Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.10.2002. In der FAZ bespricht Marcel Reich-Ranicki den Film "Der Pianist" von Roman Polanski, der auch in den anderen Zeitungen große Kritiken bekommt. In der FR spricht der Historiker Moshe Zuckermann über das unterschiedliche Gedenken an den Holocaust in Israel und in Deutschland. Die taz kritisiert den Chauvinismus der türkischen Presse in Deutschland.

FAZ, 23.10.2002

Marcel Reich-Ranicki, selbst Überlebender des Warschauer Ghettos, bespricht Roman Polanskis Film "Der Pianist", der auf den Erinnerungen des Pianisten Wladyslaw Szpilman beruht, an dessen Konzerte sich Reich-Ranicki noch gut erinnern kann. Beeindruckt zeigt er sich von den Bildern der Flucht Szpilmans, noch mehr aber von den Szenen, die im Ghetto spielen: "Wie alle, die ihre eigenen Erlebnisse in einem Film sehen, war auch ich oft geneigt, die Wiedergabe der historischen Wahrheit zu beanstanden und refrainartig zu wiederholen: Es war ja alles anders . . . Nein, es war nicht anders. Was ich mir nie vorgestellt, was ich nie zu hoffen gewagt habe, das ist Polanski hier gelungen: Er hat den Alltag des Gettos, seine Atmosphäre so treffend und mit einer so überwältigenden Genauigkeit wiedergegeben, dass ich, diesen Film sehend, hier und da mit dem Verdacht kämpfen musste, da seien authentische Dokumentaraufnahmen eingeblendet worden."

Heinrich Wefing, der aus San Francisco berichtet, macht sich Hoffnungen auf ein Erstarken der amerikanischen Friedensbewegung und sieht auch Anzeichen dafür: "Die Sorge um die lahmende Wirtschaft, der Blick auf den steigenden Ölpreis und die kollabierenden Börsen, die Angst vor dem Tod amerikanischer Soldaten, vielleicht sogar die hartnäckige Opposition gegen die amerikanischen Aktivitäten im Ausland lassen vielerorts, bis weit in die Mittelschicht hinein, die Skepsis wachsen. Es macht eben sogar im notorisch an Außenpolitik desinteressierten Amerika keinen guten Eindruck, wenn die einzigen kontinentaleuropäischen Verbündeten, die den Kriegskurs rückhaltlos unterstützen, Rumänien und Bulgarien sind." Hier eine der Internetadressen von Kriegsgegnern, die Wefing in seinem Artikel nennt.

Weitere Artikel: Ilona Lehnart liefert den längst fälligen Artikel zum Beschluss der neuen Regierungen, den steuerlichen Spendenabzug für Unternehmen zu streichen: "So viel Zorn und Erbitterung, wie derzeit im Kultur- und Wissenschaftssektor der Republik laut wird, hat es lange nicht gegeben", berichtet sie. Joseph Hanimann berichtet über den Freispruch für Michel Houellebecq, der in einem Interview den Islam als "dümmste Religion" beschimpft hatte. Tilman Spreckelsen unterhält sich mit Jindrich Mann, dem Enkel von Heinrich Mann, der annimmt, dass der jüngst wieder aufgefundene Nachlass des Schriftstellers der Familie 1968 abgenommen wurde, als sie in den Westen emigrierte. Hannes Hintermeier gratuliert dem Autor Michael Crichton zum Sechzigsten. Dietmar Polaczek nennt die Direktoren der Biennale Venedig für das nächste Jahr. Mark Siemons berichtet über den Fund einer Knochenkiste in Israel, die etwa aus dem Jahr 63 nach Christus stammt und die Aufschrift "Jakob, Sohn des Joseph, Bruder des Jesus" trägt (hier der Artikel aus der Biblical Archaeology Review, der in der Kiste einen möglichen Beweis für die historische Existenz Jesu sieht). Paul Ingendaay stellt Forschungen des spanischen Historikers Javier Rodrigo über die erschreckende Zahl von KZs vor, die Franco nach seinem Sieg im Bürgerkrieg einrichtete. Gerhard Rohde resümiert die Donaueschinger Musiktage. Timo John stellt James Sterlings Erweiterungsbau für die Stuttgarter Musikhochschule vor.

Auf der letzten Seite kommt Andreas Rosenfelder nach ausführlichen Erwägungen über die Astrologie des Kapitalismus auch auf ein Symposion über die jüngste Börsenkrise an der Universität Witten/Herdecke zu sprechen. Andreas Rossmann freut sich über den Erasmus-Preis für das Fotografenpaar Bernd und Hilla Becher. Und Peter Jochen Winters schreibt ein kleines Profil über den Pfarrer Reinhard Steinlein, der sich der Anpassung der Evangelischen Kirche an das DDR-Regime widersetzte und heute mit dem Bundesverdientskreuz geehrt wird. Auf der Medienseite berichtet "S. K." über das Ende des vom visionären Bertelsmann-Chef Gerhard Middelhoff in den Sand gesetzten Internetbuchhändlers BOL, für den sich nicht mal mehr ein Käufer fand. Der fleißige Heinrich Wefing stellt eine neue Anwaltsserie von David E. Kelley vor, der bereits Ally McBeal erfand. Und Zhou Derong erzählt, wie die nostalgische Heldenserie "Zeiten des brennenden Enthusiasmus" alle Rekorde im chinesischen Fernsehen bricht.

Besprochen werden eine Ausstellung von Gemälden des russischen Symbolismus im Ludwig-Museum in Koblenz und Karin Beiers Bochumer Inszenierung von Neil LaButes Stück "Das Maß der Dinge".

FR, 23.10.2002

In einem Gespräch mit Thomas Binger erklärt der israelische Historiker Moshe Zuckermann (mehr hier), warum er Deutschland und Israel unterschiedliche Wege im Umgang mit dem Holocaust empfiehlt. Während Israel die Parole "Nie wieder Auschwitz!" als ein universelles "Nie wieder Opfer!" verstehen, und dies auch auf den Nahost-Konflikt beziehen sollte, wäre es gut, wenn Deutschland genau das Umgekehrte täte: "Ein wenig mehr Partikularisierung des Holocaust und vor allem die Konkretisierung dessen, womit wir es zu tun haben. Der Holocaust war zwar auch der Holocaust von anderen Opfergruppen. Er war aber nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ in der ideologischen Ausrichtung zunächst einmal und vor allem der Holocaust gegen die Juden. Das sollten Leute, die hier großartig die Universalisierung in den Mund nehmen, mit bedenken. Sie sollten sich immer auch überlegen, ob ihre Motivation, warum sie etwas universalisieren wollen, nicht damit zusammenhängt, dass sie hier etwas entsorgen oder vielleicht sogar entschulden wollen."

Weitere Artikel: Karin Ceballos Betancur ist auf einem Frachtschiff den Ucayali in Südamerika hinaufgefahren. Harry Nutt berichtet über den allgemeinen Protest gegen Hans Eichels Streichung des Spendenabzugs. In Times mager erkennt "thm", dass man auch Dinge wiederfinden kann, die gar nicht verloren waren. Außerdem wird laut dpa gemeldet, dass Michel Houellebecq von Gerichts wegen weiterhin den Islam als "dümmste Religion" bezeichnen darf.

Auf der Medienseite lobt Harald Keller einen ARD-Fernsehfilm über zwei Freunde, Hannes Gamillscheg berichtet aus Kopenhagen, dass die Dänen eine neue Tageszeitung haben (nämlich Dagen), und Kathrin Wilkens liefert ein Panorama der feuilletonistischen Dieter-Bohlen-Rezeption.

Besprochen werden Roman Polanskis Film "Der Pianist" ("Im subjektiven Blick seines durch eine Totenstadt irrenden Protagonisten sammelt sich die Komplexität dieser ebenso unberechenbaren wie unverständlichen Welt, als sei er ein Spiegel, der aus seinem Rahmen herausgefallen ist" schreibt Heike Kühn), Christian Lesemanns Foto-Reportage über geheime Geldtransaktionen, Bellinis "Norma" als Musiktheater in Gießen, David Pountneys Zürcher Inszenierung von Berlioz' "Benvenuto Cellini", das Konzert des Chamber Orchestra of Europe in der Alten Oper Frankfurt, das Motörhead-Konzert in der Offenbacher Stadthalle, ein Konzert des Gitarristen Arto Lindsay im Frankfurter Mousonturm, Imi Knoebels Aluminiumbilder im Kestner-Museum Hannover und die Autobiografie des Liedermachers Ulrich Roskis (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 23.10.2002

In der NZZ dominieren heute die Besprechungen. Es geht um die MexArtes-Ausstellungen in Berlin, um die Konzerte der Donaueschinger Musiktage, um eine Ausstellung über die Industriebauten der Architekten Schupp und Kremmer in Essen, um ein Internationales Medienfestival in Basel, um ein Konzert des BBC Philharmonic mit Fazil Say in der Tonhalle Zürich und um einige Bücher, darunter Mario Turchettis bisher nur auf französisch erschienene Studie " Tyrannie et tyrannicide de l'Antiquite a nos jours" (mehr über das Buch hier), die Memoiren von Hans Küng und Nagib Machfus' Roman "Spiegelbilder".

TAZ, 23.10.2002

Irina Wiessner kann beim besten Willen nicht lächeln über die extreme Türkeigebundenheit der türkischsprachigen Medien in Deutschland: "Hürriyet und Milliyet verhalten sich integrationsfeindlich, ihre Forderung, ihre Lobbyarbeit in Deutschland wird mit gefährlichem Nachdruck betrieben." Sie begreifen die in Deutschland lebenden Türken in erster Linie als eine türkische Gemeinschaft: "Egal, wo und wie sie leben, egal, wie lange, und auch egal, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft haben - türkischsprachige Tageszeitungen in Deutschland vereinnahmen türkischstämmige Menschen gerne unter Begriffen wie "Wir Türken". Dies habe sich auch ganz deutlich in der Wahlkampfzeit gezeigt: "Viele Kommentare waren schlicht türkisch-nationalistisch: Ihnen galt als ein maßgebliches Kriterium der Wahlentscheidung die Haltung einer deutschen Partei zum EU-Beitritt der Türkei. Alles andere fand kaum Beachtung."

Im Schlagloch findet Kerstin Decker, dass das neue Preis-System der Deutschen Bahn eher den Namen "Immobilitätsrevolution des Schienenwesens" verdient hätte.

Weitere Artikel: Axel Henrici hat eine Tagung zum Thema Liebe in der Evangelischen Akademie Tutzing besucht und dort eine wunderliche Mischung vorgefunden. Christina Nord meldet, dass Caroline Links "Nirgendwo in Afrika" für den Auslands-Oskar ins Rennen geschickt wird, dass die Regisseurin den Avancen aus Hollywood jedoch eine Absage erteilt hat. Thomas Winkler war mit der Rockband Keimzeit auf Tournee in Ostdeutschland. In der Jazzkolumne schreibt Christian Bröcking über den Sopransaxophonisten Steve Lacy.

Besprochen werden Michael Nymans "Facing Goya" am Badischen Staatstheater in Karlsruhe und die Ausstellung "Glück - Stadt - Raum" in der Berliner Akademie der Künste.

Und schließlich TOM.

SZ, 23.10.2002

Susan Vahabzadeh hat Roman Polanskis neuen Film "Der Pianist" gesehen und kann nur halb verstehen, dass man ihm vorgeworfen hat, "es stecke wenig Leben in dieser Geschichte vom Überleben". In diesem "ganz ruhigen, fast kühlen Film" gebe es auch explosionsartige Momente: "Da ist diese Spannung zwischen rationaler Distanz und unbändiger Wut - der Film bricht ein paar Mal geradezu in erzählerische Tobsuchtsanfälle aus, und dieser Jähzorn, das muss Polanksis eigene Empfindung sein."

Weitere Artikel: Wolfgang Schreiber findet, dass sich die Donaueschinger Musiktage für ihr hohes Alter gut gehalten haben. Er spricht auch mit Christina Weiss, der neuen Staatsministerin für Kultur, über die Liebe zur Kultur und wie sie sich mit der Politik vereinigen lässt. Henning Klüver ist entsetzt über Berlusconis vermeintliche Verwaltungsreform. Lothar Müller berichtet über den sensationellen Fund des Prager Heinrich-Mann-Nachlasses. Christopher Schmidt glaubt, dass Christian Stückl als Intendant des Münchner Volkstheaters erfolgreich sein wird. Ralf Niemczyk behauptet, dass sich Köln wieder als Kunstzentrum gibt. In der Kolumne meldet "Akis" einen theologischen Knochenfund. "Tsr" gratuliert dem Unterhalter Gerhard Bronner zum Achtzigsten, und schließlich stellt Daniel Herbstreit die Literaturzeitschrift "Volltext" vor.

Auf der Schallplattenseite porträtiert Harry Lachner den skurrilen Gitarristen Bill Frisell. Andreas Busche spricht mit Renee Scroggins von ESG über ihr Comeback-Album "Step off" (hier was zum Hören), Karl Forster berichtet über Musikgeschichte in Form von Deluxe-Retro-Samplern und Pinky Rose erklärt uns das 80er-Jahre-Revival, deren Musik man jetzt Electroclash nennt.

Auf der Medienseite berichtet Mark Winkelmann über die Lage der Asphaltblätter in Deutschland.

Besprochen werden eine historische Ausstellung zu Napoleon und Zar Alexander I. im Roemer-Pelizaeus-Museum Hildesheim, Musik - die Quarks (homepage), Ms Dynamite (homepage), die Hip-Hopper RJD2 und zwei politische Soul-Sampler -, einen Theater-Doppelpack in Freiburg - Shakespeares "Venus und Adonis" und die Uraufführung von Ralf Höhfelds "Pärchen Passion" - zwei Sachbücher über das Cinquecento in der Malerei und Martin Walsers "Alexander und Annette" als Hörbuch (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).