Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2002. In der FAZ ärgert sich Istvan Eörsi über die Nachsicht mit Spitzeln. Die NZZ berichtet über einen Historikerstreit in Israel. In der FR machen sich Thomas Hettche und Alissa Walser Gedanken über die Mainuferbebauung. Die SZ ist gegen konservative Bildungspolitik, weil man da nichts erlebt.

FAZ, 18.06.2002

Gerade hatte Peter Esterhazy mit dem Roman "Harmonia Caelestis" seinem Vater Matyas Esterhazy ein literarisches Denkmal gesetzt, da musste er erfahren, dass dieser ein Spitzel war. In einer "verbesserten Edition" hat Esterhazy dieses neue Material zur Familiengeschichte als Nachschrift eingearbeitet. Der Schriftsteller Istvan Eörsi ist sehr froh darüber. Er hat nämlich festgestellt, dass in Ungarn Spitzel - selbst bei ihren Opfern! - mit allzu viel Nachsicht rechnen können. "Unmittelbar nach der Präsentation des Buches äußerte sich ein unbefleckter Exdissident - nicht der Toleranzpreisträger, sondern ein anderer - zum Fall Matyas Esterhazy: 'Ich denke, dass niemand das Recht hat, ihn zu verurteilen für das, was er tat. Ein rechtschaffener Mensch kann sich nicht zu einem Urteil erdreisten.' Nicht nur kritisieren, sondern sogar beurteilen ist verboten! Dieser Freund der Tugend macht darüber hinaus kein Hehl aus seiner Ansicht, dass die Stasi-Informanten 'nicht als Vertreter oder Kollaborateure des Systems der Selbstherrschaft' zu betrachten wären. Nicht einmal als Kollaborateure! Nichts vermag die moralzerstörende Wirkung der sich selbst kommunistisch nennenden Diktaturen klarer zu beweisen als dies. Selbst öffentliche Persönlichkeiten mit einem makellosen Vorleben verinnerlichen die Erwartungen jener, die kein Interesse daran haben, dass sich in der pluralistischen Nachwendegesellschaft endlich eine gerechte Moralhierarchie entfalten kann!"

Robert von Lucius berichtet von heftigen Protesten dänischer Künstler gegen den neuen Kulturminister Brian Mikkelsen. Der hatte bei der Amtsübernahme verkündet, "Kürzungen in der Kultur werde es nicht geben" um nur wenige Wochen später "eine Pauschalkürzung von gut fünfzehn Prozent für jeden Einzelhaushalt oder Zuschussempfänger, mit der Aussicht weiterer drastischer Kürzungen in den kommenden drei Jahren" zu verfügen. Am meisten erbost die dänischen Künstler"das undifferenzierte und technokratische Vorgehen der neuen Regierung, der Gespür für Besonderes fehlt", schreibt Lucius.

Weiteres: Edo Reents gratuliert Paul McCartney (mehr hier) zum Sechzigsten. Eva Menasse zieht eine Bilanz der Wiener Festwochen (mehr hier) und meldet, dass die "Klein-Walser-Debatte" zwischen Luc Bondy und Karl-Markus Gauß aufs lächerlichste fortgeführt wird. Erdmann Neumeister berichtet, dass das Basler Kunstmuseum um die Sammlung Im Obersteg bereichert wird. Heinrich Wefing bezweifelt, dass die tiefste Krise in der Geschichte der katholischen Kirche in den USA, die durch Päderastie-Vorwürfe gegen Priester ausgelöst wurde, schon ausgestanden ist. Renate Schostak berichtet über die Schließung der letzten Baulücken an der Münchner Maximilianstraße.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite erzählt Thomas Irmer Raymond Federmans Odyssee durch die deutschen Verlage. Und Tilman Spreckelsen meldet Streit um die Frankfurter Buchmesse - der Börsenverein fürchtet, dass die Friedenspreis-Verleihung durch geplante Symposien über die Globalisierung mit internationalen Großautoren in den Schatten gestellt werden könnte. Auf der letzten Seite bilanziert Paul Ingendaay die Madrider "Feria del Libro". Andreas Rossmann schreibt ein Profil des neuen Bonner Kulturdezernenten Ludwig Krapf. Und Stefanie Peter berichtet über den polnischen, unter anderem von Adam Michnik unterstützten Vorschlag, ein in Berlin geplantes "Zentrum gegen Vertreibung" doch eher nach Breslau zu verlegen, um so auf die europäische Dimension des Themas aufmerksam zu machen. Auf der Medienseite berichtet Gisa Funck über die Cologne Conference. Und Heike Hupertz stellt die amerikanische Fernsehserie "Military Diaries" vor.

Besprochen werden Sebastian Baumgartens "Parsifal"-Inszenierung in Kassel, Nick Cassavetes' Film "John Q.", Jens Roselts Stück "Handicap" in Köln und eine Choreografie nach Tschechow von John Neumeier in Hamburg.

NZZ, 18.06.2002

Christoph Schmidt berichtet von einem Historikerstreit in Israel. Die "neuen Historiker" waren mit ihrer kritischen Sicht des Zionismus - der die Geschichte der Palästinenser in die Geschichte der Staatsgründung Israels mit einbezog - schon recht akzeptiert. Aber das Wiederaufflammen des Konflikts mit den Palästinensern hat die nationalistischen Gegner dieser Lehre auf den Plan gerufen. Im Streit neigen beide Seiten zu ideologischen Übertreibungen, meint Schmidt und erzählt von einer Magisterarbeit, die ein Student anhand von mündlichen Zeugenaussagen über ein vermeintliches Massaker verfasst hat, das jüdische Soldaten 1948 im Unabhängigkeitskrieg bei der Räumung des arabischen Dorfes Tantura verübt haben sollen." Jüdische Veteranen verklagten den Autor Teddy Katz wegen Verleumdung. Im Prozess konnten "erhebliche Diskrepanzen zwischen den Zeugenaussagen und deren Wiedergabe in der Arbeit nachgewiesen werden". Verteidigt wurde die Arbeit jedoch von dem Historiker Ilan Pappe. Und so, schreibt Schmidt, "löst sich das Massaker von Tantura in den Nebeln der ideologischen Phantasie auf". (Hier ein langer Aufsatz von Pappe über die israelische Geschichte und hier seine Darstellung des Prozesses im Journal of Palestine Studies)

Weitere Artikel: Anlässlich der Walser-Debatte denkt Rolf-Bernhard Essig über die Funktion des Offenen Briefes nach. Axel Christoph Gampp annonciert die Wiedereröffnung des Museo di Roma im Palazzo Braschi. Außerdem ist heute ein Auszug aus Lydia Mischkulnig neuem Roman "Umarmung" abgedruckt, der im Herbst bei der DVA erscheint.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Brücken des Architekten John Soane im Archivio del Moderno in Mendrisio, ein Rezital von Krystian Zimerman in Zürich und Bücher, darunter Wolf Singers Essays zur Hirnforschung (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 18.06.2002

Die Schriftsteller Thomas Hettche (mehr hier) und Alissa Walser (mehr hier) waren in Frankfurt unterwegs und machen sich im Gespräch miteinander Gedanken über den Main und die zukünftige Mainuferbebauung. Hettche beginnt mit der "Beobachtung, dass die großen Städte ihre Flüsse ganz oft zum Verschwinden gebracht haben. In Rom ist der Fluss kaum sichtbar, und dasselbe gilt auch für Paris" (komisch, wir meinen uns genau an die Seine zu erinnern!) Und beide möchten, dass der Main nicht nur eine ein Freizeitfluss werden soll. "Man müsste auch Gewerbe an den Fluss holen", sagt Alissa Walser, "eine räumliche Struktur anbieten, die nicht alles von vornherein festlegt. Sozusagen vor Ort denken, aber nicht richtungslos."

Marcia Pally betrachtet die ganze Walser-Chose im neuesten ihrer Flatiron-Letter mal aus New Yorker Perspektive - aber auch da weiß man längst Bescheid: "Die Aufregung um Walsers neues Buch, Deutschlands jüngsten "success de scandal", hat New York erreicht. Es stand alles im Weltamtsblatt New York Times: die Kritik des Kritikers Reich-Ranicki, die häufige Erwähnung seines Jüdischseins im Buch, und Deutschlands bittere Suche nach Antworten auf die schwere Frage: Ist das Buch antisemitisch?" Pally sagt, was zu sagen ist, stellt Fragen, die andere auch schon gestellt haben und bittet zu guter Letzt darum, irgendeiner möge sich erbarmen und einen ähnlich verkaufsfördernden Skandal um ihr bald erscheinendes nächstes Buch entfachen.

Passend dazu wird gemeldet, dass Bodo Kirchhoffs Schundroman, der mit dem Tod eines Kritikers beginnt, nun schon am 27. Juni, also einen Tag nach Walser, erscheinen wird.

Außerdem: Times Mager glossiert die bevorstehende Aufnahme des Sports als Staatsziel in die hessische Verfassung. Christian Schlüter fasst noch einmal zusammen, was es zu PISA, der Länderrangliste und den Folgen so zu sagen gibt.

Besprechungen: Hans-Klaus Jungheinrich berichtet von der Inszenierung von Alfred Schnittkes Oper "Leben mit einem Idioten" in Darmstadt. Stefan Keim stellt, nicht ohne Bedauern, fest, dass Jens Roselts (mehr hier) Stück "Handicap" keine ganz ausgereifte Sache ist. Besser gefallen haben Nikolaus Merck die Schocks, die dem Publikum beim Berliner Performance-Festival "In Transit" zugemutet wurden. Oliver Ilan Scholz war mit der versammelten Szene der elektronischen Musik auf dem Sonar-Festival in Barcelona. Adam Olschewski gratuliert unterdessen Paul McCartney, nein, nicht zur Hochzeit, sondern zum 60. Geburtstag.

TAZ, 18.06.2002

Der Systemtheoretiker Peter Fuchs und Ralph Kray, denken über Chancen des Älterwerdens nach, darüber vor allem, wie man es auch einmal anders, nämlich positiver sehen könnte als Soziologe: "Das Plädoyer gilt mithin der längst überfälligen Abwehr defektologischer Beobachtung des Alters. Es geht darum, nicht Defekte zu sehen, wo möglicherweise Chancen einer Lebensgestaltung liegen, die auf die Konditionierungen einer auf Effizienz und Hochtemporalisierung getrimmten Gesellschaft nicht mehr angewiesen ist. Wenn man träumen dürfte, wäre das Ziel, Altern und Alter als Hoch-Zeit des Lebens zu definieren. Sie dürften nicht mehr, um ein sehr altes Wort zu bemühen, einer "Verunholdung" unterliegen, die sich bis in die feinsten Verästelungen des Umgangs mit Alter als Defektorientierung ausweist."

Detlef Kuhlbrodt gondelt durch die Weltgeschichte, von Berlin nach London und wieder zurück, guckt überall WM und befürchtet Schäden für die Volkswirtschaft, beschreibt aber auch die bedenklichen Auswirkungen aufs eigene Portemonnaie. Axel Schock stellt mit viel Sympathie den derzeit außerordentlich erfolgreichen deutschen Jungdramatiker Kristo Sagor (26) vor.

Und Tom.

Stichwörter: Fuchs, Peter, WM

SZ, 18.06.2002

Alternativer Bildungsgipfel in der SZ. Gustav Seibt fragt sich und uns: "Was ist konservative Bildungspolitik?" Die Antwort: Eine ebenso schreckliche Angelegenheit wie sozialdemokratische Bildungspolitik und von dieser im Begriff, den sie sich vom Schüler macht, nur graduell unterschieden. Was Seibt dagegen setzt? Einen ganz schön altmodischen Begriff von Bildungsindividualismus: "Wann sollen Halbwüchsige in einer Ganztagsschule eigentlich jene Leseerfahrungen machen, die einem nur in diesem Lebensalter möglich sind? In jeder Leserbiografie gibt es die eine brennend einschneidende Lektüre, die man mit fünfzehn oder sechzehn Jahren erlebte und die es nicht selten vermochte, ganze Lebensläufe zu prägen. Was wird die Ganztagsschule, gerade die leistungsorientierte konservative hervorbringen? Vielleicht Schüler, die nicht nur in jedem Quiz brillieren, sondern auch geniale Problemlöser sind, die aber ansonsten nichts erlebt haben."

Ulrich Kühne weist auf die Relativität statistischer Erkenntnisse hin: "Und auch nach Veröffentlichung der Pisa-E-Studie wird womöglich die Hypothese, dass Regenwetter für Defizite in der Schulbildung verantwortlich ist, eine wahrscheinlichere Hypothese für die Unterschiede zwischen Bayern und Bremen sein als die Regierungsform."

Außerdem: Anne Linsel erklärt, wie es kommt, dass Wuppertal das neben der Schwebebahn wichtigsten Markenzeichen, Pina Bausch nämlich (die Website ist hier), verlieren könnte (das liebe Geld, natürlich). Von den Plänen der Frankfurter Theaterintendantin Elisabeth Schweeger für ihr zweites Jahr berichtet Verena Auffermann. Gemeldet wird, dass sich Rolex (der Uhrenhersteller) ein hochkarätig besetztes kulturelles "Mentor- und Meisterschüler-Programm" leistet. Ärger gibt es, erfahren wir in einer Notiz, im italienischen Kulturministerium und im British Museum wird - erstmalig - gestreikt.

Drei Geburtstage: Die CD wird 20, Patrick Krause schreibt einen umfassenden Glückwunsch. Lothar Müller gratuliert dem Schriftsteller Günter Seuren zum 70. Geburtstag. Sehr viel kürzer fällt die Gratulation zu Paul McCartneys 60. Geburtstag aus.

Besprechungen: Werner Burkhardt lobt und tadelt die Autorentheatertage am Hamburger Thalia Theater. Ralph Niemczyk war in Barcelona, anlässlich des Festivals "Sonar" für elektronische Musik. Helmut Mauro zeigt sich sehr angetan von der in Frankfurt aufgeführten Kinderoper "Dr. Popels fiese Falle". Durch und durch begeistert ist Joachim Kaiser von dem Bellini, den man ihm in Palermo serviert hat. Besprochen werden schließlich Bücher, darunter Reinhard Jirgls "Genealogie des Tötens" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).