Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2004. Die FAZ erwischte Richard Rorty beim Agieren unter seinem Niveau. Der FR graut vor dem sowjetischen Kitsch im heutigen modebewussten Russland. Die taz sinniert über die Kindheit Klaus Theweleits, Michael Rutschkys und Botho Strauß'. Die SZ bewundert die Kriminalaffären einer schwedischen Sekte, bei der sich einem die Hände um den Hals der Seele legen, und zwar buchstäblich. In der NZZ zeigt sich der spanische Autor Enrique Vila-Matas beglückt über die Schweizer Art der Alka-Seltzer-Austeilung.

FR, 05.07.2004

Russland wird überschwemmt von sowjetischem Kitsch, beobachtet Anson Rabinach. "Im beliebten 'Cafe Idiot' in St. Peterburg steht eine Büste Lenins, drapiert mit einem mutig gepunkteten Schlips. Trendige Lokale mit eingängigen Namen wie 'Propaganda', 'CCCP', 'Sowjetischer Kitsch' und sogar 'Lenins Paarungsruf' machen gute Geschäfte." Die Vergangenheit hält Rabinach damit aber noch lange nicht für verarbeitet. Der Kitsch "schafft eine symbolische Brücke zum alten Regime, die es erlaubt, die beunruhigenden Aspekte der Kontinuität zwischen dem Sowjetsystem und dem heutigen Russland zu ignorieren."

"Wer hätte fast regungslos eine ganze Szene ja einen ganzen Film dominieren können?" Marlon Brando natürlich, dessen Bedeutung Daniel Kothenschulte noch einmal würdigt, unterstützt von einer Bildergalerie. Peter Michalzik berichtet, dass es schlimm steht um Wolfgang Wagner, Christoph Schlingensief und den Parsifal. In drei Wochen ist Premiere, und Schlingensief hat sich krank gemeldet. In einem Interview-Fragment bezeichnet er Bayreuth als "Kraftfeld der Angst". Gemeldet wird, dass der Direktor der Stiftung Topografie des Terrors die Bauherrschaft für das geplante Museum fordert. Rudolf Walther erklärt, wie eine der Schweizer Alpenfestungen als Hotel genutzt wird. Jürgen Roth hadert in Times mager mit dem Erfinder der Vorgruppe bei Konzerten.

Auf der Medienseite verkündet Wilfried Urbe Zuschauerrekorde bei CNN und Euronews.

Besprochen werden ausschließlich Bücher, und zwar Amira Hass' neuer Reportagenband "Bericht aus Ramallah" ("ein einzigartiges Dokument", meint Hans-Jürgen Heinrichs), neu aufgelegte Artikel von Harry Pross ("Als Leser kann man nur staunen, wie frisch diese Prosa geblieben ist", frohlockt Rudolf Walther) sowie Inge Deutschkrons "Offene Antworten", eine Auswahl der Kinderbriefe, die sie als Reaktion auf das aus ihren Erinnerungen entstandene Theaterstück bekommt.

TAZ, 05.07.2004

Dirk Knipphals sinniert über Klaus Theweleit, Michael Rutschky und Botho Strauß, die sich in ihren neuen Büchern alle auf ihre Kindheit beziehen. Theweleit etwa genoss es, wenn das Radio die Eltern verstummen ließ. "Nachrichten, das war ein bisschen wie Weihnachten, und am Sonntag, mit den Fußballnachrichten hintendran, ein besonderes, ein verlängertes kleines Weihnachten."

Weitere Artikel: In der tazzwei schreibt Cristina Nord den Nachruf auf den widersprüchlichen Wilden Marlon Brando. Gunnar Leue wettert über die nicht abflauende Statistikmanie der Öffentlichkeit. Niklaus Hablützel glaubt, dass Bertelsmann auch Billigversionen seiner CDs dem Licht im sehr dunklen Musikgeschäft nicht näher bringen werden. Bettina Gaus lobt Anke Engelke dafür, streckenweise menschenwürdig mit Daniel Küblböck umgegangen zu sein.

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung mit den todesaffinen Arbeiten der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main und William Kwok Wai Luns genreübergreifendem Spielfilm "Darkness Bride".

Schließlich Tom.

SZ, 05.07.2004

Thomas Steinfeld erzählt eine Kriminalgeschichte aus der schwedischen Provinz. In dem Dorf Knutby hat sich nicht nur eine protestantische Sekte niedergelassen, sondern auch Mord, Untreue, Feigheit und Lüge. Alles im Namen Gottes, schaudert Steinfeld angesichts der Untaten wonnevoll, aber auch ein wenig beeindruckt. "Einen solchermaßen körperlichen Eifer bringen die großen, alten Kirchen schon lange nicht mehr hervor: eine elementare pfingstliche Gier, auch die Sinnlichkeit für fromme Zwecke zu erwecken, den Gläubigen ganz zu ergreifen, seinen Leib zu erfassen und die Hände buchstäblich um den Hals seiner Seele zu legen."

Siggi Weidemann beobachtet fasziniert, wie Holland sich gerade neu definiert, unter anderem in einem Sonderheft der holländischen Literaturzeitschrift De Gids. Die alten Prädikate gelten nicht mehr. "Vielmehr herrscht eine doppelte Moral als Lebensprinzip einer Handelsgesellschaft, in der sich die Liberalität des Kaufmanns und die Bigotterie des Gutherzigen vermischt haben. Niederländer seien reinlich, friedfertig, tolerant, emanzipiert, ehrlich oder individualistisch, all diese Zuschreibungen werden als Mythen in De Gids entlarvt."

Weitere Artikel: Fritz Göttler beschreibt die Vorreiterrolle Marlon Brandos in der Dekonstruktion des amerikanischen Kinos. Reinhard J. Brembeck schildert den Streit zwischen Christoph Schlingensief und Wolfgang Wagner, der nicht nur die Parsifalpremiere in drei Wochen, sondern auch die Modernisierung Bayreuths insgesamt in Frage stellt. "jby" hält nicht viel von Christoph Stölzls Idee einer jährlich wechselnden nationalen Kulturhauptstadt und meldet außerdem, dass die Stiftung zur Topografie des Terrors nun die Bauherrschaft fordert. Stefan Koldehoff informiert, dass Elizabeth Taylors van Gogh Beutekunst sein könnte.

Wolfgang Jean Stock fürchtet, die Deutschen haben den Anschluss an die moderne Architektur Mitteleuropas verloren. "dip" stellt den neuen Kurs für das Düsseldorfer Stadtmuseum vor: "prozessual, partizipativ und diskursiv". Thomas Thieringer glaubt, dass das Opernfestival auf Gut Immling mit einigem Glück zu einem deutschen Glyndebourne werden könnte. Angela Kückritz erzählt anlässlich des Pekinger Weltkongresses noch einmal die Geschichte der kunstdemokratischen Lomo-Kamera. Auf der Medienseite berichtet Klaus Ott über die Auseinandersetzungen bezüglich der Bilderhoheit in der Bundesliga.

Besprochen werden die erste größere deutsche Einzelausstellung mit Werken des Brasilianers Cildo Meireles im Hamburger Kunstverein, ansonsten nur Bücher, darunter Norman Maneas in "düsterer Atmosphäre" gehaltene Selbsterkundung "Die Rückkehr des Hooligan", Peter Hennings Roman "Linda und die Flugzeuge" sowie Siegfried Lamneks und Marie-Theres Tinnefelds Studie über "Privatheit, Garten und politische Kultur" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 05.07.2004

Der spanische Autor Enrique Vila-Matas hat von seinem Besuch in der Schweiz einige bleibende Eindrücke mitgenommen, wie zum Beispiel, "dass es in der Schweiz (vielleicht dank ihren entspannten Beziehungen zur Welt der Pharmaindustrie) Alka-Seltzer auch in Einzeldosen statt in Zwanzigerpackungen gibt und dass man die Brausetablette zudem von der freundlichen Apothekerin in einem Plastikbecher gereicht erhält, um sie direkt am Ladentisch zu sich zu nehmen, als stünde man an einer Bartheke. Diese Entdeckung stimmte mich nachgerade glücklich."

Weiteres: "Gleich hinter Dukla, da liegt Leukerbad", ruft Andreas Breitenstein verzückt vom dortigen Literaturfestival, das in diesem Jahr mit Deutscher Großstadtbelletristik, Schweizer Erzähltüftelei, österreichischem Sprachfuror, ostmitteleuropäischer Verstörung, amerikanischer Pop-Artistik und Pariser jüdischer Geschichtsmelancholie aufwartete. Martina Sabra stellt den syrischen Religionskritiker Sadiq Jalal Al-Azm, der sich selbst als "unideologischen Marxisten" bezeichnet und für die Trennung von Staat und Religion in der arabischen Welt streitet (hier ein Interview mit ihm). Markus Jakob berichtet von der Erweiterung des Museo Thyssen-Bornemisza um die Sammlung Carmen Thyssen.

Nur in der NZZ global wundert sich Joachim Güntner über den Feuilletonisten-Aufschrei, der Frank Castorfs Entlassung folgte: Die FR beschimpfte die Gewerkschaften als Innovationsfeinde, die Welt verkündete gleich den "kulturellen Tod der Linken". Dabei, findet Güntner, dass der "ach so wilde" Castorf "eher kleinbürgerlich als linksradikal" agiert. "An der ökonomisch motivierten Entlassung - nur 35 Prozent Platzauslastung und ein Defizit von 700.000 Euro verzeichnen die Ruhrfestspiele in diesem Jahr - rügt er 'stalinistische Methoden', um dann als Anti-Stalinist zu zeigen, was er kann: den Rechtsanwalt holen, Widerspruch einlegen, am Sessel kleben."

Besprochen werden eine Ausstellung des dänischen Architekten Jörn Utzon im Louisiana Museum in Humlebäk und die Gedichte von Jan Wagner "Guerickes Sperling" (siehe auch unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 05.07.2004

Dietmar Dath greift eine rasante Debatte auf, die "im Internet und darüber hinaus für Spaß, Diskurs und Irritation" sorgt (und vom Perlentaucher bisher schändlicher Weise übersehen wurde). Sie kreist um ein Buch des New Yorker Geisteshistorikers Richard Wolin (mehr hier) mit dem Titel "The Seduction of Unreason - The Intellectual Romance with Fascism from Nietzsche to Postmodernism". Das Buch wirft zumal unseren einschlägigen europäischen Denkern von Gadamer über Bataille bis Derrida eine Nähe zum Faschismus vor. Dath findet es zwar nachlässig recherchiert und lektoriert, aber es hatte die Ehre einer ausführlichen Besprechung durch Richard Rorty in The Nation, worüber sich Dath lustvoll mokiert: "Das Buch hat einen höchst gescheiten Sprecher der Partei, die es kränken möchte, dazu gebracht, unter seinem Niveau zu reagieren - ein alles andere als schäbiger Erfolg ..." (Hier ein langer Auszug aus Wolins Buch, hier Rortys Kritik, hier ein Porträt über Wolin aus dem Chronicle of Higher Education.)

Auch Jordan Mejias berichtet über wilde Umtriebe im kulturellen Leben der USA: Kurz vor den Wahlen gibt es kaum mehr prominente Kulturschaffende, die nicht ein Theaterstück oder Buch gegen Bush schreiben - prominentestes Beispiel ist Nicholson Baker, in dessen nächstem Buch ein Präsident Bush ermordet werden soll. "Seit dem Vietnamkrieg hat es eine solche Mobilisierung des künstlerischen und intellektuellen Amerika nicht mehr gegeben. In ihrer Heftigkeit und Einmütigkeit übertrifft seine Kritik alles, was amerikanischen Präsidenten an hausgemachtem Dissens in den letzten Jahrzehnten die Amtszeit vergällte."

Weitere Artikel: Im Aufmacher berichtet Christian Geyer, dass nun auch die Geschichtswissenschaft in Gestalt Johannes Frieds (mehr hier und hier) im Gefolge des Hirnwissenschaftlers Wolf Singer alle Verantwortung abstreitet - "Müssen wir vergangenes Handeln neu bewerten, weil es sich dem Willen der Handelnden entzog?", fragt er in einem Aufsatz, der einen neuronal turn in der Geschichtswissenschaft ansagt. Felicitas von Lovenberg glossiert den Umstand, dass Feldmäuse polygam, Wiesenmäuse dagegen treu sind und sich ihre Gene neuerdings übertragen lassen, so dass es auch umgekehrt geht. Peter Körte schreibt einen Nachruf auf Marlon Brando. Henning Ritter gratuliert dem Evolutionstheoretiker Ernst Mayr (mehr hier und hier) zum Hundertsten. "hd" meldet, dass Christoph Schlingensief im Streit aus Bayreuth abgereist ist und seine Inszenierung des "Parsifal" möglicherweise platzt. Edo Reents gratuliert dem Rockmusiker Robbie Robertson zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite schildert Jürg Altwegg die Schweizer Zerknirschung nach der ruhmlosen Fußball-EM und ihrer Spuckaffäre. Und Hans-Jörg Rother findet eine heute auf Arte laufende Dokumentation über Pablo Neruda arg romantisch. Unter die Kategorie Medien fällt auch ein Artikel aus der Sonntags-FAZ über die Netzeitung, der bestreitet, dass Qualitätsjournalismus im Internet möglich sei.

Für die letzten Seite sind Martin Hablesreiter und Sonja Stummerer nach Mostar gereist, wo die berühmte, vor zehn Jahren von Kroaten zerschossene Brücke "Stari most" wieder aufgebaut wurde - ohne in der Stadt für ein Klima der Versöhnung zwischen Moslems und Katholiken zu sorgen. Joachim Müller-Jung resümiert eine Tagung forensischer Psychiater über die Frage, wo seelische Abartigkeit beginnt, und meldet nebenbei, dass, dass Armin Meiwes, der Kannibale von Rothenburg, demnächst seine Memoiren herausbringen will. Und Wiebke Hüster porträtiert den Frankfurter Tänzer Georg Reischl.

Besprochen werden ein Konzert Alanis Morissettes in Berlin, Jan Kounens Western "Blueberry" nach Jean Girauds gleichnamigem Comic und eine Inszenierung des "Fliegenden Holländers" durch Peter Konwitschny am Bolschoi-Theater.