Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2002. Die SZ sorgt sich um den Männerüberschuss in Asien. Die NZZ beschreibt den größten Tauschmarkt Argentiniens. In der FR ermuntert Slavoj Zizek die Leser, ihr traumatisches Nichts anzunehmen.  In der taz erklärt Timothy Garton Ash die Deutschen zu Marktführern im Geschäft der Geschichtsaufarbeitung. Die FAZ erzählt, wie man sich in den USA vor den Folgen eines nuklearen Terrorschlags schützen will: mit Kalium-Jod-Tabletten.

SZ, 22.06.2002

Dass der amerikanische Journalist Joe Klein im Auftrag des englischen Guardian durch Europa tourt, wissen wir schon, was Klein über Deutschland und seine Macken zu berichten hat, teilt Willi Winkler in einem Beitrag mit. Nachdem er die deutsche Fadheit moniert und die um so flottere FDP besucht hat, wendet sich Klein der Antisemitismus-Debatte und "einer ungesunden Neigung zur Panik" zu und "zitiert mit sehr weit hochgezogenen Augenbrauen Paul Spiegel, der Möllemanns Werbesprüche als größte Beleidigung bezeichnet hatte, die seit dem Holocaust von einer Partei zu hören war, um sich dann zu wundern, dass keiner sagen konnte: 'Paul, lass gut sein, es reicht'". Kleins Deutschland-Artikel aus dem Guardian finden Sie hier.

Petra Steinberger nimmt sich des durch Geburtenkontrollen herbeigeführten Männerüberschusses in asiatischen Ländern an. Bös enden wird das, mutmaßt sie: "Um ihre Männlichkeit zu beweisen, die ihnen durch ihr Ledigsein sozial aberkannt wird, werden sie sich zusammenrotten, bilden, dafür gibt es historische Vorläufer, kriminelle Banden, oder stellen sich als rebellische Banditen gegen die Obrigkeit." Und auch kurzfristige Strategien gegen 'dürre Äste', wie die ewigen Junggesellen in China genannt werden, gibt es: "Da könnte China auf die Idee kommen, es sei besser, den Überschuss in die Selbstvernichtung oder zum Export zu treiben - etwa mit einem Militäreinsatz im Ausland, genannt Krieg." Klingt nach deutscher Panikattacke.

Eva Maria Fischer schreibt über Lighting Design und Lichtregie am Nationaltheater Mannheim, Christine Heise hörte und sah die legendären Punkrocker von "Television" beim Meltdown-Festival in London nahezu unverändert, Thomas Thiemeyer war auf einer Diskussion über Ethik und Embryonen mit Norbert Hoerster an der Uni Bamberg, Ralf Grötker berichtet von einem Workshop "Zur Zukunft der analytischen Philosophie" mit Hilary Putnam am Potsdamer Einstein-Forum, und Ben Kingsley spricht über seine Rolle im Gangster-Film "Sexy Beast" und das Böse in uns.

Besprochen werden die Modefotografie-Ausstellung "ChicClicks" im Fotomuseum Winterthur, die Operngroteske "Bählamms Fest" von Olga Neuwirth nach einem Libretto von Elfriede Jelinek im Schauspielhaus Hamburg, die Ausstellung "Faszination Mensch" im Landesmuseum für Vorgeschichte in Dresden, eine Schau über Freimaurerei in Weimar, zu sehen im Schillermuseum ebendort, Erich Wolfgang Skwaras Roman "Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer", Wolfgang Bocks Medientheorie in einem Band sowie eine Auswahl der Texte Friedrich Dieckmanns (auch in unserer Bücherschau Sonntag um 11).

In der Wochenendbeilage schließlich entführt uns eine Kurzgeschichte von Marcel Beyer in Tokyos Untergrund, und Susan Sontag erklärt, was Schönheit vermag: Sie erinnert uns an die Natur, sie weckt und vertieft damit unser Bewusstsein von der Fülle der Wirklichkeit, die uns umgibt, und sie "gewinnt so ihre Festigkeit zurück, ihre Unausweichlichkeit als Urteilsmaßstab, dessen jeder Mensch bedarf. Nur so kann er begreifen, was ihn anzieht und mit Bewunderung erfüllt. Bloß konkurrierende Begriffe wirken dagegen lächerlich. Stellen Sie sich vor, jemand würde sagen: 'Dieser Sonnenuntergang ist interessant'".

NZZ, 22.06.2002

Hilmar Poganatz beschreibt den größten Tauschmarkt (trueque) Argentiniens "La Bernalesa". Seit die Regierung die Bankguthaben der Bürger einfror, kommt auch die Mittelklasse hierher zum Einkaufen. "Das Tauschsystem des Trueque ist simpel: Wer einem der Klubs des Netzwerkes beitreten will, meldet sein Produkt oder seine Dienstleistung an. Doch der Tauschhandel verläuft nicht direkt, nach dem Motto "Zwei Kilo Reis für einen Liter Milch", sondern über kleine, bedruckte Papiere, Gutscheine oder 'creditos' genannt. Wer also ein Kilo Mehl verkauft, kann dafür zum Beispiel 20 Gutscheine verlangen, für die er wiederum einen 15 'creditos' teuren Haarschnitt ergattern könnte."

Weitere Artikel: Philipp Meier schreibt den Nachruf auf den Kunstauktionär Roman Norbert Ketterer. Besprochen werden die Ausstellung "Greuze the Draftsman" in der Frick Collection New York, der Film "Thomas Pynchon - A Journey into the Mind of p." von den Tessiner Brüdern Fosco und Donatello Dubini und Bücher, darunter Andreas Schäfers Debütroman "Auf dem Weg nach Messara", Dan Tsalkas Israel-Epos "Tausend Herzen" und Manuel Castells "monumentale" Analyse des Informationszeitalters (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

In der Beilage Literatur und Kunst widmen sich drei Artikel dem spanischen Architekten Antoni Gaudi (mehr hier), dessen 150. Geburtstag am 25. Juni gefeiert wird: Juan Jose Lahuerta sucht Gaudi "vom Stigma des Exzentrikers zu befreien und sein Werk in den künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext seiner Zeit zu stellen". Werner Oechslin berichtet, wie schwer sich die Architekturgeschichte noch immer mit dem Mann tut. Und Markus Jakob erzählt, dass Gaudi nicht nur Verehrung, sondern - sogar in Barcelona - "vehemente Kundgebungen der Irritation und des Hohns" zuteil wurden. (Fotos von Gaudis Werken finden Sie hier.)

Schließlich erinnert Ursula Pia Jauch an den österreichischen Literaten Franz Blei, der vor 60 Jahren in einem "besseren New Yorker Armenspital" starb und auch heute noch - fälschlicherweise, versteht sich - bloß als "literarischer Dandy mit einem Hang zum Erotischen, als Opportunist, der bedenkenlos vom Kommunismus zum Katholizismus überwechselte" gilt, obwohl er "auch 1933 hellsichtiger und gradliniger war als etliche seiner Kritiker".

FR, 22.06.2002

Einige Paradoxien über Vorkehrungen, die unser Leben schützen sollen, setzt uns Slavoj Zizek (mehr hier) in einem Beitrag auseinander. Zizek erörtert die Möglichkeiten der genetischen Früherkennung von schweren Krankheiten und kommt zu dem Schluss, "dass die folgende Prämisse falsch ist: jemanden zu seinem Schutz oder gar aus Gründen einer ethischen Verpflichtung vor schmerzvoller Erkenntnis bewahren zu wollen. Was Huntington oder andere, vergleichbare Krankheiten angeht, können wir in diesem Zusammenhang festhalten, dass den reinen Zufall der eigenen genetischen Disposition auf sich zu nehmen und nicht an andere zu delegieren, die Würde des Menschen begründet. Mit anderen Worten, der menschlichen Existenz liegt ein - mitunter - traumatisches Nichts zu Grunde, das zu übernehmen uns aufgegeben ist." Für Zizek eine durchaus ethische Aufgabe.

In einem anderen Artikel erkunden Hans-Martin Lohmann und Katherine Stroczan die Zeit-und Ortlosigkeit der inflationären Traum-Kultur (Traumfrau, Traumauto, Traumreise) und stellen diese auf ihr ziemlich reales ökonomisches Fundament: Die "Kultur"- und "Traum"-Werte, die uns als Warenangebot überschwemmen, repräsentieren nichts als sich selbst, schreiben sie, und niemand vermag mehr ernsthaft zu beurteilen, ob die Produkte einer Ökonomie des Überflusses, die beim Konsumenten paradoxerweise das Gefühl eines ewigen Mangels hervorrufen, überhaupt irgendeinen Nutzen haben.

Michael Rutschky kritisiert den Feierabend-Humanismus a la Uschi Glas, Stefan Keim kommentiert die Theaterkrise in Wuppertal, Jean-Philippe Toussaint schickt eine neue Post aus Fußball-Japan, Frank Keil führt über die Hamburger Kunstbiennale "Artgenda", Jochen Hörisch stellt uns die Freiin Philippine von Knigge vor, die 1789 (!) eine "Logic für Frauenzimmer" verfasste, und Roland H. Wiegenstein liefert einen Überblick über neue Nummern von "Merkur", "Mittelweg 36", "Sinn und Form" u.a.

Besprechungen widmen sich einer von Ettore Sottsass arrangierten Cartier-Klunker-Schau im Vitra Design Museum Berlin, einer autobiographischen Darbietung mit "Vier alten Artistinnen" im Berliner Podewil, der Tagung "Zur Zukunft der analytischen Philosophie" im Einstein Forum Potsdam, einem Manhattan-Bildband des Dokumentarfotografen Joel Sternfeld, Dorothea Dieckmanns Roman "Damen & Herren" sowie ein Buch, das in Prosaminiaturen ein ganzes Lehrerleben festhält (siehe unsre Bücherschau um 14 Uhr).

Bleibt zu erwähnen, dass die Bildzeitung vielleicht kein Imageproblem mehr hat, dafür aber ein um so gehörigeres Wahrnehmungsproblem. Im Magazin-Gespräch jedenfalls erklärt Bild-Chefredakteur Kai Diekmann sein Blatt zum kosmischen Ordnungshüter und Beruhiger: "Wir wählen aus, was wichtig ist. Oder, in der uns und sonst nur linken Theoretikern eigenen Zurückhaltung: Wir stellen die Welt vom Kopf auf die Füße, ordnen den Kosmos..."

TAZ, 22.06.2002

Im Magazin der taz erklärt der Historiker Timothy Garton Ash (in einem aus der Zeitschrift Transit übernommenen Text) das Geschäft der Geschichtsaufarbeitung, in dem, wie er schreibt, die Deutschen Marktführer seien. Ein heikles Business, so Ash, das von der Dichotomie zwischen Erinnern und Vergessen bestimmt sei und darum am besten mit dem Begriff "Mesomnesie" - mittleres Erinnern - zu erfassen. Dabei gehe es darum, Tatsachen zu klären und dann Erkenntnis zu gewinnen, Zusammenhänge zwischen den Tatsachen herzustellen. "Für ein Land, eine Gesellschaft, eine Gruppe oder ein Individuum wird die Auseinandersetzung mit einer schwierigen Vergangenheit zu einer Entdeckungsreise. Diese Reise führt durch stürmische Gewässer zwischen den Felsen der Amnesie und den Klippen der Hypermnesie (Übererinnerung) hindurch. Ihr Ziel sollten jedoch die ruhigeren Gewässer dahinter sein - die Gewässer der Mesomnesie."

Am gleichen Ort schreibt Ralph Bollmann über die Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag des katalanischen Architekten Antoni Gaudi ("ein Hochamt seiner endgültigen Verkitschung"), und Astrid von Pufendorf stellt eine neu erschienene Biografie vor, die Theodor Fontanes Frau Emilie würdigt.

Im Kulturteil unternimmt Andreas Merkel einen Rundgang durch die merkwürdige Gattung der populären Psychologie-Aufsätze in Lexika und Frauenmagazinen, und Georg Patzer besucht die Ausstellung "Iconoclash" im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM), wo an der Nahtstelle von Kunst, Religion und Politik die Deutungsmacht erschüttert und der Zuschauer befreit werden soll. Welch hehres Ziel!

Schließlich Tom.

FAZ, 22.06.2002

In den USA hat der Alltag die Kriegsängste schon wieder verdrängt. Sorgen um einen nuklearen Terroranschlag und die Folgen machen sich nur noch wenige, berichtet Jordan Mejias. "Die Überlegungen haben bereits praktische Früchte getragen. Jedem der vierunddreißig Bundesstaaten, in denen Menschen in einem Radius von zehn Meilen um ein Kernkraftwerk leben, hat die Nuclear Regulatory Commission kostenlose Kalium-Jod-Tabletten angeboten. Daraufhin begannen mehr als ein Dutzend Bundesstaaten, sich mit den Pillen einzudecken, die vor der Verstrahlung nach einem Anschlag schützen sollen. Da die Tabletten wenig Nebenwirkungen hätten und gegen Schilddrüsenkrebs nachweisbar Schutz böten, hält das die New York Times für eine vernünftige Vorkehrung. Die Zeitung rät zudem, die Medikamente zu Hause, in Schulen und auf Arbeitsplätzen vorrätig zu halten." Wenn's hilft.

Weitere Artikel: Christian Schwägerl fürchtet, dass nach dem neuesten Urteil des Bundesgerichtshof ein Zwang zur Präimplantationsdiagnostik entsteht, weil Eltern und Ärzte sich vor Schadenersatzklagen behinderter Kinder fürchten. Verena Lueken wirft einen Blick in amerikanische Zeitschriften. Dieter Bartetzko gratuliert dem Sänger Hannes Wader zum Sechzigsten. Joseph Croitoru berichtet über heftige Kritik am Aufruf palästinensischer Intellektueller, die Selbstmordattentate einzustellen. Markus Breidenich schreibt über ein Symposium aus Anlass des 350. Geburtstags der Hallenser Leopoldina: Diskutiert wurde über die Frage, "welche Rolle die wissenschaftlichen Akademien in der politischen Meinungsbildung spielen werden".

Auf der Gegenwarts-Seite schreibt Ralf Dahrendorf "Über die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht". Auf der Medienseite gratuliert Michael Hanfeld der Bild-Zeitung zum Fünfzigsten, und J.M. meint nach einem internationalen Vergleich von Boulevardzeitungen, dass uns in Deutschland einiges erspart geblieben ist.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Geschichte der Geheimgesellschaften im Weimarer Schillermuseum, Rudolf Thomes Film "venus.de" mit der lange verschwundenen Sabine Bach, Dvoraks Märchenoper "Rusalka", inszeniert von Robert Carsen an der Bastille, die Bonner Theater-Biennale (mehr hier), eine Ausstellung über die Ausplünderung der Juden im Frankfurter Rundfunkhaus, eine Luther-Ausstellung in den Eislebener Luther-Gedenkstätten, Olga Neuwirths Carrington-Oper "Bählamms Fest" im Hamburger Schauspielhaus, die Uraufführung von Lloyd Webbers Musical "Bombay Dreams" in London, eine Ausstellung mit James Colemans Dias im Münchner Lenbachhaus und Bücher, darunter Briefe von Thomas Mann (geschmückt mit einem großen Foto, das Mann von seiner unvorteilhaftesten Seite zeigt) und Kinderbücher (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

Was von Bilder und Zeiten übrig blieb: Der Historiker Michael Borgolte schreibt zum tausendsten Geburtstag des deutschen Papstes Leo IX. Werner Spies hat Andre Bretons Atelier in der Pariser Rue Fontaine besucht. Und in der Frankfurter Anthologie stellt Wolfgang Schneider ein Gedicht von Hugo von Hofmannsthal vor: "Ballade des äußeren Lebens".

"Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben ..."