Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2001. Noch immer sind die Terroranschläge das beherrschende Thema - auch in den deutschen Feuilletons. Hans-Magnus Enzensberger analysiert in der FAZ die Anschläge als Folge der Globalisierung, in denen die Terroristen einer "Logik der Selbstverstümmelung" gehorchen.

TAZ, 18.09.2001

Viola Shafik fasst arabische Reaktionen auf das Attentat in den USA zusammen. So zitiert sie den ägyptischen Schriftsteller Sonallah Ibrahim, der "1967, das Jahr der ägyptischen Niederlage gegen Israel, als psychologische Zäsur" ansehe: 'Seitdem fressen die Leute die Erniedrigung in sich hinein. Während die Erdölmagnaten klammheimlich in Europa ihre Schäfchen ins Trockene bringen, kriegen die einfachen Menschen täglich Backpfeifen und können sich nicht wehren. Sie haben die Bilder der palästinensischen Dörfer vor Augen: zerstörte Häuser, beschlagnahmte Felder und ein paar Jugendliche vor israelischen Panzern, die wirken wie Flugzeugträger, voll mit sausenden Geräten. Der Groll wächst täglich und verhindert schließlich, dass man die menschliche Tragweite eines solchen Attentats an sich heranlässt.'

Weitere Artikel: Peter Fuchs betrachtet die Anschläge aus systemtheoretischer Perspektive. Esther Slevogt schreibt über die Wiedereröffnung des Maxim Gorki Theaters mit Theresia Walsers "Heldin von Potsdam". Besprochen wird "Die Dunkelkammer des Damokles", ein Roman des niederländischen Schriftstellers Willem Frederik Hermans (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 18.09.2001

Helmut Frielinghaus setzt sein New Yorker Tagebuch fort: "Es ist der schönste Indian Summer, den ich in New York erlebt habe. 'Der reine Hohn', sagte heute Morgen David B., ein Verlagslektor, am Telefon zu mir."

Naomi Bubis schildert israelische Reaktionen auf die Anschläge: "Jerusalems Oberbürgermeister Ehud Olmert hat die in der Innenstadt gelegene Jaffastrasse - in der vor einem Monat ein Selbstmordattentäter in einer Pizzeria fünfzehn Menschen mit sich in den Tod riss - für zwei Monate in 'New York Street' umbenannt. Tel Aviv ist der Initiative gefolgt und taufte die Kaplanstrasse am Verteidigungsministerium - wo jüngst ein israelisch-arabischer Amokläufer um sich schoss - für einen Monat in 'Pentagon Street' um."

Urs Schoettle kommt auf den Pearl-Harbor-Vergleich zurück und zitiert einen japanischen Politiker: "'In den USA sagen viele Menschen, dass die Terroranschläge mit Pearl Harbor und den Kamikaze-Attacken zu vergleichen seien. Ich glaube aber, dass sie eher den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki gleichen, indem beide unmenschlich waren.' Bei der Verteilung von Schuld und Sühne pflegt jedes Volk seine eigene Sicht und seine eigenen Mythen."

Weitere Artikel: Barbara Villiger Heilig würdigt den Neustart am Berliner Gorki Theater. Paul Jandl resümiert ein Kollquium über die "Zukunft des Eros" am Philosophicum Lech. Thomas David porträtiert die Schriftstellerin A.L. Kennedy, die in Zürich liest. Besprechungen gelten Nonos "Intolleranza" an der Deutschen Oper Berlin, einem Architektur-Symposion in Pontresina und der Schubertiade in Schwarzenberg.

Ferner erfahren wir in einer kleinen Meldung, wie der demnächst erstmals zu verleihende Bücher-Oscar aussehen wird: wie ein Butt. Die Entwürfe lieferte Günter Grass. Das Tier wird in Bronze gegossen. "Damit erhält der Plattfisch aus Grass' gleichnamigem Roman den Vorzug vor anderen denkbaren Tieren seines ?uvres wie Schnecke oder Rättin", kommentiert die Zürcher Zeitung.

FR, 18.09.2001

Roger Chickering, Historiker am Center for German and European Studies an der Georgetown University in Washington fordert einen Abschied von den "alten Denkmustern", die der Angriff auf Pearl Harbour geprägt habe: "Eine erfolgreiche Aktion muss jedoch vorrangig eine politische sein, die gegen die Strukturen gerichtet ist, die den Terrorismus tatsächlich unterstützen - und das bedeutet auch gemeinsames Handeln gegen die politischen und sozialen Missstände, die dem Terrorismus seit Jahrzehnten Sympathien zugeführt haben."

Im Interview, das man sich länger gewünscht hätte, denkt der syrische Politikwissenschaftler Bassam Tibi über Bin Laden und den Islamismus, Huntingtons These vom Kampf der Kulturen, die Gefahren des religiösen Fanatismus, die Fehler der CIA und die heikle Frage nach, wie man sich gegenüber den Amerikanern verhalten soll: "Es gibt zwei Gefahren. Die Amerikaner sind emotional erschüttert. Wenn die Europäer sie jetzt kritisieren, hätten sie das Gefühl, dass man ihnen in den Rücken fällt. Das würde die transatlantischen Beziehungen stören. Die andere Sache ist: Es gibt in Europa in der Tat einen Antiamerikanismus. Man muss über amerikanische Fehler reden und ihnen sagen können, dass sie jetzt kein Unheil anrichten dürfen. Aber wir dürfen ihnen nicht die Solidarität verweigern. Amerika ist tief verletzt."

Roman Luckscheiter fasst Reaktionen aus Frankreich zusammen, wo sich die Intellektuellen darüber streiten, ob nach dem Anschlag der übliche Antiamerikanismus noch angebracht sei. Während einige Intellektuelle "den radikalen Fanatismus als 'Gewalt der Armen'" interpretieren "und ihm damit die Aura revolutionärer Vergeltung" verleihen, üben sich andere in Selbstkritik: "Einerseits kriminalisiere man die 'Weltpolizisten' als 'Interventionalisten', und andererseits werfe man ihnen Isolationismus vor, sobald sie sich aus ihrer Schiedsrichterrolle in Krisenherden zurückziehen. Diese paradoxen Argumentationen hätten eine bequeme Absicht: den Rest der Welt aus jeder Verantwortung herauszuhalten."

Weitere Artikel: Nenad Popovic meint, dass die Welt "eine derart brutale, öffentliche Exekution von tausenden Menschen wie jetzt in denTürmen der World Trade Center ... zum ersten Mal in Vukovar erlebt" habe. Und Henning Burk berichtet über einen Streit um die Prinzhornsammlung: "Was ist der beste Ausstellungsort für die Kunst der Geisteskranken?"

FAZ, 18.09.2001

Der Häuptling der deutschen Intellektuellen hat gesprochen. Im Aufmacher des FAZ-Feuilletons analysiert Hans-Magnus Enzensberger die Terroranschläge als Effekt der Globalisierung und die Täter als ihre Kinder. Ob sie Islamisten, Rechtsextremisten oder individuelle Irre sind, ist dabei eigentlich egal. Entscheidend ist eine "Logik der Selbstverstümmelung", nach der diese Verlierer der Moderne möglichst viele andere mit sich ziehen wollen, bevor sie selber sterben. "Wenn der Terrorist dabei ein höheres Ziel für sich geltend machen kann, um so besser. Es kommt nicht darauf an, um welches Phantasma es sich handelt. Jede höhere Instanz tut es, irgendein göttlicher Auftrag, irgendein heiliges Vaterland, irgendeine Revolution. Im Notfall kommt der mordende Selbstmörder jedoch auch ohne solche Rechtfertigungen aus zweiter Hand aus. Sein Triumph besteht darin, dass man ihn weder bekämpfen noch bestrafen kann, denn das besorgt er selbst." Schon, aber kommt es nun nicht doch darauf an die tatsächlichen Täter zu fassen?

Einen finsteren Text (der übrigens schon seit einigen Tagen im Internet kursierte) schickt der afghanisch-amerikanische Autor Tamin Ansary. Er denkt über mögliche Reaktionen der Amerikaner nach. Eine pauschale Bombardierung hätte keinen Sinn - der Krieg gegen die Sowjetumion und die Taliban haben das Land ohnehin ruiniert. "Die einzige Möglichkeit, Ibn Ladin zu fassen, besteht darin, mit Bodentruppen einzumarschieren.... In Wirklichkeit geht es hier darum, dass Amerikaner sterben werden. Und nicht bloß ein paar der Amerikaner, die sich zum Versteck von Ibn Ladin durchschlagen. Es geht um sehr viel mehr. Denn wenn wir Soldaten nach Afghanistan bringen wollen, müssen wir Pakistan durchqueren. Wird das pakistanische Volk das zulassen? Unwahrscheinlich. Zuerst muss also Pakistan erobert werden. Werden die anderen islamischen Länder dies tatenlos geschehen lassen? Sie sehen, wohin meine Überlegungen führen. Wir spielen mit einem Weltkrieg zwischen dem Islam und dem Westen. Und genau das ist Ibn Ladins Programm."

Weitere Artikel zu den Anschlägen: Mark Siemons spricht sich gegen eine Bündnistreue aus, in der Deutschland einfach mitzieht, ohne vorher über die Pläne der Amerikaner aufgeklärt zu sein. Joseph Croitoru berichtet über Fatwas islamischer Rechtsgelehrter gegen die Vereinigten Staaten. Thomas Schuster stellt in einem Text gegen die Simulationstheoretiker fest, dass die Bilder "nicht zur Auflösung der Realität führen - sie fressen sich in diese hinein". Verena Lueken schreibt über die Rückkehr der Normalität in New York. Jürgen Kaube liest auf der Bücher-und-Themen-Seite neuere und ältere Theorien über den Terrorismus. Auf der letzten Seite berichtet Klaus Ungerer, dass Microsoft in den New-York-Bildern seines neuen Flugsimulators nun auf eine Darstellung der World Trade Centers verzichtet.

Kultur und anderes: Georg Imdahl bespricht eine große William-Turner-Ausstellung im Museum Folkwang in Essen. Michael Gassmann berichtet über die umstrittene Orgelrekonstruktion in der Frauenkirche. Gerd Roellecke setzt seine Serie über historische Urteile des Bundesverfassungsgerichts fort. Jürgen Otten bespricht ein Gedenkkonzert dreier Berliner Orchester. Lars-Olav Beier resümiert das Filmfestival von Deauville. Von Robert von Lucius erfahren wir, dass Schweden die Mehrwertsteuer auf Bücher senkt, nicht aber Dänemark. Jochen Schmidt gratuliert Hans Werner Henze zum Erhalt des Deutschen Tanzpreises. Martin Thoemmes resümiert ein Vertriebenentreffen der so genannten Pommerschen Abgeordnetenversammlung und Hubertus Busche einen großen Leibniz-Kongress. Und Niklas Maak hat auf der IAA den panzerartigen Cadillac Vizon betrachtet, der "Träume und Ängste" der Amerikaner verkörpere. Das Leben geht also weiter, auch wenn man nicht gerade den Eindruck hat, dass es tobt!

Besprechungen gelten Uraufführungen von Thea Dorn und Herbert Achternbusch in Hannover und der Uraufführung von Samuel Schwarz' Stück "Neue Mitte" im Berliner Gorki Theater.

SZ, 18.09.2001

Navid Kermani, Autor eines vielgelobten Buches über den Iran, plädiert in einem nachdenklichen Artikel dafür, nicht die Bilder einiger feiernder Palästinenser als wahren Ausdruck muslimischer Gefühle auf den Terroranschlag in den USA zu nehmen. Es gab auch andere Bilder: So legten am Wochenende die Fußballnationalmannschaften des Iran und Bahreins in Teheran eine Trauerminute für die Opfer der Anschläge in New York und Washington ein. "Dass ausgerechnet in der Hauptstadt der Islamischen Republik, die den Hass auf die Vereinigten Staaten seit zweiundzwanzig Jahren als Staatsdoktrin predigt, ebenso viele Fußballer und hunderttausend Zuschauer ihr Mitgefühl mit den Vereinigten Staaten bekunden, das hätte sich ein Wochenende zuvor niemand vorstellen können, mehr noch: Die sechzig Sekunden der Stille könnten einst als eine Zäsur in die Katastrophengeschichte der amerikanisch-iranischen Beziehungen eingehen." Kermani beschreibt in seinem lesenswerten Artikel jedoch nicht nur Stimmungen, sondern macht Vorschläge, wie eine "kluge Politik des Westens aussehen könnte", und dazu gehört seiner Ansicht nach "die islamischen Länder beim Wort (zu) nehmen und sie, statt sie auszugrenzen, in den Kampf gegen den Terrorismus ein(zu)beziehen."

Weitere Artikel: Heribert Prantl ist der Ansicht, dass die Ankündigung des amerikanischen Präsidenten, mit staatlichen Vergeltungsaktionen auf die Terroranschläge zu antworten, die Einführung des Krieges als "dritte Kriminalstrafe" bedeutet. Thomas Steinfeld zitiert aus einem kurzen Artikel von Stephen King im New York Times Magazine: "'Jetzt, da die Crazos der ganzen Welt gesehen haben, dass es möglich ist, eine Sendezeit von zweiundsiebzig Stunden ohne jede Unterbrechung zum Schleuderpreis zu kriegen, wird so etwas wahrscheinlich wieder passieren.' Das ist nur scheinbar eine zynische Pointe. Es ist ein durch und durch amerikanisches Fazit, kalt und desillusioniert", meint Steinfeld. Rainer Stephan rät den Politikern, jetzt nicht den allwissenden Staatsmann zu markieren, sondern "die eigene Ratlosigkeit zuzugeben". Robert Jacobi hat ein New Yorker Paar an eine gar nicht "gewöhnlichen Sonntag" ins Museum begleitet. Willi Winkler beschreibt mit wenig Information, aber viel Phantasie den Aufstieg Bin Ladens und kommt zu dem Schluss: "Der Westen hat seine christlichen Werte vergessen, und die Moslems eifern diesem schlechten Beispiel nach".

Kultur: Lothar Müller berichtet über die Restaurierung des Normannischen Turms auf dem Ruinenberg in Potsdamt. Und Florian Welle resümiert eine Tagung in Augsburg über frühneuzeitliche Kommunikation.

Besprochen werden eine Reihe aus dem Dietrich Reimer Verlag mit kommentierten Quellentexten zur Malerei (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr), die Eröffnung der Spielzeit am Schauspielhaus Zürich mit drei Werken von Ruedi Häusermann, die Wiedereröffnung des Staatstheaters Mainz mit Händels "Saul", eine Ausstellung mit Werken des Bildhauers Duane Hanson in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, Stefan Bachmanns Inszenierung von "Biedermann und die Brandstifter" in Basel und das Klangspurenfestival in Tirol.