus, sie ist ein Wert, der die Welt besser und friedlicher macht, so ist nun mal die Tradition, in der ich groß geworden bin. Ich verlange also, dass sich die Hamas, der Sprecher der französischen Muslime, die Leitung der Al-Azhar-Universität sich bei mir entschuldigen. Andernfalls werde ich leider nie meinen Urlaub am Tadsch Mahal verbringen, zum Boykott palästinensischen Obstes aufrufen und die Botschaften von Tunesien, Katar und Bangladesch anzünden."

Besprochen werden eine Ausstellung der Holzschnitte des chinesischen Künstlers Fang Lijun im Berliner Kupferstichkabinett, Neele Leana Vollmars Debütfilm "Urlaub vom Leben" und zwei neu edierte Bände mit Schriften Roland Barthes'.

Und Tom.

NZZ, 06.02.2006

"Es geht in dieser Auseinandersetzung nicht um kulturelle Freiheit in einem Land, sondern um kulturelle Macht auf dem Erdball; um die Macht, ganz konkrete Tabus aufrechtzuerhalten oder sie abzubauen", kommentiert der Historiker Thomas Maissen den Karikaturenstreit und rät zu mehr Toleranz: "Toleranz heißt also nicht bedingungslose Duldsamkeit. Es gibt nicht nur Rechtsnormen, es gibt auch kulturelle Werte, die für uns Abendländer unverhandelbar sind. Doch wenn auf dieser Welt statt autistischer Monologe ein interkultureller Dialog geführt werden soll, muss dieser unverhandelbare Wertekatalog möglichst eng definiert werden. Es darf sich nicht jede, zumal jede selbst verursachte Komplikation zu einer Staatsaffäre zu einem Prinzipienstreit auswachsen. Was verlieren wir an Freiheit, an Lebensqualität, an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, wenn wir freiwillig, respektvoll oder tolerant darauf verzichten, den Propheten einer anderen Religion zu karikieren oder überhaupt darzustellen? Nichts."

Jonathan Fischer besucht das weiterhin von Verwüstungen gezeichnete New Orleans: "Noch immer liegen auf dem Mittelstreifen der Canal Street Autowracks mit blinden Scheiben und gestrandete Boote, noch immer kriechen Räumtrupps mit Atemmasken in verlassenen Häusern durch den stinkenden Moder. Und doch scheint die Anziehungskraft des 'Big Easy' ungebrochen. Die Mietpreise klettern enorm. An der Bourbon Street ertönt - halb leere Läden hin oder her - schon wieder eine schrille Kakophonie aus Cajun, Blues und Rock'n'Roll."

Weiteres: Martin Meyer schreibt zum Tod des Historikers Reinhart Koselleck. "ujw." meldet den Tod der amerikanischen Feministin Betty Friedan. Roman Bucheli besichtigt das vom Land Baden-Württemberg betriebene Künstler-Refugium Schloss Solitude bei Stuttgart. Einen schwächelnden Danton hat Martin Krumbholz im Bochumer Schauspielhaus gesehen: "Frappierenderweise ist man regelrecht froh, wenn Ernst Stötzner in der Schurkenrolle des Robespierre auftritt und einen Schub Geistesschärfe in die weite Halle bringt."

Welt, 06.02.2006

Auf den Forumssseiten schreibt der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan zum Karikaturen-Streit. Von einem Kampf der Kulturen will er nichts wissen: "Diese Affäre steht nicht für eine Konfrontation der Prinzipien der Aufklärung mit denen der Religion. Nein, durchaus nicht. Was im Herzen dieser Geschichte auf dem Spiel steht, ist, inwieweit die einen und die anderen frei und rational (gläubig oder atheistisch) sein können und - zugleich - vernünftig. Denn der Riss, der sich aufzutun scheint, verläuft nicht zwischen dem Westen und dem Islam, sondern zwischen denen, die - in beiden Universen - im Namen einer Religion und/oder einer vernünftigen Vernunft maßvoll erklären können, wer sie sind und für was sie stehen, und jenen, die von exklusiven Wahrheiten, blinden Leidenschaften, Vorurteilen und hastigen Schlussfolgerungen getrieben werden."

Außerdem hat die Redaktion verschiedene Zeichner zum Streit befragt. F.W. Bernstein schlägt vor, in die zweite Runde zu gehen: "In glücklichen und befriedeten Zeiten wäre doch ein Revanche-Foul angebracht: in der Morgenland-Post von, sagen wir Katar, oder dem Saudi-Arabischen Generalanzeiger werden Anti-Dänemark-Cartoons veröffentlicht. Eine Jury von Satirikern, Politikern, Priestern entscheidet den Wettbewerb. Der Sieger (Höchstpunktzahl in den drei G-Punkten - Graphik, Gritik und Gomik) kommt eine Runde weiter und darf gegen den Favoriten USA antreten."

Uwe Wittstock erinnert an die einschlägigen Blasphemie-Prozesse in Deutschland, etwa gegen George Grosz, Kurt Tucholsky, Kurt Weill oder die Titanic. Cosima Lutz berichtet von einer Konferenz im Potsdamer Einstein-Forum zum Neid als menschlicher Grundkomponente. Sven Felix Kellerhoff schreibt zum Tod des Historikers Reinhart Koselleck. Josef Engels unterhält sich mit dem Pink-Floyd-Schlagzeuger Nick Mason über die Sechziger, Eskapismus und "gehirnverbrannte Gimmicks".

Berliner Zeitung, 06.02.2006

Auch wenn in George Taboris Aufführung von Samuel Becketts "Warten auf Godot" im Berliner Ensemble die Dialoge holprig bleiben: Ulrich Seidler lässt auf den 91-jährigen Regisseur nichts kommen. "Links von der Bühne, neben der Souffleuse, die später auch die Schneemaschine bedient, sitzt der 91-jährige Regisseur George Tabori in seinem rot-samtenen Ohrensessel und verweigert jegliche Antwort. Er legt die Finger aneinander, nippt ab und zu auf das Würdevollste an seinem Teepott und beobachtet interessiert die Schauspieler bei ihrem Tun; so, als sähe er sie heute zum ersten Mal. Er lauscht, denkt und hofft Becketts Worten hinterher, als wären sie ihm völlig neu. Und der Zuschauer - dem Regisseur beim Zusehen zusehend - meint das Geschehen durch die Augen Taboris wahrzunehmen. Mit dessen naivem Blick sind nur die besten Regisseure ausgestattet."

Spiegel Online, 06.02.2006

Claus-Christian Malzahn analysiert die Demonstrationen in den islamischen Ländern: "Es gilt der Grundsatz: Je größer der anti-westliche Protest, desto sicherer sitzt der Despot in seinem Sessel."

FR, 06.02.2006

In times mager nimmt Harry Nutt den Karikaturenstreit zum Anlass, um aus systemtheoretischer Sicht über die Geste der Entschuldigung zu spekulieren. Elke Buhr schreibt zum Tod der Feministin Betty Friedan. Harry Nutt schreibt zum Tod von Reinhart Koselleck.

Besprochen werden George Taboris "Godot"-Inszenierung in Berlin ("Der Tod, das Sterben, das Alter, sie haben diese Aufführung fest im Würgegriff. Es ist wirklich deprimierend. Es ist grausam, alt zu werden, es gibt keinen Trost, man kann auch kein gutes Theater mehr machen," schreibt ein völlig deprimierter Peter Michalzik), Mozarts "Titus" in Düsseldorf und regionale Kulturereignisse.

SZ, 06.02.2006

Orhan Pamuk hielt gestern eine "Berliner Lektion" und erklärte den Berlinern, was "Hüzün" ist - ein arabisch-türkischer Begriff für Melancholie, die sich in Istanbul unter anderem aus dem Verlust des Osmanischen Reichs speist. Die SZ dokumentiert die Rede: "Hüzün ist in Istanbul zentraler Bestandteil des Musikempfindens, ist Grundelement der Poesie, Lebensanschauung, Seelenzustand, kurzum: Ausdruck dessen, was die Stadt eigentlich ausmacht. Da Hüzün all diese Eigenschaften auf sich vereinigt, ist Istanbul stolz auf seine Melancholie, oder tut zumindest so. Und gewinnt somit Hüzün auch positive Seiten ab."

Weitere Artikel: Ulrich Raulff schreibt den Nachruf auf den Historiker Reinhart Koselleck. Johannes Willms liefert Nachrichten aus Paris, darunter die von der Wiedereröffnung des Palais de Tokyo als Museum für moderne Kunst. Marcus Jauer berichtet über den neuesten Stand bei den Überlebensbemühungen der Akademie der Künste, die sich am Wochenende eine neue Satzung gab. Willi Winkler schreibt zum Tod der amerikanischen Feministin Betty Friedan.

Eine ganze Seite ist dem Abriss des Palastes der Republik gewidmet. Marcus Jauer erklärt die behutsame Methode, die dennoch zum erwünschten radikalen Ergebnis führt: "Der Palast der Republik wird genauso abgebaut, wie er einmal aufgebaut wurde, nur jetzt eben rückwärts." Holger Liebs meditiert über die Berliner Liebe zum Abreißen. Und Gerd Matzig berichtet über neue Bautechniken, die den Berliner darum gut gefallen müssten: "In Japan werden auch große Bürohochhäuser in manchen Fällen nur noch auf eine Lebensdauer von etwa sieben Jahren hin entworfen und errichtet."

Besprochen werden eine große Vivienne-Westwood-Retro in Düsseldorf, George Taboris Inszenierung von Becketts "Warten auf Godot" am Berliner Ensemble und Brittens "Sommernachtstraum" in Bremen.

Zum Karikaturenstreit schweigt das Feuilleton weiterhin. Stefan Kornelius beschreibt auf der Meinungsseite die Stimmung der letzten Tage: "Das trotz aller Globalisierungszwänge vorherrschende Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit schwindet schlagartig angesichts des schier zügellosen islamischen Furors, der sich in diesen Tagen entlädt. Samuel Huntington wird endgültig zum Propheten des neuen Zeitalters erhoben, nachdem seine Weissagung vom Zusammenprall der Kulturen bisher nur ein bisschen Angst und umso mehr Skepsis ausgelöst haben."

FAZ, 06.02.2006

Michael Jeismann würdigt den verstorbenen Historiker Reinhart Koselleck. Andreas Kilb erlebt im Berliner Renaissance-Theater, wie der türkische Autor Orhan Pamuk über sein neues Buch und damit seine Kindheit in Istanbul sprach. Spanien-Korrespondent Paul Ingendaay meditiert in der Leitglosse über Machos und Senoritas. Ingeborg Harms schreibt zum Tod der amerikanischen Frauenrechtlerin Betty Friedan (hier der Eintrag in die National Women Hall of Fame).

Die Medienseite: Der staatliche russische Fernsehkanal RTR strahlt erfolgreich Alexander Solschenizyns Sonderlagerroman "Im ersten Kreis der Hölle" aus, berichtet Kerstin Holm. Allerdings sähen die Lageruniformen zu neu und die Gefangenen zu wohlgenährt aus. Christoph Erhardt hat auf einer Berliner Tagung zu Islamismus und Journalismus erfahren, dass die Kollegen Akteure in einem Geschehen sind, dass sie selbst nicht überblicken.

Auf der letzten Seite fordert Christian Schwägerl die Avantgarde dazu auf, vom Berliner Stadtteil Lichtenberg Besitz zu ergreifen. Lisa Zeitz porträtiert Katelijne de Backer, die Direktorin der New Yorker Kunstmesse Armory Show. Adolf Muschgs Rücktritt ist von der Berliner Akademie der Künste nun anerkannt worden, meldet Heinrich Wefing und beklagt sich noch einmal über das Desinteresse der Mitglieder.

Besprochen werden die Ausstellung "Urban Islam - Zwischen Handy und Koran" im Baseler Museum der Kulturen, George Taboris "unkompliziert zirzensische" Inszenierung von Samuel Becketts "Warten auf Godot" im Berliner Ensemble, ein Soloauftritt der Sängerin Laura Veirs in New York, ein Frankfurter Konzert des NDR-Bigband-Orchesters und des "Listening Ensembles" von Geir Lysne, Neele Leana Vollmars Film "Urlaub vom Leben", und Bücher, darunter Dieter Zimmers Gedanken zur "Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit" sowie Harlold James' Darstellung von "Familienunternehmen in Europa" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).