Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.02.2003. In der SZ warnt Gregor Schöllgen vor den Finten Chiracs. In der taz fordert Ute Frevert eine selbstbewusste europäische Politik, während Joseph von Westphalen den "weinerlichen Pazifimus" geißelt. In der FR will Richard Rorty nicht glauben, dass es den USA um die Demokratisierung des Irak zu tun sei. Die NZZ stellt das "Network of Concerned Historians" vor. In der FAZ sieht Werner Spies in der Verhüllung "Guernicas" das Zeichen seiner Kraft.

SZ, 25.02.2003

Gregor Schöllgen (mehr hier) denkt über die Grundlinien der deutschen Außenpolitik nach und warnt vor den Finten des französischen Präsidenten Jacques Chirac: "Als Chirac am 17. Februar zu seinem rhetorischen Rundumschlag gegen die Aspiranten auf eine künftige EU-Mitgliedschaft ausholte, reagierte er vorderhand auf ihre aus seiner Sicht unbotmäßige Haltung in der Irak-Krise. Aber der rüde Ton der präsidialen Auslassung signalisiert mehr, er ist ein Dokument des französischen Großmachtanspruchs, den Chirac zur gleichen Zeit auf dem Pariser Gipfeltreffen mit den Repräsentanten von 52 afrikanischen Staaten, darunter Zimbabwes Diktator Robert Mugabe, zelebrierte. Und sie ist kalkulierter Ausdruck des französischen Vormachtsanspruchs in Europa. So gesehen gehören die etablierten EU-Mitglieder zu den Adressaten der Botschaft, allen voran Großbritannien, aber selbstverständlich auch Deutschland, das damit unmissverständlich an seine Juniorpartnerrolle erinnert wird."

Den emeritierten Juristen Klaus Lüderssen gruselt es förmlich, wie gelassen anlässlich der Frankfurter Ermittlungsmethoden im Entführungsfall Jakob Metzger darüber diskutiert wird, ob "Folter wieder bedenkenswert" ist. "Das Merkwürdige ist zunächst, dass nur wenige das Indiskutable registrieren. Eher verbreitet sich die Stimmung, man sei wieder einmal bei einem grundsätzlichen Problem angelangt, das erneut zu bedenken und diskutieren wäre."

Weitere Artikel: Für die Serie "Deutschland extrem" porträtiert Sonja Zekri die größte Mülldeponie der Republik in Halle-Lochau. Sie stellt fest: "Müll ist eine deutsche Leidenschaft, vielleicht die deutscheste. Welches andere Volk teilt seine Wohnung freiwillig mit vierzehn verschiedenen Behältern für Dreck?" Mit zwei Beiträgen wird die Gewinnerin von gleich fünf der diesjährigen Grammys geehrt: Im Feuilleton stellt Oliver Fuchs die Newcomerin Norah Jones (mehr hier) vor, und auf Seite drei lesen wir ein Porträt dieser Tochter Ravi Shankars von Raphael Honigstein. Wolfgang Schreiber informiert über die Klassik-Grammys für Daniel Barenboim, Waltraud Meier und die Berliner Staatsoper, und alle Gewinner auf einen Blick sind hier nachzulesen. Reinhard Schulz und Christoph Vratz begrüßen die neue "rettende" Satzung, die sich der Deutsche Musikrat gegeben hat. Holger Liebs erklärt, warum London die Elgin Marbles noch nicht mal zur Olympiade nach Athen ausleihen will. "Midt" gratuliert dem Berliner Theatertreffen zum 40. Geburtstag, und in der Kolumne Zwischenzeit gräbt Hermann Unterstöger allerlei Sinnsprüche gegen den Krieg aus. In einem Nachruf würdigt Wolf Lepenies den amerikanischen Soziologen Robert K. Merton (mehr hier). Jens Malte Fischer verabschiedet den "Wiener Opernenthusiasten" Marcel Prawy. Gemeldet wird außerdem der Tod des französischen Philosophen Maurice Blanchot (ein ausführlicher Nachruf soll folgen).

Besprochen werden eine Ausstellung über "Vermeer und das holländische Interieur" im Madrider Prado, eine Inszenierung von Händels "Xerxes" als "Sex- Comedy" im Theater Aachen und Bücher, darunter der Roman "Wellenjagd" von Kem Nunn, ein Lexikon zur Geschichtswissenschaft in "Einhundert Grundbegriffen", ein Textband zur Medienphilosophie und Gedichte und Prosa von Meret Oppenheim. (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

FR, 25.02.2003

Unter der schnörkellosen Überschrift "Der Fehlschlag. Warum eine Irak-Invasion falsch ist" antwortet der amerikanische Philosoph Richard Rorty (mehr hier) auf den ehemaligen Clinton-Berater Ronald D. Asmus, der am 20.2. in der FR für eine Militärinvasion plädiert hatte. Er hält Asmus für "viel zu optimistisch, wenn er glaubt, die Vereinigten Staaten werden versuchen, den Mittleren Osten zu demokratisieren. Ich glaube nicht an die vagen Versprechungen meiner Regierung, die Steuergelder amerikanischer Bürger für den Wiederaufbau Iraks auszugeben. (...) . Die USA werden nach einem Krieg so sehr damit beschäftig sein, angesichts der Milliarden Dollar teuren Invasionsmaschinerie ihren Haushalt zu sanieren, dass weder mit ausreichend Aufmerksamkeit noch mit dem erforderlichen Geld für die in Aussicht gestellte Demokratisierung zu rechnen ist. Bei allem Engagement für eine neue Außenpolitik dürfen wir doch nicht die Bedeutung innenpolitischer Erwägungen außer Acht lassen. Steuerzahler sind Wähler, und Wahlen werden immer noch zu Hause gewonnen."

Weitere Artikel: "Eigenartig" findet Peter Michalzik die "Auswahl zum 40. Berliner Theatertreffen". In seiner Architekturkritik stellt Hans Wolfgang Hoffmann den "ersten katholischen Kirchenbau des neuen Berlin" vor: St. Canisius, gebaut vom Berliner Büro Büttner Neumann Braun. Michael Braun gratuliert der Zeitschrift "Text + Kritik" (mehr hier) zu 157 Ausgaben in nunmehr vierzig Jahren auf ihrem "Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung". In der Kolumne Times mager staunt Alexander Schnackenburg über die neueste Aboprämie des "Männermagazins" GQ: eine Yacht. Gemeldet wird schließlich noch, dass Roman Polanskis Film "Der Pianist" bei der Verleihung der British Academy Film Awards in London als bester Film, er selbst als bester Regisseur ausgezeichnet wurde.

In einem umfangreichen Nachruf würdigt Manfred Schneider den französischen Schriftsteller, Kritiker und Philosophen Maurice Blanchot: "Der Ausstrahlung Kafkas als Autor ist im 20. Jahrhundert nur Blanchots Ausstrahlung als Kritiker zu vergleichen." (Mehr zu Blanchot hier - mit vielen weiterführenden Links.) Gemeldet werden außerdem der Tod des griechischen Filmschauspielers Titos Vandis ("Sonntags nie", "Topkapi") und des französischen Theaterregisseurs und ehemaligen Intendanten der Pariser Comedie Francaise Jean-Pierre Miquel.

Die einzige Besprechung heute gilt einem Abend mit Buchpräsentation, Diskussion und Auftritt Klaus Theweleit mit Band (mehr zum Autor hier) in der Berliner Volksbühne. "Die Musik, die die Band erzeugt, mag rauschhaft in der Ausübung, interessant als Gegenstand musikgeschichtlicher Betrachtung sein. Sie zu hören ist ihrer extremen Schrillheit wegen eher grausam", notiert Ursula März.

TAZ, 25.02.2003

Die Bielefelder Historikerin Ute Frevert ("Die kasernierte Nation") plädiert für einen "Abschied von der Ohnmacht" Europas. Friedensdemonstrationen "sind kein Ersatz für eine selbstbewusste europäische Politik, die sich realistisch auf die weltpolitischen Veränderungen einstellt ... Ein machtloses 'Ohne uns' greift zu kurz und scheint wenig geeignet, das neue Hegemoniestreben der USA zu bändigen. In der Politik reicht es nicht aus, die Legitimität eines Präventivkrieges zu bezweifeln und auf seine desaströsen Folgen hinzuweisen. Argumente verfangen in der Regel nur dann, wenn sie machtgestützt auftreten, und Macht hat etwas mit der Chance zu tun, seinen Willen 'auch gegen Widerstreben' durchsetzen zu können (Max Weber). In den internationalen Beziehungen beruht diese Chance, wie sich auch jetzt wieder zeigt, letztlich auf der Verfügung über Gewaltmittel und auf der Bereitschaft, sie einzusetzen. Will man auf diese Bereitschaft Einfluss gewinnen, bedarf es mehr als guter Worte."

Auf den Tagsthemenseiten polemisiert Joseph von Westphalen (mehr hier) gegen den "weinerlichen Pazifismus" dieser Tage." Wenn man schon als Schurke bezeichnet wird, ist das die ideale Gelegenheit, Klartext zu sprechen und ein paar Takte lang auf das elende diplomatische Herumeiern zu verzichten. Als Schurke hätte Schröder es sich leisten können, deutlich zu werden wie Castro oder Gaddafi in ihren besten Tagen."

Auf der Medienseite schließlich erklärt der Berlin-Korrespondent des Nachrichtensenders al-Dschasira, inwiefern die deutsche Absage an einen Irakkrieg "das Bild Europas in Arabien nachhaltig" verändere.

Ansonsten viele Besprechungen heute, so von Christoph Marthalers Inszenierung "Groundings" am Schauspielhaus Zürich, der "wunderbar indirekten Liebesgeschichte" im Film "Baran" des Iraners Majid Majidi und jeder Menge Bücher. Rezensiert werden unter anderem der neue Roman "Schöne Freunde" von Arno Geiger, die verschollenen Poetik-Vorlesungen von Jorge Luis Borges, die bisher nur auf Englisch vorliegende Untersuchung von Kenneth M. Pollack, "The Threatening Storm. The Case for Invading Iraq", außerdem gibt es einen Sammelhinweis auf lesenswerte Bücher über die politischen und militärischen Hintergründe des Irakkonflikts.

Und hier TOM.

NZZ, 25.02.2003

Dietrich Seybold stellt das Network of Concerned Historians vor, das sich als regierungsunabhängige Organisation gegen die Zensur von Historikern und historischem Denken wendet. "Das Netzwerk fungiert in sehr zeittypischer Organisationsform via Internet als Informationsdrehscheibe zwischen interessierten Kreisen in aller Welt und den Menschenrechtsorganisationen, die über die Kapazität für eigene Recherchen vor Ort verfügen und im Einzelfall Handlungsempfehlungen aussprechen. Ihrerseits versorgt die Gruppe Partnerorganisationen mit personenbezogenen und sachkundigen Informationen." Eingegriffen hat man etwa im Fall des iranischen Geschichtsprofessors Hashem Aghajari, der verhaftet worden war, weil er die Mullahs mit der katholischen Kirche vor der Reformation verglichen hatte. Seybold empfiehlt auch das Buch "Censorship of Historical Thought" von Antoon De Baets, der die Organisation gründete.

Weitere Artikel: Felix Philipp Ingold schreibt zum Tod von Maurice Blanchot. Hans Bernhard Schmid schreibt zum Tod des Soziologen Robert K. Merton. Paul Jandl schreibt zum Tod von Marcel Prawy. Vorgestellt wird das Programm des kommenden Theatertreffens in Berlin, für das in letzter Minute auch Christoph Marthalers Produktion "Groundings" ausgewählt wurde.

Von Laszlo Darvasi wird eine Geschichte aus einem demnächst erscheinenden Erzähungsband vorabgedruckt. Besprochen werden eine Neufassung von "Les Contes d'Hoffmann" in Lausanne, eine Inge-Morath-Ausstellung in Graz und einige Bücher, darunter der Gedichtband "Sondagen" (mehr hier) von Thomas Kling.

FAZ, 25.02.2003

Werner Spies, Kunsthistoriker, meditiert über eine Szene, die neulich von sich reden machte: die Verhängung einer Tapisserie mit Picassos "Guernica", als der amerikanische Außenminister Colin Powell im Sicherheitsrat sprach: "Dieses Verhüllen von 'Guernica' erscheint als eine der wenigen folgerichtigen Aktionen, von denen man in diesen Tagen lesen konnte. Das Verschleiern hat den Inhalt offengelegt. Hätte man einfach vor der unverhüllten Komposition über den angemeldeten Krieg gesprochen, wäre die Aussage des Werks wohl definitiv ins Vergessen geraten. So zog man es vor, das Bild zu verstecken, um sich selbst vor der unzumutbaren Botschaft des Bildes in Schutz bringen zu können."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann schreibt zum Tod von Maurice Blanchot. Gerhard Stadelmaier bedauert in der Leitglosse die Badener, die nicht nur in eine widernatürliche Einheit mit den Württembergern gezwungen wurden, sondern von diesen auch noch demütigen lassen müssen: Kaum hat sich Karlsruhe als europäische Kulturhauptstadt beworben, konkurriert auch Stuttgart um diesen Posten. Hans D. Barbier unterhält sich in seiner Reihe von Gesprächen mit bedeutenden Zeitgenossen mit Springer-Vorstand Matthias Döpfner, der als einer, der nur durch Leistung dorthin gelangte, wo er jetzt ist, die deutsche Versorgungsmentalität beklagt. Stephan Sahm liest Zeitschriften mit bioethischem Content. Marietta Piekenbrock beobachtet die Münchner Kammerspiele in ihrem Ringen um die richtige Rechtsform. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod von Marcel Prawy

Auf der letzten Seite erinnert der Historiker an den Reichdeputationshauptschluss, womit sich das Heilige Römische Reich vor 200 Jahren aus der Weltgeschichte verabschiedete. Edo Reents porträtiert Norah Jones (mehr hier), welche bei den Grammys abräumte. Oliver Tolmein befasst sich mit einer bevorstehenden Sitzung des Europarats zum Thema Euthanasie. Auf der Medienseite porträtiert Mechthild Küpper die abdankende Berliner Rathausreporterin Brigitte Grunert, ein in der Hauptstadt allgemein geschätztes journalistisches Original. Adrienne Lochte kommt nochmals auf die Folter-Debatte um den Entführer des Bankierssohns Jakob von Metzler zu sprechen.

Besprochen werden eine große Ausstellung über van Gogh und seine Vorbilder im Amsterdamer Van-Gogh-Museum und Strawinskys "Sacre du printemps" in Leipzig.