Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2003. In der SZ jubelt Georg Klein über das Wunder von Reykjavik. In der FAZ fürchtet Sir Martin Rees den Tag, "an dem superintelligente Roboter uns die Welt aus den Händen reißen". Die FR wandelt durch die präparierten Überreste des belgischen Kolonialismus. Und die NZZ fragt, ob Subventionen Talente hervorbringen können.

SZ, 08.09.2003

"Rudi Völler hat Recht!" Ungewohnt pathetisch stellt sich Georg Klein (mehr) auf die Seite des Fußballs und begrüßt die Herzensfrische, mit der Völler auf die Schäbigkeit der Journalisten reagiert hat. Denn was dort "zum Ausdruck kommt, ist mit überzogenem Anspruchsdenken zu milde beschrieben. Es handelt sich um etwas Schlimmeres. Schon in der Süffisanz der Live-Kommentatoren zeigt sich so viel Freude am Herabsetzen, eine solch intensive Lust am vernichtenden Wort, dass ich bezweifle, die Sprechenden wären mit einem besseren Spiel zufriedenzustellen gewesen. Hier spricht ein Populismus der Niedertracht."

Susan Vahabzadeh sieht im gefälligen Festival von Venedig die Krise des Kinos gespiegelt: "Filme der Angst, nicht zu gefallen. Und am Ende wird es vielleicht das sein, was keinem mehr gefällt." Petra Steinberger meditiert über die paranoide Architektur des Kalten Krieges und deren amerikanische Renaissance in Zeiten internationalen Terrors. Jörg Heiser kommt auf der Vernissage der Berliner Jörg-Immendorff-Ausstellung (mehr hier) erst am Schluss dazu, die Bilder zu betrachten, so sehr lenkt ihn der Zirkus um den Maler selbst ab. Alexander Hosch hofft darauf, dass mit der Renovierung von Eileen Grays E 1027 (so sieht's aus) diese nun auch endlich als Architektin gewürdigt wird. Andreas Bernard deutet die Trennung der Popband No Angels als gutes Zeichen dafür, dass sich die Kunstfiguren des Marketings zu verselbständigen beginnen. Alexander Kissler resümiert eine Freisinger Tagung, auf der die Völkerwanderung in Europa vermessen wurde. Arno Orzessek berichtet von einer Weimarer Tagung über "Sozialistische Feindbilder", auf der zeitweise die Abschaffung des selbstgewählten Begriffs diskutiert wurde. Alexander Menden staunt, dass es beim 54. Internationalen Busoni-Klavierwettbewerb in Bozen wieder keinen ersten Preis gab.

In der Reihe Fremdes Italien widmet sich Burkhard Müller diesmal der "Laurea", dem italienischen Magisterabschluss und seinen kulturtypischen Ausschweifungen.

Auf der Medienseite geht es erwartungsgemäß um den Völlerschen Eklat. Christopher Keil vermutet, dass der abstinent anmutende Günther Jauch niemals zum Opfer des Völlerschen Verbalangriffs hätte werden können, und beleuchtet Waldemar Hartmanns "Oktoberfestcharme". Klaus Harprecht stellt den frühen Europäer Francois Bondy vor.

Besprochen werden Isabel Coixets sanfter, konsequenter Film "Mein Leben ohne mich" (mehr hier), Claus Peymanns Wohlfühl-Kabarett von Brechts "Heiliger Johanna der Schlachthöfe" am Berliner Ensemble, Simon Rattles Uraufführung von Henri Dutilleux? Vokal-Poeme "Correspondances" in Berlin, und Bücher, nämlich Benjamin Leberts zweiter Roman "Der Vogel ist ein Rabe", zwei Bände aus Reclams Reihe über Filmgenres - Science Fiction und Western - , zwei Bücher über den deutschen Kolonialismus sowie Rainer Becks Landschaftsgeschichte rund um das bayerische Ebersberg.

NZZ, 08.09.2003

Können Subventionen Talente hervorbringen? Marc Zitzmann diskutiert das Konzept der "Exception culturelle", nach dem Kulturgüter nicht den Bedingungen des freien Welthandels unterliegen und das in Frankreich eine derartige Karriere gemacht hat, "dass nun schon fast eine Ausnahme bildet, was nicht unter die 'kulturelle Ausnahme' fällt. "Glaubt man der französischen Presse, dann ist alles, was das Hexagon irgendwie - und sei's nur in der eigenen Vorstellung - von der Restwelt unterscheidet, Teil der 'Exception culturelle'. Zum Beispiel: die Haute-Couture, der Einfluss der Jäger-Lobby, die Comedie-Francaise, der Lepenismus, die Nouvelle vague, die 35-Stunden- Woche, die Revolution von 1789, der (sinkende) Konsum von Pastis und der (steigende) Verbrauch von Psychopharmaka, die Vorliebe für teure Füllfederhalter, der Europarekord in Sachen Verkehrstote, Champagner, Käse, Trüffel und Foie gras..."

"Das ist ein Dilemma des Theaters: Das Schwarzsehen ist eine Methode geworden, es ist cooler, more sexy", sagt Lars-Ole Walburg, neuer Schauspieldirektor am Theater Basel im Gespräch mit Alfred Schlienger. "Mich stört immer mehr, wenn die Sicht auf etwas zynisch wird. Wenn da nicht mehr die Frage ausgelöst wird: Warum sind die so kaputt, so böse?" Christoph Egger bilanziert die Filmfestspiele von Venedig: "Das überragende Werk mag sich in der Filmauswahl nicht gefunden haben. Dennoch bot das Programm eine anregende Mischung aus Bewährtem und Überraschendem. Überraschend war nur schon, wie oft es etwas zu lachen gab."

Besprochen werden Eike Gramss' "Tannhäuser"-Inszenierung im Stadttheater Bern und ein Band zu "Rilke und Russland" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 08.09.2003

Das Feuilleton und der Volkssport: Auf dem Fußballplatz in Reykjavik blieb es verhältnismäßig ruhig, dafür krachte es im Fernsehstudio gewaltig. Für Stefan Reinecke hat Rudi Völler mit seinem Ausraster am Samstag schlichtweg Fernsehgeschichte geschrieben und das glatte Medium einen Moment lang in die "echten Gefühle" zurückgeholt. Aber natürlich darf bei aller feuilletonistischen Freude die Analyse nicht fehlen: "Fernsehen profitiert wie kein zweites Medium von der Abweichung. Fernsehen ist live dabei, wenn das Normale gestört wird, wenn in Madrid das Tor umfällt, wenn Trapattoni seine Mannschaft beschimpft oder der Boxer Norbert Grupe im Interview einfach schweigt. In solchen Momenten, in denen das Spontane die Inszenierung durchbricht, kommt Fernsehen als Unterhaltungmedium zu sich selbst."

Matti Lieske vermag sogar, über den Stil hinweg, noch den Gehalt der Völlerschen Kritik zu würdigen und erfreut sich lesbar an Völlers Schlagfertigkeit: "Bierernst und beleidigt die Replik des emsigen Fernsehrechte-Maklers und obersten Fußball-Mäklers. Damals hätte man auch mal schlecht gespielt, räumte Günter Netzer ein, aber dann seien zehn hervorragende Spiele gefolgt. Das müsse wohl vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, konterte Völler ungerührt. So schlecht hat Netzer jedenfalls nicht mehr ausgesehen, seit er 1974 gegen die DDR eingewechselt wurde." Unbedingt lesen sollte man den Wortlaut des rauschenden Völler-Interviews.

Weitere Artikel: Frei nach Oscar Wilde ("In einem Abendanzug kann sich jeder den Ruf eines zivilisierten Menschen erwerben, sogar ein Künstler") mustert Brigitte Werneburg die Garderobe der bei der Berliner Contemporary Fine Arts ausstellenden Künstler. Für Cristina Nord steht fest, dass in Venedig nicht gerade Andrej Zvjagintsevs dem "heiligen Ernst" huldigender Film "Vozvrascenje" den Goldenen Löwen hätte gewinnen sollen und wünscht sich für nächstes Mal eine Komödie über Silvio Berlusconi. Mareke Aden stellt den anerkannten Talk-Show-Beobachter Detlef Röhtz vor. Katja Winckler widmet sich dem Indien-Trend, der von Großbritannien auf den Kontinent übergeschwappt ist.

Besprochen wird außerdem die Holbein-Retrospektive im Den Haager Mauritshuis.

Und schließlich Tom.

FR, 08.09.2003

Geradezu wohltuend paradox erscheint Johanna di Blasi die Foto-Schau "L'Afrique par elle-meme" im Königlichen Museum für Zentralafrika im belgischen Tervuren. Denn nirgendwo anders als in diesem kolonialistisch angehauchten Museum könnte die Wirkung der halluzinatorisch schillernden Fotos größer sein: "Wie unendlich modrig das Museum ist, verraten am augenscheinlichsten die Bataillone ausgestopfter Tiere. Schlangen haben im Laufe von hundert Jahren die Farbe verloren und kringeln sich wie monströse Maden in Konservierungsgläsern. Säugetierpräparate, ursprünglich der Größe nach sortiert, wurden in den siebziger Jahren zwischen Schilf und Gras drapiert, um lebensnaher zu erscheinen. Ein Büffelkopf schaut aus dem Ried. Seine fehlende Halspartie hat ein Maskenbildner ergänzt. Das Halshaar der makabren Gestalt stammt vom Haupt Tervurener Bürger, die 'ihrem' Museum emphatisch verbunden sind."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte blickt auf die Biennale von Venedig zurück und sieht gleich dreierlei: "Liebe, Brot und Fantasie". Der Sommer geht zuende und Michael Rudolf analysiert pikiert die Spezies der Grillfreunde. Außerdem erfahren wir, dass der polnische Künstler Pawel Althamer mit dem Vincent Award ausgezeichnet wird. Auf der Medienseite schließt Christoph Albrecht-Heider aus Rudi Völlers Verbalattacke gegen die Fernsehberichterstattung etwas herablassend, dass Fußballer ironie-allergisch sind. Auf der Sportseite ist Jan Christian Müller auch gleich mit psychologischen Erklärungsmodellen zur Stelle: "Der schäumende Teamchef" hat in Delling, Netzer und Hartmann "drei Blitzableiter gefunden hatte, um seine Enttäuschung über den erneut wenig unterhaltsamen Auftritt seiner Mannschaft zu verarbeiten." Besprochen wird die Ausstellung der Gruppe Archigram im Deutschen Architektur Museum Berlin.

FAZ, 08.09.2003

Die Wissenschaft bedroht unser Überleben, behauptet der britische Astrophysiker Sir Martin Rees (mehr) sowohl in seinem neuen Buch als auch im heutigen Feuilletonaufmacher. Viel eher als etwa der technikskeptische Softwarekönig (mehr) Bill Joy (hier sein Artikel in Wired) glaubt, könnten unsere Erfindungen uns vernichten, warnt Rees. Joy "möchte den Tag verhindern, an dem superintelligente Roboter uns die Welt aus den Händen reißen oder die Biosphäre sich in grauen Matsch verwandelt. Aber bevor das eintritt, wird die Gesellschaft vielleicht von den Auswirkungen von Technologien vernichtet, die es schon gibt oder die wir im Lauf der nächsten zwei Jahrzehnte erwarten können."

In einem Vorgriff auf den 11. September versucht Guillaume Paoli (mehr) zwischen Verschwörungstheoretikern und Obrigkeitsgläubigen den dritten Weg zu finden. Der Beitrag stammt aus einem Programmheft zur neuen Castorf-Inszenierung der Berliner Volksbühne im November: "In einer Welt, wo Bilder so allgegenwärtig sind, mehren sich unsichtbare Phänomene, deren Prüfung eine technische Apparatur benötigt, welche sich im Besitz von Interessengruppen befindet, die somit ein Deutungsmonopol haben. Ob man den daraus resultierenden Informationen traut, ist Glaubenssache" (Der zweite Teil folgt morgen).

Weiteres: Zum Abschluss der Serie Geld oder Leben porträtiert Jürg Altwegg ein Genf im Umbruch und stellt erleichtert fest, dass die einstige Hochburg des Calvinismus trotz allem noch nicht am Mittelmeer liegt. Zumindest einen Teilsieg des deutschen Kinos kann Michael Althen in Venedig verkünden. Wolfgang Sandner erzählt begeistert von Wolfgang Rihms "Jakob Lenz", einer im lettischen Riga mit großem Interesse erwarteten Koproduktion des dort ansässigen Goethe-Instituts. "bat" hält die geplante Veränderung des Mc-Donald-Logos für einen schweren Fehler, der den unverwechselbaren Fast-Food-Konzern ebenso dem Vergessen anheim fallen lassen wird wie die neuerdings "grau-bleichlila gefärbte Telekom". Eine Meldung warnt uns zudem davor, dass der Schlossberg in der Welterbestadt Quedlinburg bald einstürzen könnte.

Auf der Medienseite berichtet Claudia Bröll, wie der geplante "Virtuelle Arbeitsmarkt" der Bundesanstalt für Arbeit fürs Erste mehr Jobs vernichten als schaffen könnte. Rainer Herrmann hält die Verhaftung von Taysir Allouni, Starreporter des arabischen Fernsehsenders Al Dschazira, durch die spanische Polizei für einen Fehler.Verena Lueken empfiehlt Michael Moores frühe Reportage über die soziale Verantwortungslosigkeit des amerikanischen Großkapitals. Und Gisa Funck kann die verbalen Ausfälle Rudi Völlers a la "So ein Scheißdreck!" schon verstehen.

Auf der letzten Seite freuen sich alle. Kerstin Holm darüber, dass die Moskauer Tretjakow-Galerie gegen alle Widerstände nun eine Abteilung für zeitgenössische Kunst besitzt. Johan Schloemann über den argumentativen Irrsinn in Schwedens Debatte zur Einführung des Euro. Und Heinz Härtl über die erstmalige Veröffentlichung des frühesten Liebesgedichts von Clemens Brentano: "Ich liebte sie wie Kinder lieben / Ich folgte meinen süßen Trieben."

Besprochen werden die Uraufführung des wortgewaltigen wie wohlklingenden Requiems über die Dresdner Flutkatastrophe aus der Feder von Durs Grünbein und Wolfgang Rihm, Claus Peymanns teils sich selbst peinliche Inszenierung von Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" am Berliner Ensemble, eine Schau deutscher Zeichnungen vom Barock bis zur Romantik im Frankfurter Städel, Thirza Brunckens Trauerspiel "Antigone" als Disco-Queen in Wien, Fridrik Thor Fridrikssons stilisierungseifriger Film "Islandfalken", und Bücher, darunter Patricia Görgs lakonisch-zärtliches Seemannsgarn "Meer der Ruhe", Joyce Carol Oates' im besten Sinne populärer Roman "Wir waren die Mulvaneys" sowie Juri Andruchowytschs vielversprechende Ukraine-Essays "Das letzte Territorium" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).